ne. 395 39.Jahrgang Ausgabe Bfr. 191
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Dienstag, den 22. August 1922
Stirbt Gesterreich?
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Die Rede, die Poincaré gestern in Bar- le- Duc gehalten hat, hat der Entente einen neuen Schlag versetzt. Man Heute vormittag fanden im Reichsfinanzministerium feiner Agrarier und Industriellen seufzt, für Desterreich eine wird fünftig damit rechnen müssen, daß die Entente ein Berhandlungen der einzelnen Refforts untereinander statt. Heute so überragende Rolle? Leidet nicht Italien wie Desterreich Kapitel ist, das der Vergangenheit angehört. Poincaré nachmittag werden die Beratungen mit Sir John Bradbury an demselben Grundübel, dem Mangel an Roh hält an seiner Gewaltpolitik fest, die Deutschland den öfterund Herrn Mauclère wieder aufgenommen werden. Der ständige stoffen, die Arbeit und damit Brot bringen? reichischen Berhältnissen zutreiben muß. England kann diese Berliner Vertreter der Reparationsfommiffion, Prof. Haguenin, Vereinigung mit Deutschland ? Desterreich fann gewiß Politit nicht mitmachen, die Mitteleuropa von Grund auf zerift von seinem Urlaub ebenfalls nach Berlin zurüdgefehrt. Wie die sein, daß wir uns glücklich schätzen würden, Deutschösterreich rüttet und damit die wirtschaftliche Gesundung unmöglich Dena erfährt, fieht man innerhalb der Reparationstommission die in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, und sicherlich würden macht. Damit trennen sich die Wege Englands und FrankDinge vorläufig nicht sehr optimistisch an. Bradbury und Lasten, gemeinsam getragen, weniger schwer sein. Aber reichs. Mauclère sind in der Beurteilung der Gesamtlage außerordentlich haben nicht einige deutsche Kommunalverwaltungen bereits Poincaré beklagt sich darüber, daß die Entente es seit dem zurückhaltend, doch fönnen sie natürlich ein endgültiges Urteil noch den Entschluß gefaßt, Studienkommissionen nach Wien zu April 1921 perabfäumt habe, zu einer regelrechten Feststellung nicht abgeben, da die eigentlichen Verhandlungen noch gar nicht be- schicken, um aus den dortigen Maßnahmen für die deutschen einer Berfehlung Deutschlands zu schreiten. Das gonnen haben. Städte, die dieselbe Katastrophenentwidlung ist der Angelpunkt seiner Politit. Er gebraucht diese Versehdurchmachen, zu lernen? Wir würden also gute Bundes- lung, um den Schein des Rechts für seine Gemalt genossen im Unglüd werden, ob mehr, ist die Frage. politik aufrechterhalten zu können. Einer ernsten Kritik Der österreichische Bundeskanzler Dr. Seipel hat in Wirtschaftlicher Anschluß an die Tschechoslowakei ? Sicher- hält seine Argumentation nicht stand. Von einer böswilligen Begleitung seines Finanzministers Segur eine Reise nach lich wäre es für Desterreich sehr wertvoll, aus den tschecho- Berfehlung Deutschlands könnte muur die Rede sein, wenn wir Brag, Berlin und Rom angetreten. Als Grund der Reise flowakischen Rohprodukten für die österreichische Industrie mit Zahlungen im Rückstande geblieben wären, die mir hätten wurden in einem amtlichen Communique Besprechungen über Hilfsmittel zu erlangen. Aber haben sich die Wege Deutsch - letsten fönnen. Das Londoner Zahlungsprogramm ging aber die mitteleuropäische Frage angegeben. Die österreichische österreichs und der Tschechoslowakei nicht soeben erst getrennt, weit über unsere Kraft. Das ist eine Tatsache, die heute nicht Breffe ist von dem Schritt des Ministerpräsidenten sehr über- sind von den 8 Millionen Einwohnern der nur von den anderen Allñerten, mit Einschluß Amerifas, sonrascht. Er erfolgte ohne Einvernehmen mit dem Parlament. Tschechoslowakei nicht bereits 3 millionen dern auch von Frankreich selbst anerkannt wird. Wenn es auch selbstverständlich ist, daß sich der österreichische Deutsche , und müßte ein weiterer Zulauf nicht nationale Poincaré war bereit, in London über eine Herabsetzung der Ministerpräsident mit den Regierungen der Tschechoslowatei, Befürchtungen in der Tschechoslowakei hervorrufen? deutschen Schuld im Rahmen eines interalliierten SchuldenDeutschlands und Italiens über die Frage des finanziellen Wenn Desterreich also jetzt vor einem Wendepunkt in seiner ausgleichs zu verhandeln. Es steht also fest, daß der Fehler Zusammenbruchs unterhalten wird, so ist man doch völlig im jungen Geschichte steht, so wird es von Fragen mancher Art nicht auf feiten Deutschlands , sondern auf feiten der Alliierungewissen darüber, welche politischen Absichten ihn zu den bedrängt. Wir unsererseits halten einen Anschluß an ten zu suchen ist. Bon Böswilligfeit fann nur auf der mitteleuropäischen Kabinetten führen. Dr. Seipel ist Ultra- Deutschland auch unter den heutigen Ulm - Seite gesprochen worden, die den Fehler erkannt, ohne ihm montaner und Gegner ber Anschlußbewegung an