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Nr. 283.

Erscheint täglich außer Montags. Preis pränumerando: Viertel­jährlich 3,30 Mart, monatlich 1,10 Mt., wöchentlich 28 Pfg. frei in's Haus. Einzelne Nummer 5 Pfg. Sonntags: Nummer wit illuftr. Sonntags Beilage Neue Welt" 10 Pfg. Post- Abonnement: 8,30mt. pro Quartal. Unter Kreuz band: Deutschland   u. Desterreichs Ungarn 2 Mt., für das übrige Ausland 3 Mt.pr.Monat. Eingetr. in der Post Beitungs- Preisliste für 1894 unter Nr. 6919.

Vorwärts

11. Jahrg.

Insertions- Gebühr beträgt für dte fünfgespaltene Petitzetle oder beren Raum 40 Pfg., für Vereins- und Bersammlungs- Anzeigen 20 Pfg. Inserate für die nächste Nummer müssen bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition abgegeben werden. Die Erpedition ist an Wochen­tagen bis 7 Uhr Abends, an Sonna und Festtagen bis 9 Uhr Vor­mittags geöffnet.

Fernsprecher: Amt 1, Nr. 1508. Telegramm Adresse: Sozialdemokrat Berlin  '

Berliner   Bolksblatt.

Bentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands  .

Redaktion: SW. 19, Beuth- Straße 2.

Mittwoch, den 5. Dezember 1894. Expedition: SW. 19, Beuth- Straße 3.

Arbeiter! Parteigenossen! Trinkt kein boykottirtes Bier!

Der Reichstag  

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Caprivi, dessen Abwesenheit von den Höflingen so gut| Rechte des Volkes. Mit dem Knebelgesetz begnügen sich benutzt worden, war nach seiner Rückkunft aus dem Bad unsere Rückwärtser nicht. Was nüßt es, daß das Straf tritt heute zu einer neuen Tagung zusammen. Und niemals, nicht mehr im stande, die junkerliche Umfturzarbeit zu nichte gesetzbuch und das Preßgesetz noch so sehr verschärft wird, felbst nicht in den wirrsten Zeiten des alten Heiligen zu machen vielleicht erachtete er es auch nicht der Mühe wenn die Wurzel alles Uebels fortwuchert und sich tiefer Römischen Reichs  "( daß Gott   sich erbarm, ein deutsches werth und ergriff mit Freuden die Gelegenheit, sich aus und tiefer einbohrt: das allgemeine Wahlrecht? Arm!"), ist ein deutscher   Reichstag   unter wirreren und dieser Atmosphäre niedriger Intriguen zu entfernen. Das allgemeine Wahlrecht ist der Biel­jämmerlicheren Verhältnissen zusammengetreten als diesmal. Genug,[ Caprivi mußte gehen, und ein Nachfolger ist noch punkt aller reaktionären Anstrengungen. So wenig fest, so planlos schwankend hat die deutsche nicht gefunden, denn der 75jährige, politisch wenig be- und es werden unzweifelhaft Vorschläge zur Reform" Politik sich gezeigt, daß nicht einmal eine so einfache Sache, deutende Greis, der jetzt deutscher   Reichskanzler heißt, ist oder Korrektur" dieses Grundrechts des Volkes und der wie die Einberufung des Reichstags ohne Ordre und nur ein provisorischer Verlegenheitskanzler, der an den Völker kommen. Von weniger Wesentlichem wollen wir Contreordre von statten gehen konnte. Und wo Ordre und Posten gestellt wurde, weil doch ein Kanzler da sein muß, hier nicht reden. Was wir aufzählten, reicht schon über Contreordre ist, da fehlt als Dritter im Ordnungs"-Bund und weil die Wahl eines farblofen, nicht scharf aus- und über aus, um die Wichtigkeit der beginnenden Reichs­auch niemals der Desordre,*) d. h. die Unordnung. geprägten Mannes die Zukunft nicht bindet und die Bahn tags- Session hervortreten zu lassen. Es wird stürmische Als der Reichstag   vor 7 Monaten seine vorige Session frei läßt für alle möglichen Kurse". Debatten geben und schwere Kämpfe. Die sozialdemokras beschloß, war Caprivi im vollsten Sonnenschein der kaiser- Parallel den junkerlichen Umsturzbestrebungen gegen tischen Abgeordneten werden nach besten Kräften ihre Pflicht lichen Gnade und des Erfolgs, den er in Sachen des Caprivi- und einen Theil derselben bildend- lief die thun; und hinter ihnen steht die Partei, steht das russischen Handelsvertrags über das wolfshungrige Agrarier- sogenannte Bewegung" gegen den Umsturz". Um einer- olt. thum davongetragen hatte. Sein Kollege und Nebenbuhler seits den Bankrott der inneren Politik, andererseits die ge­dagegen, Herr Miquel der Finanzminister, hatte mit seinem famosen Steuer- Automat" kläglich Schiffbruch gelitten und

