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Hr. 5SC ZH. Jahrgang
2. Heilage öes Vorwärts
Ssnntag, 1Z. Mgust 1H22
Musik im Serlmer Volksleben.
Ein Kultur- und Zeitbild.
Die Tuche nach der musikalischen Dolkeseele Berlins   setzt im Tonbereich von Drehorgeln ein, Ihre Stimme ist laut und nicht osr Kunstgenuß. Immer aber wirkt ihre Sprache eindringlich bc- redt. Not. und Sehnsucht der Zelt wird Lied ohne Wort:. Dis MuM öec armen Leute. Unter diesem Teil machte einmal ein Dichter die Berliner   Dreh- orgel und proletarische Musiklicbe berühmt. Es war ein artiges Dedichch ein Stück Elsndspoesie» wie es damals in bürgerlichen Kreisen beliebt war. Uns stimmt soziale Not niemals rührselig, und wo sie künstlerisch befruchtet, weckt sie Klänge des Kampfes. Üebri- gens haben Äricgsopscr als Drehorgelsllascn niemals für den De- griff Daierfand geworben. Immer heulten sie Anklagen in die Ohren der Gesellschaft, cheutc kreischen sie Sclbstverhöhnung. Dreh- orgeln sind nicht von chause aus Musik der armen Leute. Not der Menschen hat sie dazu gemacht. Musik möchte in edelsten Harmonien zu ihnen sprechen, möchte versöhnen und befreien, und gerade Menschen des Elends haben ein Sehnen danach. Berliner  -Ijor- wuflk der Drehorgeln und blinden und körperlich zerbrocheneu Spieler und Sänger ist ein ernstes menschliches und soziales Ka- pitcl, ein grelles Bild lranker Aeit und gehemmter Kultur. Gegen- fätzlichkeit unserer Zeit: eine Kellcrwirtschaft, zerlumpte Menschen, die Schlaf und Sättigung kaum mehr kennen, ein Mann, der aus Barmherzigkeit spielt und eine Drehorgel, die 36 000 ZU. kostet. Wer einmal derMusik der armen Laute" in Höfen van Miets- kÄernen oder»ist Gaststätten folgte, wo Hunger Wirt ist, de" bat für immer du veberzeugung gewonnen: diese Bevölkerung ist muii- talisch wie kaum eine andere und verlangt Musik und hätte eigenr- lich ein Recht darauf. Aber am Schlechten sind nicht die braven Drchorgclspicler schuld. Sie müssen sich das liefern lassen, was das Großstadlmoyopolrecht der Zkiederhaltung tieferen Zllujikempfindens besitzt: dieFoxtrctts",Jimmys",Bostons" undNur eine Nach!" undMensch, sei helle und Aehnliches, was an sich nicht unkünstle- risch ist und sc Ht durch Feinheiten überrascht, begreiflich und ganz am Platz in Lebekneipen, aber aus diesen in eigentliches Volk ver- pflanzt, niemals Erfijllung des Bolksmusikbegehrens. Die StaSt öer Klaviere. Berlin   ist die Stadt der Klaviere. Die kleinsten Kneipen in den Arbeitervierteln haben meist ihr Klavier. Man findet es noch, wenn man wacklige Kellerstufen hinuntersteigt. Es sind drei Lieder, aus denen die Volksseele klingt. Sie sind nicht alt geworden in Jahren. Sie haben Wiener und Berliner   Operettenblendwer! überdauert. Und das Volk hat noch mehr als die drei Lieder, aber noch lange nutit genug..Aus der Zuprndzrit",0 svls mio",.Verbotener Gesang" we. kennt sie nicht und wer möchte verkennen, daß eine Bevölkerung, die solche Lieder, darunter zwei ausländische, echt südliche, sich als Lieblingsbesitz zu eigen gemacht hat, vom aller. ursprünglichsten, von wahrhaft volkstümlichen Musikempfinden gc- tragen ist? Wie musikalisch könnte dies Volk erst sein, wie lebendig die Wogen seines Lebens, käme sein