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Seilage öes Vorwärts
Sonnabend, 28. Januar 1922
was kann Dein Kind werden l Die Arbeit des Vcrnfsamtes der Stadt Berlin . Wenn d?e Entlassungen aus der Schule bevorstehen, I l?aß man in dieser Hoffnung sich nicht getäuscht hat. Natürlich ist tritt an viele Eltern die sorgenvolle Frage heran:„Was soll unser j es nicht möglich, alle Wünsche der Kinder und ihrer Eltern zu er Kind werden?" Wie oft hängt es vom Zusüll ab, welchem SBeruf j fallen, �"*" ein Junge oder ein Mädel sich zuwendet! Wie oft wird aus U n
kennt nis der Erfordernisse� in es Berufs leider eine Wahl getroffen, die ein schlimmer Fehlgriff ist und das Lebensschick- sal eines jungen Menschen in verhängnisvoller Weife beeinflußt! Und wie. oft muffen Eltern bei aller Einsicht ihrem Kind einen in heißer Neigung begehrten, den Fähigkeiten angemessenen Beruf versagen, weil die notwendige Berufsoorbereitung mit Kosten ver- Kunden ist, die über ihre Kräfte gehen! Die öerufswahl eine öffentliche Sorge. Eine richtige Berufswahl, die den Fähigkeiten ein es � Kindes
Nur zu oft haben Berufsberater und Berufsberaterinnen gerade das als ihre Pfl'cht angesehen, dem Ratsuchenden die Er- süllung seiner Wünsche zu widerraten und seine falschen Borstellun- gen von diesem oder jenem Beruf zu berichtigen. Die um die Zu- kunft eines Kindes sich sorgenden Eltern müssen die Frage:„Was soll unser Kind werden?" in d e m Sinne auffassen, daß sie sich klar zu machen haben, was es werden kann. Nicht nur sinnlos, sondern gewissenlos.wäre es, wenn Eltern einen schwächlichen Knaben z. B. Schlosser werden lassen wollten, was bekanntlich ein Lieblings- wünsch vieler Jungen ist. Ebenso verwerflich wäre«s, ein Mädchen z. B. einem künstlerischen Beruf zuführen zu wollen, für den es keine nennenswerte Begabung hat. In solchen und tausend ahn- lichen Fällen erwächst den Berufsberatern und Berufsberaterinnen die oft schwierige Aufgabe, die Eltern und die Kinder dahin zu
Kälteferien in üen öerliner Schulen. Da die Berliner Gaswerke nicht mehr den erforderlichen Koks für die Heizung der Schulen bei der außergewöhnlichen Kälte liefern können, so ist nach einer amtlichen Mitteilung in der gestrigen SchuIdeputalionSsitzung eine vorübergehende Schließung sämtlicher Alt-Berliner Schulen unumgänglich ge- -worden. Es handelt sich nur noch um die Frage, ob diese Kälte« ferien sofort auf etwa zwei Wochen einsetzen sollen oder ob man warten will, bis der jetzige Koksvorrat aufgebraucht ist. Damit wird aufs neue der geordnete Schulbetrieb in Berlin schwer g e« schädigt und der Zustand, der im Kriege eingerissen ist, daß aus Materialmangel der Unterricht unserer Kinder leiden muß, abermals fortgesetzt. Auch die sozialistische Schulverwallung ist diesen Kriegsfolgen gegenüber einstweilen machtlos.