warf flehentliche Liebesblicke nach dem vom Reichskanzler

geduckten und über ihn ergrimmten Junkervolk.

planten Attentate auf den Geldbeutel des Volkes zu ver­decken, ließ man, nach dem berüchtigten 1878 er Rezept, das

Zur Diskussion

Rothe Gespenst" herummarschiren, und hat auch wirklich über den Frankfurter   Parteitag.

zu Wege gebracht, daß die Regierung dem Reichstag   eine Umfturzvorlage wie eine Pistole auf die Brust setzen will: Anehmen oder anflösen!

Die Voltsvertretung ging in die Ferien; das Junker­volf nicht. Es weiß, daß in Deutschland   die Volksvertretung noch nicht für voll gilt, und daß auf die Regierung des Wir wissen, was es mit diesem Umsturz- Spiel auf sich Reichs und der verschiedenen Reichsländer fürstlicher Einzel- hat. Wir kennen die Spieler und das Spiel. Lauge che wille in den meisten, und gerade den wichtigsten Fragen Caserio seinen Dolch dem französischen   Präsidenten in den noch mehr Einfluß hat, als die Volksvertretung. Und Leib stieß, war die Umsturzvorlage schon beschlossen, und wir die Herren Junker setzten den Hebel da an, wo sie die wissen, daß sie ein Geschenk sein soll an die Großausbeuter ficherste Aussicht für das Gelingen ihrer Umsturzbestrebungen der Arbeiter, und ein Knebel, nicht für die Sozialdemokratie, gegen den verhaßten Reichskanzler zu haben glaubten sondern für die gesammte Arbeiterklasse.

sie wühlten und untergruben dessen Stellung bei Hofe.

Kein Mensch kann sagen, welche Politik heute im

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Gegenerklärung.

Genosse Schmid München hat im gestrigen Vorwärts" in einer Erklärung, in der wieder die in München   allmälig Mode" gewordene sittliche Entrüftung zum Ausdruck kam, Ver­wahrung dagegen eingelegt, daß ich die bekannte Münchener   Ver­sammlung als eine Komödie bezeichnete.