Sehnen heraus aus Enge und erzwungener Kunstgenügsamkeit, hörte Musik als Kunst und Offen- barung auf, ein fast ausschließliches Vorrecht von Glück und Gut Begünstigter zu feinl. Wir haben die ausgezeichnete Staatsopcr, haben das Deutsche Opernhaus. Sic sind nicht Besitz des Volkes. Sie können feinen Bedürfnissen nicht gerecht werden, ohne daran selbst Schuld zu tragen. Staatsoper. Wer aus dem Volke hat eigentlich schon die Gnade gehabt, in ihr Heiligtum hoher Kunst einzudringen? Oder sind nicht Arbeiter, Mittekstgnd, Intellektuelle Volk und Mehrheit des Volke»? Wem gehört sie denn überhaupt? Als billiges Theater, in dem man sich sorgenlos reinsten Kunstgenuß verschafft, doch wohl nur valutastarken Fremden und den wenigen Bevorzugten im eigenen Lande. Das musikalische Volksleben Berlins   krankt daran, daß man in den breitesten Kreisen der arbeitenden Schichten kaum weiß und wissen kann, was ein musikalisches Drama, eine Oper ist, daß wirtschaftliche Zurückdämmung und einseitige Kulturbeschränkung Kern und Mehrheit des Volkes von letztem Kunstbefitzergreifcn| zurückhielt und in Derständnislosigkeit menschenbeglückender innerster; Kunstsprache gegenüber zwang. Der alte Staat hat in kulturellen! Aufgaben versagt. Er verschloß sich der Erkenntnis, daß Kultur-! besitz, daß Wisienschast und Kunst dem Volke, dem ganzen Volke als,
Recht und Eigentum gehören. Und darin, nicht allein in geschicht- lichcn Eeschehnissen, lagen Ursachen und Notwendigkeiten seines Untenzanges. Kulturenge vorrevolutionärer Zeit droht uns heute zu ersticken. Wir schleppen die Losten der Vergangenheit, die andere als Erbe hinterließen. Demokratie der Kultur, Seele aller wahren Demokratie, kann nicht gleichen Schritt mit dem Vorwärtsdringen politischen Lebens halten. Aber der Volkswille nach Kulturerringen kann nur aufgehalten, niemals aber zu völligem Stillstand gebracht wcrden. ku!tu?tatsn öes Volkes. Das Voll von Berlin   schuf seine Kulturgüter aus sich selbst. Uncrschüttcrlichkeit sozialen Kampfes überwand gebietende Macht der Verständnisenge und Kulturentrechtung. Arbeiterfängsr«r- hielten im Volke Kunst der Musik. Treue der Kunstliebe, Unermüd- lichteit in ihrer Pflege führt- zu Großtaten. Das Volk Berlins   schuf sein Heim des gesprochenen Dichterwortes. Die Volksbühne Ist mehr geworden als eine vorbildlich bedeutende Sunststätle, sie wirkt im Blute des Volkes als lebendiges Denkmal geistiger Befreiungetat, ein liebevoll gehüteter kostbarer Besitz. Und das gleiche Volk' Bcr. lins wird und muß sich, mag der Weg der Zeiterschwernisse auch länger und mühevoller sein, sein eigenes Heim der Musik und ihrer höchsten Darbietung im musikalischen Drama schaffen, ebenbürtig der Volksbühne, ein künstlerisches Kleinod wie sie. Hier müßten von Anfang an, in mutigem Erfassen von End­zielen, die Bolksopernbestrebungen einsetzen. Die Große Volksoper Berlin   scheint In ihrem ganzen Aufbau und in Ihren bisherigen Leistungen von solcher Zielklarheit beseelt. Sich mit ihrem Wollen und Wirken näher und ganz vertraut zu machen, liegt im eigenen Wohle der Arbeiterschaft, des Mittelstandes und all der Volkskreise, die heute vor verschlossenen Kunstpforten stehen müssen. Und es wäre Pflicht der weniger vom Schotten