ITr. Fahrgang
Heilage öes Vorwärts
SonnabenS, 7. Januar 1922
Das Erbe öer Eotzkowsti unö Wegelp. Ans der Werkstatt des staatlichen Porzellans.
�ld' Bahnhof Tiergarten führt die stille Wegelystraße zur staat-' lichv �'rzellanmanufaktur. Ein kleiner Pavillon, in dem die kostbaren Erzeig«-sie dieses Stoatsinstituts zur Schau gestellt sind, bewacht ihren Eingang. Di« Geschichte dieser Anstatt rollt sowohl ein Stück Berliner als- auch ein Stück ffulturgeschichte vor uns auf; fällt doch iljre Gründung in jene Zeit des Frühkapitalismus, als der Staat versuchte, durch Gewährung reicher Geldmittel neue Gewerbezweige zu züchten un� auch dazu überging,„Staatsmanusokturen" zu gründen. Ms öer Gefthichte öer Manufaktur. Dort, wo heute das preußische Abgeordnetenhaus steht, lag die Porzellanfabrik, die im Jahre 1763 der preußische Staat von dem Zausmann GoßkOwski erwarb, dem es ebensowenig wie seinem Porgänger Wegely gelungen war, da» Porzellan in Gold umzu- münzen und daher dauernd mit Zahlungsschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Durch manckzerlei Sonderrecht«, vor allem durch das Mo- nopol der Fabrikation und des verkauf» im Inland« wurde die Mgnufaktur begünstigt. Der absolut« Staat kargt« nicht mit Zwangs» maßnahmen, um den Absaß zu erhöhen. So bestimmt«? ein Aus- nahmegeseß, daß die Juden für eine behördliche Erlaubnis, deren sie z. B. bei der Niederlassung, der Errichtung eines Gewerbebe» irieb-s, bei der cheirat bedurften, im allgemeinen für 300 Taler Porzellan zum Vertrieb im Auslande übernehmen mußlen. Erst 1787 haben sich die preußischen Juden von dieser drückenden Last durch Zahlung von<0 000 Talern losgekauft. Auch die„General- laileriepachtsozietSt" mußte jährlich für 6000 Taler Porzellan zum virtriebs im Ausland«, wozu auch die vielen deutschen Vaterländer gehörten, übernehmen, chier in der staatlichen Porzellanmanufaktur wurde auch die erste in Deutschland gebaute„Feuermaschine", wi«? man damals die Dampfmaschine nannte, aufgestellt, und es wurden dadurch 10 Pferde erspart. Di« Manufaktur überstand die..?ran- zesenzeil" von 1S07 mit einem Sesomloeriust von genau 53 Söä Talern 3 Pfennig. Einem kurzen Aufschwung folgt« cm steiler Niedergang, der durch die gesamten wirischafllichen verhälinisi« be» dingt wurde. So war 1818 das Einfubrverbot für ausländische Porzellan« gefallen und in den dreißiger Jahren des vorigen Jahr- Hunderts waren ein« Reihe von Privatfabriken erstanden. Der Um- saß des Staatsinstitut» wurde um zwei Drittel vermindert. Die Gefundk-eitsgeschirr-Monusaktzw, deren Geschirre mit einer blei- freien Glasur überzogen waren, wurde ein Opfer des freien Weit- bewerbs und die staatliche Manu'aktur hat sich seitdem darauf be- schränkt, in der cherstellima künstlerisch hochwertiger Erzeugnisse eine führend« Rolle einzunehmen. Ende der sechziger Lahre des vorig.?« Jahrhunderts wurde die Manufaktur endgültig nach Charloltenburg, am jetzigen Bahnhof Tiergarten verlegt, während in der Nähe des ursprünglichen Ouar- tiers, in der Leipziger Straß« 2, nur noch die Verkaufsräume zurück- blieben. Das Gehelmnks öer hallesihen Ecöe. Als Johann Friedrich Böttaer bei seinen alchimistischen Ber - suchen an Stell« des Goldes die Kunst des Porzcllanmachsns fand, hütete man Tkis Geheimnis der Herstellung durch lange Jahre auf das sorgfältigste. Heut« aber ist die Kunst, die sich so sehr auf den Zufall gründete, längst von der Wissenschaft abgelöst, vor deren blendenden Strahlen auch der letzt« Rest mittelalterlich anmutender Geheimniskrämerei verblichen ist. Niemand begeht also heute ver- rat, wenn er von der Technik der Porzellanerzeugung plaudert. Dreierlei braucht der Porzellanmacher- Aeolln Ovarzland und Feld- spät. Kaolin, die Porzellanerde, erhält die Manufaktur von Natur aus mit genügender Menge Ouarzsandes gemischt, aus den ihr ge- hörenden Lagern bei Halle. Ouarzsand und Feldspat sind nötig, um ein zu großes Schwinden des fetten Kaolins beim Brennen zu ver- hüten. Die Hallesche Erde wird In der Fabrik zunächst zerkleinert und dann in einem Rührwerk unter ständiaem Hinzuströmen von' Wasser gelockert. Das mit Erde durchsetzt« Wasser fließt nun durch' Rinnen in«inen tiefen Kasten, in dem sich der„Schlusf", mit ge- ringen Mengen Kaolin durchsetzter Sand, der sich für besondere keramische Zwecke eignes, absetzt, während die gröberen Bestandteile fim vorher ablagern. A'-dann wird der Schlamm in die Absatz- kästen geleitet und das Wasser nach erfolgte? Zttänrng abgelassen. 1 Die zurückbleibend« gereinigte Hallesche Erde wird mit!