entspricht und auch die Neigung zu ihrem Recht kommen läßt, dient � bringen, daß sie da. Törichte und Gefährliche ihrer Pläne einsehen nicht nur dem Kind, sondern der ganzen Gesellschaft. Die Forde- und sich für die Wahl eines geeigneteren Lernss enischeiden. Daß rung, daß überall die richtige Person an die richtige Stelle. kommt, dabei nicht nur Neigung und Eignung des Kindes, sondern leider »»,»., r: A*. l vi- � CcklÄ V2.a C«««ff n 1 S<v*. fTl««fSffrti• f«ff Srt»»„f. i I � u in f.. f. � � 1
iit nicht zu erfüllen, wenn nicht die Sorge für die Berufswahl als eine SfscnMche Angelegenheit betrachtet wird. Daruin hat in Preußen ein Ministerialerlaß vom 18. März 1313 den Stadt- und Landkreisen zur Pflicht gemacht, Berufsämter einzurichten mit dem Zweck, die vor der Berufswahl oder einem Berufswechsel stehen- den Jugendlichen und älteren Personen' mit Rat zu untcrMtzen und sie nach ihrer Eignung dem Beruf zuzuführen, in dem sie zu ihrer Befriedigung und zum Nutzen der Gesamtheit das Bestmög- liche leisten können. Die Aufgabe der Berufsämter ist, die körper- liche, geistige und sittliche Eignung der verufsuchenden zu prüfen und danach unter Berücksichtigung der Neigung sowie der wirt- schastlichen Verhälwisie die nötigen Fingerzeige für die Berufswahl zu geben. Das verufsamt der Stadt Berlin (Oranienburgitr Str. E4), das seine Arbeit im April 1323 begann, konnte auf damals schon be- stehenden, durch Verbände geschaffenen Einrichtungen weiterbauen, auf der Groß-Berliner Auskunftsstelle für Frauenberufe und auf der Berliner Zentralstelle für Lehrstellenvermittlung, die» beide vom Berufsamt übernommen wurden. Die Verbindung der Be- rufsberatung mit Lehrstellen- und Arbeitsvermittlung erleichtert es dem Berufs nchenden.�on der Raterteilung den richttgen Gebrauch zu machen. Das Berliner Berufsamt hatte sogleich im ersten Jahre 46 179 Besuche, meist von Schulentlassenen, die mit Familienange- hörigen kamen, aber auch von Erwachsenen, die sich zu einem Be- . russwechsel entschlosien. Bei einer Besichtigung des B-rufsamts unter Führung seines Direktors Dr. Liebenberg erhielten wir sehr lehrreiche Einblicke in die Arbeit, die dort zum Segen unseres Nachwuchses gclekftet wird. Unterstützung ües Serufsamts öurch Sie Schule/ Damit ein möglichst großer Teil der Schulentlassenen für die V-russberatung ersaßt wird, stellt schon die S-bule sich in den Dienst des Berussamts. Jedem Jungen und jedem Mädel wird etwa ein halbes Jahr vor der Schulentlassung ein Fragebogen überreicht, "der in der erforderlichen Anzahl allen Schulen zugegangen ist. Auf chrn werden vermerkt die Personalien des Kindes, Angaben über die Familie, über die wirtfchastlichen Verhältnisse, über Wünsche "tMd Neigungen für die Berufswahl, ferner Angaben der Schule über Leistungen und Fähigkeiten sowie über besondere Eigenschaf- ten, Angaben des Arztes üb-r den körperlichen Zustand. Der Schulleiter oder ein anderes als Dertrauensperfon für das Be- rufsamt tätiges Mitglied des Lehrerkollegiums überwacht die Aus- füllung der Fragebogen und schickt die ausgefüllten an das Berufs- amt zurück. Berufsberater und Berufsberaterinnen veranstalten dann Besprechungen über die Berufswahl mit d«n Sindern in den Schulen oder mit den Eltern in dazu- einberufenen Versammlungen. Wenn danach die Eltern mit ihren vor der Schulentlassung stehen- den Kindern das Berufsamt aufsuchen, hat das Amt in den von
auch der Geldbeutel der Eltern zu berücksichtigen ist, haben wir bereits erwähnt. Alles das wird von den Berufsberatern und Berufsberaterinnen mit den Kindern und Eltern in eingehender Unterredung erörtert, die ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Ratsuchenden und dem Ralgebenden herstellt. Eignungsprüfungen. Im Dienst des Berufsamts stehen Männer und Frauen, die aus Berufen der verschiedensten Art hervorgegangen sind und mannigfache Sochkenntnisse mitgebracht haben. Das Berufsamt ist auch bemüht, die einzelnen Berufe in ihrer Entwicklung zu beobach- ten, die Anforderungen jedes Berufs zu erforschen und die Ergeb- nisie für die Berufsberatung zu verwerten. Ein Hilfsmittel zur Be- vrteilung der Fähigkeiten eines Kindes, das sich einem bestimmten Beruf zuwenden möchte, sind besondere Eignungsprüfungen, psnchotechnifche Untersuchungen über Beobachtungsgabe, Auffasiunqs- fähigkeit,' Augenmaß, Farbensinn, Handgeschicklichkeit usw. Direktor Liebenberg warnt aber davor, die Verwendbarkeit der Ergebnisse solcher Untersuchungen zu überschätzen. Für die Organisation der Berufsberatung wird eine Dezentralisierung angestrebt. Jeder der 23 Verwaltungsbezirke soll eine eigene Berufsberatungsstelle erhalten. Solche Stellen bestehen schon in den Verwaltungsbezirken Charlottenburg (Berliner Str. 81), Spandau (Am Markt 6), Wilmersdorf (Badensche Str.), Schöneberg (Winterfeldtplatz), Köpenick ((Ftiedrichstr. 23s, Lichtenberg (Markt Nr. 13/11), Pankow (Neue Schönholzer Str. 35), Neukölln(Erk- straße 28). Die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung für die übrigen Verwaltungsbezirke wird bis auf weiteres noch vom Be- rufsamt� Berlin ausgeübt. Zum Teil geschieht das durch„flie. gen de" Beratungsstellen, die in solchen Derwaltungsbe- zirken an bestimmten Tagen Beratungsstunden veranstalten.