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Hätte Genosse Schmid etwas ruhiger meine Ausführungen gelesen, so fand er, daß die Bezeichnung Komödie jemand ganz niederschrieb, dachte ich an Aeußerungen Vollmar's, die Genosse anderen traf, als die Münchener   Genoffen. Als ich jene Säße Schmid auf Seite 261 des Erfurter Parteitag Protokolls findet, Allerlei drang in die Deffentlichkeit von dunklen Ränken wo es heißt: und Zettelungen, bis die bekannte Königsberger Rede des Deutschen Reiche   befolgt wird, in welchem Kurse" das Reichs der ganzen Welt, aber in bezug auf die Selbständigkeit der Wir sind mustergiltig geworden für die Arbeiterbewegung Kaisers, die bald darauf in Thorn ihre Fortsetzung fand, schiff heute segelt, was wir aber mit Bestimmtheit sagen Meinung steht es doch etwas flau bei uns, und es hat niemals jedem der sehen konnte und wollte, es offenbar machte, daß tönnen, das ist: die Edelſten", die für den Moment am etwas einen deprimirenderen Eindruck auf nich gemacht, als wie Meinung steht es doch etwas flau bei uns, und es hat niemals die Arbeit der Junker nicht umsonst gewesen war, daß sie Steuer sind, werden die Frist, während deren sie an der im vorigen Jahre wir Zeugen der Dinge im Streit mit den Jungen das Dhr des Monarchen" hatten, und daß der Monarch, Quelle figen und an der Klinke der Gesetzgebung, emsig gewesen sind. Da wird in Berlin   eine Bersammlung abgehalten, tros harter Scheltworte an die Edelsten der Nation", doch dazu benutzen, ihr Heu ins Trockene zu bringen das 5000 Mann sind zugegen, alle mit Mille einverstanden. Dann in ihnen die Hauptstütze seines Throns erblickte, die Be. heißt, das heu des deutschen   Volkes, das sie als ihr tommt Bebel, spricht vor 6000 Mann und alle 6000 find mit Bebel einverstanden.( Große Heiterkeit, Widerspruch Bebel's.) rechtigung ihrer, von dem Reichskanzler zurückgewiesenen Eigenthum ansehen. Forderungen anerkannte, und damit in entschiedenen Gegens In Magdeburg   ging es ähnlich. Die zwei Redakteure der Volksstimme" referiren mit aller Beredsamkeit und die über­fatz zu diesent sich gestellt hatte. große Mehrheit der großen Versammlung erklärt sich mit ihnen einverstanden. Die find nun schlau genug gewesen, in ihrem Siegesbewußtsein zu telegraphiren, Bebel möge doch tommen. Bebel tommt, und die nächste Bersammlung resolvirt für ihn und gegen die beiden anderen. Dergleichen Dinge müssen ja vor.

*) Das bekannte französische   Wortspiel, das darauf fußt, daß das Wort Ordre die Doppelbedeutung von Befehl und Ordnung hat.

Feuilleton.

Am Exil.

( Nachbruck verboten.]

Roman von Georges Renard. Autorisirte Uebersetzung von Marie Kunert.

VII.

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Ju jeder Form wird man dem Volk sein Blut abzu­zapfen suchen. In Form neuer Steuern, in Form neuer Militär- und Marineforderungen, in Form neuer Liebes­gaben" an die Edelsten der Nation".

Hand in Hand mit diesen Angriffen auf den Sädel der Steuerzahler gehen die Angriffe auf die Freiheiten und