dem inzwischen auf schweren Kollergängen und in Trommelmühlen staubfein zermahlencn Feldspat gemischt und wandert als fertiger Akajseschlamm in die Horralsbaisins. Eine Pumpe drückt den Schlamm später in die Filterpressen, die ihm den größten Teil des Wassers entziehen, so daß er dann als bildsame INosse In einem blitzsauberen Keller für längere Zeit gelagert werden kann. Länge- res Lagern macht die Masse im Brande zuverlässiger, vor dem Ein- bringen in die Gipsformen wird die Masse in einem Walzengang« wie Kuchenteig gedrückt und geknetet. Die Gipsformen werden noch den von Künstlerhand aus Wachs oder Ton frei geschaffenen Mo- bellen angefertigt. Komplizierte Modelle müssen, in einzelne Teile zerlegt, abgeformt werden. Die fertigen Porzellanteile«erden dann iväter mit Hilf« von flüssiger Porzellanmass« zusammengekittet. Runde Geschirr« erhalten ihr« Form immer noch auf der uralten Töpferscheibe. Das Brennen. Geschirrträger bringen die ausgeformten Gegenstände in die Trockenräume. Nachdem sie hier lufttrocken geworden sind, wandern sie in den Ofen, um bei einer Därme von 1000 Grad Eclsius vor- geglüht zu werdsn. Der bereits recht widerstandsfähige, aber immer noch sehr poröse und lockere„verglühte Scherben" wird nun für kurze Zeit in eine wässerige Mischung kaoliahaliigen, hochschmel- zenden bleifrcien Glases qelaucht. die er gierig aufsaugt und so ein« dünn« Glasurschicht emvsängt. In einem zweiten, dem sogenannten Gutbrande wird das Stück bei einer Temperatur von 1500 Grad Nochmals gebrannt, wobei es zu einem dichten, im Lichte durch- scheinenden Stoffe wird, während die Glasur glatt und durchsichtig aufschmilzt. Das Brennen erfordert große Sachkenntnis und Auf- merksamkeit. Fehler des Porzellans sind meist auf falsche BeHand» lung während des Brandes zurückzuführen. Das Stück ist nun, nachdem noch die Stellen, die beim Brennen als Stützpunkt« dienten, mit Sand und Karborundstein bearbeitet sind, bis auf die Aus- schmückung fertig. Die Kunst öer Porzellanmaler. So ansprechend edle Farmen an sich schon sind, so werden sie dach durch geschmackvolle Dekorationen in sorgfältig gewählten Farben erst recht zur Geltung gebracht. Dem zarten Weiß des Porzellans wird durch den Farbenschmuck gleichsam warmes Leben eingehaucht. Die Porzellanmalerei ist ein eigenes Gebiet. Die Farben sind sehr empfindlich und vielen Zufälligkeiten ausgesetzt. Nur Wissenschaft- liche,«ratt« Betriebsmethoden sichern hier dauernd« Erfolg«. Zwei Arlen der vemalung sind zu unterscheiden. Will man zarte nnauf- drinalickie Ferbköne erzeugen, so müssen die Farben mit sicheren Plnselstrichcn auf den vorgeglühlen Scherben aufgetragen werden, der erst danach glasiert und gebrannt wird. An Stelle des Pinsel» wird auch mit dem Spritzverfahren gearbeitet. Dadurch gehen die Farben im Porzellan förmlich auf, imd man hat den Ein- druck, als feien sie mit unendlicher Feinheit nur hinqehaucht. Im Gegensatz zu dieser Methode erhält man bei der vemalung auf der Glasur leuchicnde Farben in schweren vollen Tänen, die nach dem Austrogen im Muttelofen bei einer Temperatur von 700 Grad eingebrannt«erdin. Schließlich möge noch die Oäte sur Dete. Malerei erwähnt werden, bei der auf dem mit farbiger Masse überzogenem veralüh'en Stück die schmückenden Dar- stellunoen mit farbloser