der Not Getroffenen, die gerne das Wort von Demokratie gebrauchen, um es zu oergcsien, wenn es demokratische Kulturpflichten gegen die Mehrheit des Volks zu erfüllen gilt. » Hat das Berliner   Volk sein eigenes, künstlerisch mustergültiges, musikalischeo Schauspielhaus, dann wird aus ihm Bereicherung und Neubeseelung des Volkslebens strömen und wirken, wie heute das Dichterwort der Volksbühne Erlebnis und gestaltende Kraft bedeutet. Widerhall höchster Kunst wird Sehnen erfüllen und Ocde durch- brechen. Und Drehorgeln werden aufhären, d i e Musik der armen Leute zu sein._ Das versthWunSene Lächeln. Manchem vergeht in der heutigen Zeit das Lachen, und das Lächeln hat er auch verlernt. Die Sorge geht umher, und bei wem sie sich zu Gast lädt, der trägt das Gedenken an sie als scharfe Linie in seinem Gesicht gezeichnet. Doch nicht nur das menschliche, sondern noch ein anderes Lächeln wird nach und nach im Strahenbild herab. gemindert werden. Das Lächeln der Wachspuppen nämlich. Sie hatten stets ein zuckersüßes Lächeln und ließen es sich nicht einmal besonders bezahlen. Ganz gleich, ob sie als Dame ohne Unterleib im Schaufenster des Friseurs standen und die neuesten Haarmoden als Ballast aus ihrem Kopf trugen oder ok. sie als vorgetäuschte Menschenkinder von Konfektionsgeschäften als Garderobenständer benutzt wurden. Sie lächelten. Ganz gleich, ob sie Im tiefausge- schnittenen Gefellschaftskleide ihre wächsernen bleichen Reiz« präsen- tierten, ob sie unter Affenhautmänteln schwitzten oder ein so dünnes Sommerlleidchen trugen, das nicht einmal die erst« Wäsche über- stand. In rührender Treue dienten sie diesem hysterischen Frauen- zimmer, das man gemeinhin die Göttin Mode nennt. Sie lächelten, diese fürsorglich geschminkten, mit zentimeterlangen schwarzoer- kohlten Augenwimpern versehenen Wache-Dämchen, ganz gleich, ob vor ihrem Fenster ein Mensch überfahren wurde, ein Börsenjobber in der Zeitung nach der letzten Notierung des Dollars suchte cder die Reichswehr   mit Musik aufmarschierte. Doch setzt werden sie unmodern. Man wendet ihnen den. Rücken, trotz ihrer ver-
führenschen Frisuren, ihrer Purpurschminke und der Elfenbein- zähnchen. Man hat nunmehr seinen Sinn für die Form entdeckt. Darum wählt man kopflose, schöngesormte Ständer, über die man die Kleider hängt. Das ist diesen oft sehr bekömmlich, denn sie können, ohne daß der Blick abgelenkt wird, prunken durch Material, Arbeit und Forbenzusommenstellung. Das Kleid wird also durch sich selbst zur Geltung kommen. Sa weit wären wir gegenwärtig. Wann aber wird der Mensch nicht mehr der Narr des Kleides sein? Wann wird sein Blick so weit geschärft sein, daß er sich durch eitlen Tand nicht mehr blenden läßt, daß er das Kleid übersieht und den Menschen sucht? filwin Gerifchs letzter Gang. All' die Freunde und Verehrer des unvergeßlichen Toten, die früheren Arbeitskollegen und Mitarbeiter vereinten sich gestern in der Halle des Friedhofes zu Baumschulenweg  , um dem alten Kämpen die letzte Ehre zu erweisen. Harmonium- und Cello- klänge leiteten die Feier ein, Ouartcttgesang bildete den Uebergang zu den Reden, die die Vertreter der Organisationen und Körper- schaften hielten, denen Alwin Gerisch   seine ganze