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Tag vor sich hatte, an dem er nach Gefallen umher- sein königliches Haupt, dem der von der Sonne beschienene streifen und in der Einsamkeit seinen düsteren Träume- Schnee ein aus Silber und Diamanten gefügtes Diadem reien nachhängen konnte. Mit dem ersten Buge war aufgesetzt hatte, zu beschauen. Zur Rechten erstreckte sich er einige Meilen in das Flachland hineingefahren, die schwarzgrüne Masse eines Tannengehölzes, welches die 19 dann war er, das Ränzel auf dem Rücken, im Morgenthau   Farbe des flüssigen Senaragos verdunkelte, in dem es sich durch die Rhône   Ebenen gewandert, am Sümpfen entlang, spiegelte. Man konnte nicht sehen, wohin die Wasser dieses die von den Blüthen der gelben Tris wie mit goldenen dreitausend Fuß über dem Rhône gelegenen Sees abfloffen, Spitzen überfät waren; der graue pfeilschnell dahinschießende und das enge, von allen Seiten eingeschlossene Thal, in Fluß bildete hin und wieder Wirbel, wie wenn er dem kein anderes Geräusch hörbar wurde, als das Summen So war das Jahr 1878 herangekommen. Paris  , das zusammenschauerte. Auf Pfaden, die gelegentlich den Bächen der Bienen, war so ein von der Welt völlig abgeschiedener aus den Trümmern nur glänzender auferstanden war, lud als Bett dienten, kletterte er aufwärts, ging durch Wälder, Bufluchtsort, der sich nur gen Himmel öffnete. alle Länder zu einer Weltausstellung ein. Herr und Frau Wiesen und armselige Weiler, deren auf Pfählen ers Die Landschaft, die traurig und ernst gewesen wäre Messant konnten der Versuchung nicht widerstehen, ihr ge- richtete Hütten in der Ferne wie Kinderspielzeug aus ohne die zarte Färbung des jungen Grases und ohne den liebtes Paris   in seinem ganzen Glanze wieder zu sehen. sahen. Er feuchte unter der brennenden Sonne; doch unendlichen Azur, auf dem weiße zierliche Wöltchen schwebten, Und obgleich es ihnen schwer wurde, ihren jezt doppelt in dem Grade, als er höher stieg war es die Wirkung harmonirte mit der sanfter gewordenen Melancholie René's. verwaisten Sohn, der weder Familie noch Baterland hatte, der reineren, leichteren Luft, war es die Entfaltung der Um sie ganz einzuwiegen, machte er einen alten, großen zurückzulassen, so hatten sie sich doch von der Fluth der körperlichen Energie, die auch auf die Seele überging--Kahn los, der an einen Pfahl angebunden lag, und trieb Neugierigen mit forttragen lassen. René hatte sie selbst so fühlte er, wie die Laft seiner Sorgen leichter wurde, wie in mehreren Ruderstößen in die Mitte des See's  , dessen sehr er konnte zu dieser Reise getrieben, von der die wenn seine trüben Gedanken schwere Nebel gewesen wären, für einen Augenblick von dem schwerfälligen Fahrzeug ge­beiden alten Leute sich eine reiche Ernte unendlicher Freuden die nun in dem strahlenden Lichte dieses Sommertages zer- furchte Oberfläche sogleich wieder ihre ruhige Einförmigkeit versprachen. flatterten. Er mußte noch einen kahlen Abhang hinab- annahm; so träumte er. Sein Blick schweifte gerade Als er allein war, zwang er sich, der Traurigkeit, die steigen, auf dem der Weg sich in unendlichen Windungen zwischen vor ihm in die Höhe bis zu einem Gebirgspaß, der sich wie sich seiner bemächtigen wollte, entgegen zu wirken. rollenden Steinen und verkrüppelten Gebüschen entlang ein Fenster zwischen zwei Berggipfeln öffnet. Er dachte War nicht alles in seiner Umgebung eine Auf- schlängelte. Als er oben war, brauchte er nur noch ein daran, daß dies der Weg nach Frankreich   fei, daß Frank­forderung, die Ausstellung zu besuchen? Die Zeitungen Tannengehölz zu durchschreiten, und in wenigen Minuten reich dort lag, nur durch einen Vorhang verhüllt, und brachten wundervolle Holzschnitte, welche die märchenhafte gelangte er zum Ziele seines Ausfluges, dem Tanay- See. er seufzte. Dann lehnte er sich wider sich selbst auf, be­Schönheit der Ausstellung wiedergeben sollten, die Plakate Es war eine schöne grüne Fläche, die sich unbeweglich unruhigt dadurch, daß er fühlte, wie seine Träumerei einen kündigten Billets zu ermäßigten Preisen an, in riesigen Ver und geheimnißvoll in einen Bogen des Gebirges erstreckte. Weg nahm, den er nur zu gut kannte. Er fragte sich mit gnügungszügen eingeschachtelt, begaben sich die Leute auf Von der Südseite gelangte man auf einem sanften mit Bitterkeit, welche Bande, unsichtbar wie Spinnengewebe und Die Reise. Gereizt flüchtete er in die Berge, sobald er wieder feinem Rasen bewachsenen Abhang dorthin, auf dem doch fest wie eherne Ketten den Menschen an das Stückchen eine furze Zeit der Freiheit hatte. sich ein von den benachbarten Höhen kommendes Bächlein Erde   feffeln, auf dem er zum Leben erwachte.

An einem Sonntag im Juni hatte er sich so mitten in zwischen den Blumen verlief. Das Ufer des Sees war War der Himmel anderswo nicht auch blau, der das Herz des Bergstockes gerettet, der den Kanton Wallis   überall steil; zur Linken zog sich eine gigantische Felsen Duft der Blumen nicht ebenso köstlich, das Lächeln der von Frankreich   trennt. Er hatte keinen Reisegefährten schlucht von dem Gipfel eines Berges herab, der sich hier Frauen nicht ebenso lieblich? Hatte er seit den Tagen bei sich. Es gefiel ihm, daß er einen langen, friedlichen vorzuneigen schien, um in dem Spiegel zu seinen Füßen feiner Kindheit jemals Gegenden von einer so wilden Ex­