dünnflü'siger Porzellanmasse durch Auftrag mit dem Pinsel in zahlreichen feinen Schicksten hervorgebracht wer- den. Nach dem Glühen, G'asieren und Gutbrennen«nisteht dann ein reliefartiges Dild, cm dessen dünneren Stellen der farbige linier- erund durchscheint und so der Darstellung Zartheit und körperliche Rundung verleiht. « Wer das Lager der Manufaktur besichtigt, gewinnt den Ein- druck, daß hi�r zielbewußte Künstler am Werke sind. Jedes einzelne Stück wirkt durch wohlabgewogene Masseverteilung und Schönheit der Verhältnisse. Di« Formen sind klar und fcharf umrissen, die Farben niemals Selbstzweck, stets nur ichmückende Beigab«. Durch den ganzen Raum geht ein Hauch von Ruh« und Vornehmheit, der im schroffen Gegensatz zu dem Lärm in der Fabrik, in'der 250 Ar- b-iter schassen, steht. Sie all« haben ihren Anteil am Gelingen. Das Wert lobt feine Schöpfer.
Die fliegende Kohlensäureflaftbe. In der modernen Zeit werden Märchen zur Wirklichkeit. Andersen erzählte von einem Mann, der auf einem Koffer davonflog, der Freiherr v. Münchhausen benutzt« gar eine Kanonenkugel als Flugmaschine; heute aber werden Kohlensäureflaschen, die sich schlecht behandelt fühlen, lebendig und zeigen nicht übel Lust, den Leuten in die Fensterscheiben zu stiegen. An einem sonnigen Tag« hielt vor dem Hause Boyenstr.<3 der mit einer Kohlensäureflasche beladen« Wagen eines Bierver- legers. Frei lag sie da, den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Die Wärme war ihr unangenehm und sie sehnte sich nach einem kühleren Fleckchen. Aber niemand kam ihrem Verlangen nach, und so war es denn kein Wunder, daß. sie in dieser revolutionären Zeit zur Selbsthilfe griff, plötzlich explodierte und in elegantem Schwung gegen das Haus sauste. Aber das gsnügte ihr bei weitem nicht, und darum flog sie schnell noch wie ein Torpedo über das Dach dos gegenüber- liegenden Gebäudes Boyenstr. 8 hinweg und stürzte dann in den Hof hinab. Sie verfehlte dabei nicht, in den angrenzenden und gegenüberliegenden Häusern zahlreiche Fensterscheiben zu zer- trümmern und die Fassade des Hauses, mit dem sie so unsanft zu- sammengestoßen war, ganz erheblich zu beschädigen. Mit den Men- schen hatte sie Mitleid. Passanten, die zur Zeit ihres plötzlichen Höhenfluges in der Nähe weilten, blieben wie durch ein Wunder unverletzt. Wegen dieser Eigenmächtigkeit einer Kohlensäureflasche ist nun gegen den armen Bierverleger Strafanzeige erstattet worden, und er wird sich wegen unsachgemäßer Lagerung der Flasche zu ver- antworten haben. Au» diesem Anlaß weist das Polizeipräsidium dringend auf die Polizeiverordnung hin, die den verkeyr mit verflüssigten und ver- dichteten Gasen betrifft. Danach sind bei der Beförderung gefüllter Behälter auf Fuhrwerken die Behälter zcltartig mit einer Decke aus Segeltuch oder mit einem hölzernen Kasten gegen die Einwirkung der Sonnenbestrahlung zu schützen. Die Beförderung der mit solche» Gasen gefüllten Behälter auf Fuhrwerken, die gleichzeitig zur ve° förderung unbeteiligter Personen benutzt werden, ist— mit«inigen Ausnahmen— verboten. Fuhrwerke und Fahrzeuge, mit denen gefüllte Behälter befördert werden, dürfen, abgesehen von der zur Lieferung von Behältern an die Besteller erforderlichen Zeit, auf Straßen, Plätzen und Wegen nicht ohne Aufsicht gelassen werden.