Lebensarbeit ge« widmet hatte. Als erster ergriff im Namen des Parteioorstandes Genosse Dr. Ad. Braun das Wort: Als vor 32 Jahren die Sozialdemokratie wieder ihren ersten ordentlichen Parteitag auf deutschem Boden, in Halle, abhielt, da sollte auch ein neuer Vorstand gewählt werden. Neben Bebel, Auer, Fischer und Singer tauchte das erstemal der Name Gerisch auf. Da er nicht Delegierter war, wurde er telegraphisch nach Halle berufen und nahm die Wahl an. Die Berliner  , die seine Fähig- leiten und Gaben vom Metallarbeitcrverband, wo er nicht alltäg- liches geleistet hat, konnten, gaben dem Parteivorstand in Gerisch einen seiner besten Mitarbeiter. Jahrelang übte er das Amt des Finanzverwalters der Partei aus. Und wenn die Partei finanziell ihren Verpflichtungen immer gerecht geworden ist, dann ist es nicht zuletzt Gerischs Werk. Er erlebte den Ausstieg der deutschen   Ar­beiterklasse in Partei und Gewerkschaft und war an der Arbeit des Metallarbeitcrverbandes so intensiv tätig, daß er heute die größte Gewerkschaft der Welt darstellt. Dem Reichstag   war er tatkräftiger Mitarbeiter, und als er eines quälenden Leidens wegen seinen Posten im Parteivorstand niederlegen mußte, verloren wir einen Menschen, der ausgestattet war mit einem glänzenden Kameradschaftsgeist. Auer, Singer und Bebel sanken ins Grab: nun folgt ihnen Alwin Gerisch  . Im Namen des Parteioorstandes, im Namen der gesamten Partei spreche ich dem Toten unseren wärmsten Dank aus. Er de- anspruchte niemals Lob, die Partei war ihm alles und jetzt, wo er von uns geht,'bleibt uns zu tun nichts weiter übrig, als in seinem Sinne zu wirken und zu werben für dos Ziel, das er nicht mehr erleben sollte: die Wiedervereinigung der sozialisti- schen Parteien. So wollen wir das Werk fortsetzen und wollen ihn in Ehren behalten, unseren Alwin Gerisch.   Darauf sprachen Vertreter des Metallarbeiterverbandee, des ADGB.  , des Bezirksamts Treptow und seines sächsischen Neichstagswahlkreises. Dann folgten die Vertreter der Unabhängigen. Für die Bezirksverordnetenfraktion sprach Genosse Strieder, für den IS. Kreis Genosse Jung den Nach- ruf. Auch Genosse Schlegel, als Vertreter des Bezirksverbandes, widmete dem Toten warme Worte des Gedenkens. Wieder ertönt Musik. Langsam wurde der Sarg hinausge- tragen. An der Gruft häuften sich die Kranz» und Blumenspenden. Alle Inschriften auf den Schleifen spiegelten die Liebe und Vor- ehrung wieder, die der Tote genoß. Dann sank der Sarg in die Tiefe. Die Klänge des Liedes:Ein Sohn des Voltes" schwebten wehmutsvoll über der Gruft und wiesen noch einmal auf die Lücke hin, die hier der Tod gerissen und die schwer zu schließen sein wird.
Eine Neuköllner Augendherberge in der Mark. Den Bemühungen der jungen Ortsgruppe Neukölln des Bundes deutscher   Jugendherbergen ist es nach kaum vierteljährigem Be- stehen gelungen, der Jugend Neuköllns eine Jugendherberge zu oer- schaffen, die in kurzem in Betrieb genommen w erden kann. In einer der schönsten Gegenden der Mark, unmittelbar am Klein- Köriser See gelegen, erhebt sick) ein massives, zweistöckiges Ge- bäude, in dem wenigstens 200 Lagerstätten eingerichtet werden, so daß auch ganze Schuitlassen und größere Vereinsgruppen
Der Sprung in die Welt.