�avel unü Spree zuaefroren. Der Müggelsee für den Eislauf freigegeben. Die große Kälte der letzten Tage hat den Gewässern in der Umgebung Berlins eine fo feste Eisdecke verliehen, daß vom Wasser- bauamt die Sperrung der Schiffahrt auf folgenden Strecken angeordnet werden mußte: Die Havelwasserstraße von Paretz bis zur Spreemündung mit allen Nebengewässern, die Potsdamer Havel und die untere Spree von ihrer Mün« dung bis zur Charlottenburger Weichbildgrenze. Schiffahrttreibende, die das Eis dieser Strecken mit ihren Fahrzeugen durchbrechen wollen, haben erst besondere Genehmigung einzuholen. Die Eis- s p o r t e r l a u b n i s ist für die genannten Gewässer poch nicht erteilt worden. Dagegen sind die Müggelsee» für den Eislvort
den Schulen' eingesammelten Fragebogen bereits eine Grundlage � aller Art polizeilich freigegeben worden. Auch die stäkmfche für die weiteren Verhandlungen und für eine zweckmäßige Rat- Eisbahn auf dem u m m e l s b u r g e r S e e ist nach polizeilicher rrteiluna. Freigabe wieder eröffnet worden. Zugänge befinden sich bei
rrteilung. Emstchtige Mitwirkung der Eltern. Daß die Eltern wirttich�kommen, ist die Voraussetzung für jede Arbeit des Berufsamts. Niemand wird gezwungen, zu kommen; aber man rechnet auf die Einsicht der Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt! Die bisherigen Besuchsziffern zeigen.
Freigabe wieder eröffnet worden. Zugänge befinden sich bei der Badeanstalt Masello, Lichtenberg . Hauptstraße und beim Nestau- rant Schonert, Stralau. Auch die O d e r i st z u g e f r o r e n. In den Oderhäfen liegen noch große Ladungen von Kohlen und Zucker. Teilweise werden die Kohlen auf die Waggons der Hafenbahn übergeladen und so in die Städte geleitet.
5reikorps-Abenteurer. Das vergnügte Miliiärgefängnis in der Dirckfenstraße. Umfangreiche Veruntreuungen bei einem der berüchtigten Frei- korps und andere abenteuerliche Geschichten kamen in einer Ver- Handlung zur Sprache, die zwei Tage die Strafkammer des Land- gerichts II beschäftigt hat. Die auf Urkundenfälschung, Betrug, Unterschlagung, unerlaubte Entfernung, Bestechung und Selbst- befreiung bzw. Beihilfe zu diesen Vergehen lautende Anklage richtet sich gegen den Osfizicrstellvertreter Max£ h i e s i s, den Kaufmann Paul Beyer, dessen Ehefrau Helene D. geschiedene Thiesis, den Kaufmann Erich Schönstedt und den vielfach vorbestraften Buch- Halter Albrecht Riekmeyer. Der ebenfalls schon mehrfach vorbestrafte Thiesis war Rech- nungsführer bei dem Jnfanteriegeschützbataillon des Freikorps v. Klewitz gewesen. Wie die Anklage behauptet, soll er dem Auto- mobiloerleiher Löbnitz für verschiedene Vergnügungsfahrten einen gefälschten Scheck des Korps Lvschebrandt in Zahlung gegeben haben, um bald darauf mit dem gesamten Kassenbefta nck? des Korps in Höhe von ca. 87333 M. zu verschwinden. Wie weiter behauptet wird, trat Thiesis dann bei dem russischen Schützenregiment des Obersten Wirgulitsch«in und soll dann unter Mitnahme von 153 333 M. desertiert sein. Thiesis kam damz nach Berlin zurück und wurde hier eines Tages von dem Mitange- klagten Schönstedt gestellt, dem er noch 3133 M. schuldete. Während dieser auf das Geld wartete, wurde Th. verhaftet. Schönstedt ver- schaffte sich nun mit Hilfe der Hauswirtin Zutritt zu der Wohnung des Th. und fand hier in einem Bett versteckt eine Aktentasche m i t 3 5 3 3 3 M. Nach Abzug der Schuldsumme übergab er den Rest der damaligen Ehefrau Th., der jetzigen Frau Beyer. Thiesis wurde in das damalige Militärgefängnis in der Dircksen- straße eingeliefert, in dem, wie in der Verhandlung zur Sprache kam, recht