Der Morö in Serlkn-Suchholz. Die Tochter verhaftet. Das geheimnisvolle Dunkel über die Beweggründe der Ermordung des Stubenmalers Richard R a t h a u« r in der Berliner Straße 51 zu Bsrlin-Buchholz scheint sich zu lichten. ver ganze Befund ließ zwar darauf schließen, daß der Täter nur im engeren Kreis des Ermordeten sich befinden kann. Zunächst wurde deshalb die Tochter nach Entdeckung des verbrechen» zum eingehenden Berhör nach dem Polizei- Präsidium geholt, doch waren ihre Aussagen so bestimmt, daß auf sie kein verdacht fallen konnte. Zur weiteren Aufklärung fand nun gestern nachmittag eine nochmalige Ortsbesichtigung statt, bei der alle Angaben der Tochter nachgeprüft wurden. Ihre Angaben erwiesen sich auch als richtig. Nur für die kurz« Zeitspanne von einer halben Stunde fehlt der Alibibeweis. Die Ermittlungen und das Verhör des Mädchens haben dabei den Berdacht, daß sie um die Tat gewußt und den Täter auch anscheinend kennt, so bestärkt, daß ihre Verhaftung angeordnet wurde. Sie würde unter dem Berdacht der Mitwisserschaft und der Möglichkeit der Beihilfe in das Polizeipräsidium eingeliefert. Ein Raubmord ist, wie schon mitgeteilt, vollständig ausgeschlossen.
Ei« neuer Weltrekord Im Dauerfliegen. Die amerikanilcfien Fkugzrilgiührer Edward S t i n s o n und Lloyd 93 e r l a» d baden einen neuen Weltrekord im Douerfliegen auigesiellr. Sie landeten in Mike ola nacki einem ununterbrochenen Flug von 26 St«den 19 Minuten und 25 Sekunden und haben damit den biSberigen Dauerst ug-Welt- r e k o r d»m 2 Stunden 28 Sekunden ü b e r t r o f f c n. Der Flug wurde«lli einer amerikanischen Larsen-Maichine mit 1Z5-?8. Motor itiirückaelegt.
i Eine seltsame Nacht. Roman in vier Stunden von Laurids Sruun, Frau Hjarmer blieb am Fenster rechts neben dem �rkcr stehen. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe, durch die das Mondlicht jetzt dämmernd voll ins Zimmer flutete. „Unglücklicher Mensch!" fügte sie gedankenvoll hinzu. „Ach. ich weiß nicht!— Hat er sich nicht von all dem losge- rissen, was uns andere fesselt?— Gehört ihm nicht die schöne, die grüne Erde — dem Nomaden?" Frau chjarmer öffnete das Fenster, beugte den Kopf hin- aus und badete ihr seidenfeines, bronzebraunes Haar im vollen! Mondlicht, während sie in tiefen Zügen die lichte, stille Nacht einatmete. „Und wenn der Rausch vorbei ist, was dann?" fragte Fräulein Sindal, die ihr gefolgt war.„Hat er jemand, für den er sorgen kann?— Hat er jemand, der ihn lieb hat?" Frau Hjarmer zag den Kopf zurück, strich sich mit beiden Händen über Haar und Schläfe und sagte: „Nein, natürlich— xs war ja nur ein Scherz von mir!" Dann ging sie hin und legte ihren Arm um Fräulein Sindals Taille. „So, Pfleqemütterchen!— Jetzt sollen Sie hinauf und zu Bett gehen." F'äulein Sindal stand noch einen Augenblick zögernd da. als w lle sie etwas sagen: als sie aber nicht die richtigen Worte finden konnte, streckte sie die Hand aus und sagte nur: „Nun, dann also gute Nacht, Frau Hjarmer!" 5. Als Frau Helwig allein geblieben war, stand sie eine Weile vorm Kaminspiegel, die Hände nm den zurückgebogenen Nacken geschlungen, in die alten Erinnerungen versunken, die die helle Sommernacht in ihr wachgerufen hatte. Dann seufzte sie tief auf und wandte sich zu den Syringen in dem hohen Glas auf dem Tisch - Während die schlanke Hand liebkosend über die weißen, schwellenden Blütenbüschel strich. keimte ein Sehnsuchtslächeln auf ihren Lippen. Es erreichte die Augen und gab ihrem ganzen Gesicht einen veränderten Ausdruck von stiller, schmerzgsbundener Lust. Sie wandte sich dem hellen Mondschein zu, der durch das