Ein Jungarbeiterroman von Artur Aickler. Gegeben wurde VerdisTraviata  ". Die drei kamen recht- zeitig genug, um das prunkvolle Innere des Theaters aus- giebig zu bewundern, besonders Vater Onfreder fand ein an- erkennendesGottverdammnich wie das funkelt!" Es wurde finster, die Ouvertüre setzte ein.Da spielt ja ein ganzer Haufen.. Hinter ihnen rief es:Maul halten!" Dann ging der Vorhang in die Höhe, die bunte Gesellschaft auf der Bühne fang:Mit der Freude Blumenkränzen..." Sie singen zu laut," fand der Alte,ich verstehe kein Wort." Die Freunde antworteten nicht, ihre Augen und Ohren waren auf der strahlenden Bühne, bei den ewig jungen Melodien. Die sangen noch in ihnen, als sie heimwärts zogen. gi Nur der Alte war unzufrieden.Das war mir viel zu unnatürlich. Warum haben sich die Leute angesungen, man singt doch nicht, wenn man sich etwas zu sagen hat. Wenn ich auf dich lossingen würde,Ha a ans. wo hast du u u den A a a bortschlüssel?", so würdest du mich für verrückt hallen. Ich glaube, sie singen nur, um das Stück in die Länge zu ziehen; ich finde das ober langweilig. Da war das Puppentheater interessanter, das ich vor dreißig Jahren gesehen habe. Das Stück kenn ich noch so genau, als hätte ich es gestern gesehen/ es hießDer artesische Brunnen oder Meine Mittel erlauben mir das", und es war wenigstens etwas zum Lachen dabei. Das heute abend aber war Bruch, und es ist unverschämt, für das überspannte Gejohle achtzig Pfennige zu verlangen." Du verstehst bloß nichts davon!" Dieser Widerspruch hatte dem Alten gerade noch gefehlt.Laßt man gut sein." grollte cr�ich bin eben ein dummes Luder. Bloß ihr zwei beiden habt es in euch. Wenn ihr Stolz in den Knochen hättet, gingt ih" da nicht hin, wo die Pelzweiber und die Uhrketten- männer sitzen, um sich voreinander wichtig zu machen. Das ist es, was mich an euch so ärgern kann: nicht, daß ihr Dummheiten macht, ich bin in eurem Alter auch nicht ganz fein gewesen vielmehr, daß ihr mit Gewalt etwas scheinen wollt, was ihr nicht seid. Genau wie mein Zweitältester Bruder, der Wilhelm, dauernd hat er kein Geld und rennt tagsüber treppauf treppab, von Tür zu Tür, um alte Metalle aufzukaufen seine Alte aber leistet sich ein Doppelkinn, und an der Türe hat der' Hanswurst ein Schild, �Betteln und Hausieren verboten". Er holt sich für zehn Pfennige Wurst
aus dem Fleischerladen und frißt sie auf offener Straße» das Töchterlein ober lebt von Pralines, kriegt die Spitzenhöschen mit der Kneifzange angezogen und rennt in die Klavierstunde, die er nur bezahlen kann, wenn er mich anpumpt. Das nenne ich besseren Bruch; jeder Schreiber nennt sich jetzt Kaufmann, jeder Straßenkehrer Bcamler, und deine Kusine Paula bildet sich einen Stiefel darauf ein. daß sie ein Kind von einem Feldwebel hat. Genau so seid ihr!" Nudi verabschiedete sich. Hans lief bedrückt neben dem Vater her. Auch dieser Versuch war mißlungen. Es gelang Hans nicht einmal, den Vater vor sich selbst ins Unrecht zu setzen, er empfand, daß der Bater eigentlich recht hatte, und das-drückte ihn mächtig nieder. War er wirklich auf dem Wege, ein Fatzke, zu werden, war der Wille, sein Leben zu erhöhen, tatsächlich nur eine alberne Streberei? Der Carnegie- fimmel war nicht weit davon ab gewesen, das sah er ein. Wie stand es mit dein neuen Ziel? Jetzt wollte er auf den Busch klopfen. Wir wollen jetzt auf die Wanderschaft gehen, was sagst du dazu?" Vater Onfreder machte ein grimmiges Gesicht und sagte nach einer Weile:Euch bringen sie ja doch nach acht Tagen per Schub wieder nach Hause. Ihr seid dazu noch zu jung und zu unerfahren. Ihr kommt ins Bummeln, und von der Landstraße ins Kittchen   ist kein halber Meter." Du warst aber doch auch auf der Walze!" Das war eins ganz andere Sache. Ich hatte ein Hand- werk gelernt und war zwanzig Jahre alt. die Zeiten waren damals auch andere. Auf der Landstraße ist heute nicht mehr viel los, es rennen zuviel Polacken und Pennsr darauf herum, und die Landjäger machen dem Kunden das Leben zu sauer." Hans merkte, daß der Vater unsicherer wurde. Sicher dachte er an seine eigene Jugend, und Hans zweifelte nicht daran, daß es. ihm gelingen werde, die Zustimmung des Alten zu erlangen. Er fing also an zu bohren. Der Vater hörte ihm schweigend zu.' Erst als sie im Bett lagen, bekam Hans Bescheid: «Es soll mir recht sein. Im April kannst du losziehen und wirst ja sehen, wie weit du kommst. Geht's schief, so weißt du, wo du hingehörst, bei mir hast du immer eine Stätte..." ..Du bist ein feiner Kerl", dachte Hans, aber er sagte es nicht laut; denn er kannte den Alten zu gut, um nicht zu wissen, wie schlagkräftig der solches Wohlwollen gewürdigt hätte.