erbauliche Zustände herrschten. So wurde u. a. behauptet, daß zahlungsfähige Gefangene mit ihren Aufsehern nachts Weinreisen unternahmen. Der dort ebenfalls in Haft befindliche, vielfach vorbestrafte Riekmeyer bekleidete einen Vertrauensposten und befand sich im Besitz der ZellenscWüssel. Wie die Anklage behauptete, soll Lhiesis den R. gegen Hingabe von 23 333 M. und eines Brillantringes bestimmt haben, ihm bei einer Flucht behilflich zu sein. Bei der Flucht brach sich Thiesis ein Bein, während Riekmeyer entkam. Vor Gericht machten die Verteidiger für die Mitangeklagten gel- tend, daß diese die strafbare Herkunft nicht gekannt hätten. Das Ge- richt erkannte auch gegen Beyer, Frau Beyer und Schön- st e d t auf F r e i f p r e ch u n g. Thiesis wurde zu 1 I a h rnin d 3 M o n a t e n Gefängnis verurteilt; das Verfahren gegen Niek- meyer wurde abgetrennt._ Ter Samenhändler als Goldschiesier.- Wie Goldlachen und Brillanten in Deuiichland zusammengekauft und über die Grenze geschmuggelt werden, beleuchiet wieder einmal eine Berba'tung. die in Frei bürg an der schweizerischen Grenze vorgenommen wurde. Dort wurde bei einer Revision ein Händler Eduard Keller aus Berlin , der eine Menge Gold, Schmuck« fachen und Brillanten bei sich trug, wegen Zollhinterziehung und Schmuggels verhaltet. Keller behauptete, er habe alles im Auftrage eines schweizerischen BaronS in Berlin gelaust, um eS dem Auftraggeber über die Grenze zuzuführen. Inzwischen ging von einem Manne, der von der Berhastung und der Beschlagnahme der Sachen nicht« wußte, gegen Keller eine Anzeige ein. weil er glaub:?, daß dieser ibm die Brillauisir unterschlagen und tür leine eigene Tasche verschoben habe. So erfuhr man. daß der Auftraggeber des Verhafteten nicht ein Baron aus der Schweiz , sondern ein Schweizer Kaufmann Wlttborn war. Dieser kam unter
Eine selksame Aachk. Roman in vier Stunden von Laurids Bruun . Zur Mitternachts stunde. 1. Die Lampe war ausgegangen, und der Mondschein er» streckte sich in großen, breiten Bierecken ganz bis zum Tiftb und zum Flügel. Der weiße, zitternde Schein erfüllte das Zimmer, so daß Werner und Helwig, die am Tisch saßen, deutlich jeden Zug und jeden Stimmungswechsel in ihren Gesichtern unter» scheiden tonnten; aber die zarten, bleichen Mondschatten ver« wischten, veränderten und gaben allen Linien einen eigenen, geheimnisvollen Reiz. Der Blick leuchtete dunkel wie hinter einem zitternden Schleier; und die Stimme, die bei dem feier- lichen Licht gedämpst, fast flüsternd wurde, klang aufrichtig und betörend, als sei es das Herz selbst, das sich öffnete und sprach. Als Doktor Sylt und Fräulein Selma ins Zimmer
Oollors Mond-
____....._____ ms traten, übersahen die kleinen, scharfen Augen des Do schnell die Situation. „Aba." sagte er.„Sie sitzen hier zusammen im------ schein und plaudern miteinander wie zwei ganz natürliche Menschenkinder." Hilsöe richtete sich auf. sah ihn fest an und sagte: „Als was sollten wir sonst miteinander plaudern?" „Rein, natürlich! Ich konstatiere nur eine Tatsache." Der Doktor blieb neben dem Flügel stehen und starrte in den Mondschein, der auch ihn berauschte. „Es war kein Petroleum mehr auf der Lampe!" sagte Fron Helwig erklärend und legte sich mit geschlossenen Augen im Stuhl zurück. Fräulein Selma ging um ihren Stuhl herum zum Tisch und hob die schwere Lampe. „Ich werde sie hinaustragen und füllen!" Frau Helwig streckte die Hand aus und hielt sie zurück. „Ach nein'— die Nacht ist so schön!" Dann richtete sie sich auf und sagte ins Zimmer hinein: „Herr Hilsöe und ich haben gemeinsame Bekannte ge- fwlxn."