offenstehende Fenster hereinflutete, und ging wie im Traum zu dem hohen Notenständer neben dem Flügel. Sie starrte in das aufgeschlagene Heft: und während sie die Arme bewegte, als führe sie den Violinbogen über die ge- spannten Saiten, begann sie mit halbgeschlossenen Lidern die Melodie, die sie am meisten liebte, vor sich hinzusummen. Es war die„Legende" von Wieniawski . In einer plötzlichen Eingebung ging sie schnell um den Flügel herum zum violinkasten, öffnete ihn und nahm ihre liebe Bioline in die Arme. Sie sah sie lange zärtlich an, als fei sie ein lebendes Wesen. Dann legte sie sie an ihre Wange und führte den Bogen liebkosend über die Saiten. ' Während sie so mit zurückgebogenem Kopf dastand, die Augenlider fast geschlosien und die flaumige Lippe hochgezogen, halb in Lust, halb in'Schmerz— wuchs die Melodie hervor, zuerst schwach und tastend, gleichsam noch in Erwartung, aber dann mit zunehmender Kraft und Sicherheit, bis der Ton seine ganze Fülle und seinen vollen Wohlklang ereicht hatte. Dann gab sie sich ganz der Leidenschaft des Spieles hin und vergaß alles um sich herum. (5. Während Frau Helwig spielte, kämpfte das Lampenlicht, das durch den dunkelgrünen Seidenschirm sickerte, gegen das weiße Mondlicht an, das sich mit wachsender Fülle ins Zimmer drängte und den Schatten der hohen Fensterrahmen in einem schief viereckigen Muster auf die großen phantastischen Blumen des Teppichs warf. Da wurde das Muster plötzlich zerstört. In das schief« Lichtoiereck auf dem Teppich brach ein dunkler Schatten ein; und in dem offenen Fenster erschien die Gestalt eines Mannes, der den Arm gegen den Fensterrahmen stützte und ins Zimmer starrte, während er die leidenschaftlichen Töne in seinem Ohr, in seiner Seele sammelte. Er trug eine weiche Neifpmütze auf seinem dichten, dunklen Haar, das an den Schläfen gerade abgeschnitten war. Die Stirn war niedrig und eckig, das Gesicht länglich, mir starken Zügen. Die Nase war kräftig gebaut, die Lippen voll und fest geschlosien. Heber den glattrasierten Wangen und dem Kinn lag der bläuliche Schatten eines dunklen Bartes. Unter den scharfgeschnittenen Brauen ruhten zwei dunkle Auge« mit einem festen und langen Blick auf der Frau, die
am Flügel stand und spielte, den Rücken dem Fenster zuge- kehrt, während der Mond auf dem Saum ihres Kleides spielte. Als der letzte Bwllnstrich dahinstarb, rief eine tiefe und gedämpfte Stimme vom Fenster: „Helwig!" Frau Hjarmer zuckte zusammen. Hatte eine wirkliche Stimme durchs Zimmer geklungen — oder war es nur ein Laut gewesen, der von innen kam— der Widerhall einer teuren Erinnerung? Sie sah sich hastig um, die Bioline gegen das Kinn ge- stützt, aber die Lampe brannte noch immer ruhig hinter dem dunkelgrünen Seidenschirm auf dem Tisch, und im Kamin- spiegel sah sie sich selbst unter der Krone mit den Kristall» prismen. „Helwig!" Diesmal klang der Ton so allbekannt an ihr Ohr. und der Laut kam so veutlich von rückwärts, daß Frau Hjarmer es wie in einer plötzlichen Eingebung wußte: er, dem so viele ihrer Gedanken seit Jahren gehört hatten, stand heute abend im Mondlicht hinter ihrem Fenster. Sie wandte sich blitzschnell zu ihm um. Einen Augen- blick begegneten sich ihre Blicke wie in einer Umschlingung. Dann beugte sie den Kopf, legte die Bioline und den Bogen auf den Flügel, ging zum Erker und öffnete die Glastür. Während der Mond ihre Gestalt in sein weißes Gespinst einhüllte, trat der Fremde vom Fenster zurück und stand jetzt vor ihr' in der Türöffnung. Er war groß, mit breiten, geraden Schultern. Der Ober- körper schien zu groß und zu schwer im Verhältnis zum Unter» körper. Oder es war die Gemütsbewegung, die ihn nieder» drückte. Einen Augenblick sah er sie wortlos an. Dann trat er ins Zimmer und reichte ihr die Hand. „Guten Abend!" sagte er. Frau Helwig trat einige Schritte zurück, ohne sich seinem festen, langen Blick entziehen zu können. Seine dargebotene Hand nahm sie nicht. „Wie kommen Sie hierher, Herr Hilsve?" fragt« sie schließlich, als sie Herr ihrer Stimme geworden»ar. Werner Hilsö« ging auf sie zu und sagte, ohne den festen Blick seiner Augen, die die ihren festhielten, abzuwenden: <Fo tsetzung folgt.)