Bevor es so weit war, mußte Hans noch einmal die Arbeit wechseln. Das kam so: Der Besitzer der Molkerei war ein sogenannter humaner Unternehmer. Er begnügte sich nicht damit, an seinen Ar- beitern Geld zu verdienen, er war auch um ihr sonstiges Wohl besorgt. So ließ er durch Fabrikbeamte einen Berein gründen, dessen Aufgabe darin bestand, gemütvolle Lieder vierstimmig zu singen und alljährlich auf einem Moltereifest ein Hoch auf den edelherzigen Gönner auszubringen. Damit noch nicht genug, erhielten alle Arbeiter zu Weihnachten ein Geschenk in Form eines sächsischen Christstollens  . Diese Stollen pflegten unter gewöhnlichen Verhältnissen einen Meter lang zu sein und neben anderen schmackhaften Zutaten eine Unmenge No- sinen zu enthalten. Bei der diesjährigen Beschenkung wurden diese Stollen zur Ursache einer Palastrevolution. Die alten Fahrer hatten schon vorher festgestellt, daß die Stollen von Jahr zu Jahr kleiner geworden waren und hatten mit Fug und Recht anzu- nehmen geglaubt, das vorjährige Format könne sich nickst mehr zuungunsten der Beschenkten verändern. Sie hatten sich ver» rechnet. Die Stollen waren nicht größer als eine Zeilensemmel, und alles rottete sich in der Kantine zusammen, um eine Probe- schlachtung vorzunehmen. Als festgestellt wurde, daß das ge- prüfte Exemplar trotz heftiger Durchwühlung nur eine einzige Rosine von bescheidenem Umfang abwarf, erscholl ein all- gemeines Hohngelächter. Hans versammelte sofort eine Anzahl beherzter Jungen? um sich, und sie zogen, das Gebäck demonstrativ in den Händen schwingend, zur Villa des Molkereibesitzers. Der mochte schon Lunte gerochen haben, als die Bande durch den Garten gezogen kam: denn die Haustür wurde auch nach mehrmaligem Ge- klingel nicht geöffnet. Da kam Hans ein Gedanke. Er hatte am Gartentor einen Kasten mit Handwerksgerät entdeckt, lief hin und kehrte mit einem Hammer und einem fünfzclligen Nagel zurück. Dann nahm er seinen Weihnachtsstollen und nagelte ihn mit hallenden Schlägen an die Haustür. Die Iungens hatten eine panische Freude daran und zogen ab. In die Molkerei zurückgekehrt, fand Hans schon seine Entlassungs- papiere vor, und die Verwaltung hing ein Schrsibeki an das schwarze Brett, worauf dem gesamten Personal kundgetan wurde, in künftigen Iahren werde der Renommierkuchen in- folge desunerhörten Vorfalls" nicht mehr ausgegeben werden. Undank ist der Welt Lohn. (Fortsetzung folgt.)