„Ja,. die Welt ist klein!" sagte Hilsöe. Der Doktor setzte sich auf das Taburett vorm Flügel und sah mit seinen kleinen, scharfen Augen zu Frau Helwig hin- über. „Ja, ja! Und wenn man einen großen Bekanntenkreis hat!" Frau Helwig merkte den forschenden Blick und erhob sich. „Wie geht es denn dem Patienten?" fragte sie. „Ich dachte mir wohl, daß Sie ungeduldig seien, etwas zu erfahren, Frau Hjarmer, deshalb kamen wir so schnell wie möglich herunter." Es klang ganz geradezu und unschuldig. Trotzdem fuhlle tvttu helwig, wie ihr das Blut in die Ohren stieg. „Sie ist etwas heiser!" begann der Arzt, indem er sie von der Seite anblickte.„Sis hat auch etwas Atemnot." Frau Helwig bemerkte nicht den feinen Uebergang im Ton. „Das kommt wohl alles von den Zähnen?" sagt« sie, halb geistesabwesend, und strich sich über die weiße Stirn. „Hm— die Zähne!" Der Doktor sah zur Seite und sann einen Augenblick nach, während er seinen schweren Ober- körper auf dem Taburett bin und her wiegte.„Ja, ja, wir werden sehen, Frau Hjarmer!" „Was ich noch sagen wollte," fügte er hinzu und erhob sich,„es ist ein kleiner Belag da, den ich gern näher unter- suchen möchte. Wenn ich von der Leichenbesichtigung komme, gehe ich mal bei mir zu Hause vor und hole die Instrumente." , Fräulein Selma wurde es plötzlich angst zumute. „Die Instrumente, Herr Doktor?" Auch Frau Helwig wandte sich hastig zu ihm um. „Soll sie geschnitten werden?" „Ach was, geschnitten!" sagte der Doktor spöttisch.„Es gibt so viele Sorten Instrumente bei uns Tausendkünstlern, Frau Hjarmer. Mit den bloßen Fäusten geht es ja nicht immer." „Dann kommen Sie wieder hierher, Herr Doktor?" fragte Fräulein Selma. „Ja, das tue ich!" antwortete der Doktor und sah auf seine Hände herab. „Roch heute nacht?" fragte sie weiter und strich die asch- blonde Locke von den Augen zurück. Doktor Sylt sah zu ihr auf und sagte sanft und geradezu:
„Ja, weshalb nicht, kleines Fräulein? Man soll nicht bis zum folgenden Tag aufschieben, was man in einer hellen und stillen Sommernacht tun kann." Frau Helwig lächelte:' „So heißt es nun nicht, Doktor." „Sie wissen wohl, daß ich meinen eigenen kleinen Sprich» Wortschatz habe! Und da man nun einmal in den Kleidern ist— und die Leichenschau— und so weiter." Dann schloß er die Jacke und ging auf die Kontortür zu. „Auf Wiedersehen!" „Auf Wiedersehen, Doktor Sylt !" sagte Frau Helwig— und fügte hinzu, als er die Tür erreicht hatte: „Wir lassen die Tür offen stehen; es kann ja doch nie- wand von uns schlafen." Doktor Sylt sah sie mit seinen kleinen, scharfen Augen an und sagte gleichgültig: „Rein, das läßt sich denken!" Fräulein Selma ging rasch auf ihn zu: „Sie bleiben wohl nicht zu lange fort, Herr Doktor?" „Und weshalb?"- „Wenn die arme Kleine nun keine Luft bekommen kann?" Der Doktor klopfte ihr die Wange mit seiner behaarten Bärentatze. „Setzen Sie sich zu ihr, und halten Sie ihre Hand, dann wird sie schon ruhig werden. Ich komme, sobald ich kann— das wissen. Sie." Dann ging er durchs Kontor hinaus. 2. Nachdem Doktor Sylt gegangen war, stand Fräulein Selma einen Augenblick mitten im Zimmer. Sie sah verstohlen zu Frau Helwig hinüber, die sich gegen den Tisch lehnte und in den Mondschein starrte, wäh- rend Herr Hilsöe schweigend und unbeweglich im Lehnstuhl saß, als warte er nur darauf, daß sie gehen solle. Es ärgerte sie, ihn dort in des Amtsvorstehers Stuhl sitzen zu sehen, als wäre er in diesem Zimmer bereits zu Hause; und es wurde ihr plötzlich klar, daß es ein Unglück sei. daß er überhaupt gekommen war. Da bekam sie eine Idee. (Fortsetzung folgt.)