Deutschland . st än den für das natürlichste. Aber wir glauben nicht, daß Rechnung zu tragen. Obgleich er so programmatisch belastet ist, wäre es falsch, von es notwendig ist, das eine zu tun und das andere zu lassen, Der französische Ministerpräsident wagt nicht zu sagen, feinem bisherigen Brogramm bei den von Grund auf ver- wir würden es im Gegenteil für die glücklichste Lösung halten, daß der Buchstabe des Versailler Bertrages verletzt worden ist. änderten Verhältnissen auf seine jegige Haltung zu schließen. menn es Desterreich gelänge, sich das Wohlwollen und die tat- Gr, der sich immer auf den Buchstaben des Bertrages bezogen Daß die österreichischen Verhältnisse seit langem unhalt- fräftige Unterstützung der drei mitteleuropäischen Mächte in hat, beklagt sich heute darüber, daß der Geist des Vertrags, bar sind, ist bekannt. Wer das Tempo der österreichischen gleicher Weise zu erwerben und so ein neues vereinigendes ständig verlegt worden sei. Darin liegt eine bittere Wahrheit. Geldentwertung in den letzten Monaten verfolgen fonnte, Band um Mitteleuropa zu schlingen. Das wäre ein schöner Wenn der Geist des Bertrages der ist, Deutschland wirtschaftwußte, daß Desterreich dem Banterott nicht entgehen tann. Sieg wirtschaftlicher Einsicht, ein Schritt weiter auf dem Wege lich und politisch zu vernichten, dann hat Poincaré recht. Das Defterreich von heute ist auf auswärtige Sub- zur mitteleuropäischen Solidarität, das seine Derselbe forrette Poincaré, der an Buchstaben und Baraventionen angewiesen, die ihm in Form von Krediten wirtschaftlichen Zusammenhänge über politische Streitfragen graphen flebt, erklärt heute falten Herzens, daß er seine eigenur spärlich zuflossen und die Geldentwertung nicht aufhalten untergeordneter Natur stellte, und Desterreich könnte auf diese nen Wege gehen werde, obgleich ein rechtlicher Verstoß gegen fonnten. In den meisten Fällen blieb es bei vagen Ver- Weise gerade in seiner Mot einen guten Sieg erringen, den den Versailler Vertrag von irgendeiner Seite nicht vorliegt; sprechungen. Der große Kredit feitens des Bölfer ihm niemand neiden wird, dem es ernst mit dem Wieder er erklärt, daß er den Boden des Versailler Vertrages verbundes, der zu der Neuregelung der Finanzen führen aufbau Europas ist. laffen werde, weil ihm die Majoritätsverhältnisse follte, blieb aus. Als der Oberste Rat in London über den innerhalb der Reparationsfommission heute nicht bedenklichen Verlauf der Marktrise fonferierte, traf ein letzter mehr paffen. Auch darin liegt eine bittere Wahrheit. In Hilferuf aus Defterreich ein. Er wurde Er wurde typisch für die dieser Drohung liegt das Zugeständnis, daß der Versailler ausweichende Politit, die der Siegerfonzern den Berfalls Bertrag nach dem Willen eines feiner Hauptbildner alles momenten Europas gegenüber treibt dem Bölferbund über andere als ein Instrument der Gerechtigkeit und der Vernunft wiesen, der in dieser Frage bisher völlig versagt hat. Da also sein sollte. Macht Poincaré feine Drohung wahr, so eristiert non der Entente feine Unterstügung zu erwarten ist, sieht sich der Vertrag von Versailles nicht mehr. Desterreich genötigt, sich nach anderer Hilfe umzusehen.
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Prag , 21. August. ( WTB.) Heute früh um 8 Uhr 5 Min. ist der österreichische Bundeskanzler Dr. Seipel in Begleitung des Finanzministers Segur hier eingetroffen. Die Verhandlungen zwischen dem österreichischen Bundeskanzler Dr. Eeipel und dem ministerpräsidenten Dr. Benesch haben um 10 Uhr im Minister präsidium begonnen. Um 12 Uhr wurde Dr. Seipel vom Präsidenten der Republik empfangen.
Gin Sondervorgehen macht Poincaré von der Frage der Als die Anschlußbewegung an Deutschland Prag , 22. Auguft.( Tschechoslowakisches Breffcbureau.) Die Pfänder abhängig. Er betont vor allem, daß Frankreich die zum erstenmal in Desterreich machtvoll emporflammte, trat ihr Besprechungen des österreichischen Bundeskanzlers Dr. Staatsbergwerte im Ruhrgebiet und die sta a t- die bürgerliche Regierung Desterreichs mit der Warnung ent- Seipel mit dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Dr. Be- lichen Wälder als Pfänder betrachte. Ist das so, dann gegen, durch derartige Bestrebungen, die mit den Friedens- nesch haben gestern im Ministerratspräsidium den ganzen Tag mit wird eine Berständigung über diese Frage kaum möglich sein. verträgen nicht in Einklang ständen, die Kredithilfe der En einer furzen Mittagspause gedauert. Nun hat Poincaré freilich hinzugeligt, daß ihm im 2 ugen= tente nicht ungünstig zu beeinflussen. Da an diese Kredithilfe blic nichts weiter übrig bliebe, und daß er feineswegs die Rach längerer Aussprache, an der sich namentlich auch die beiden Absicht habe, sich diese Pfänder dauernd anzueignen. Aber heute faum mehr zu denken ist, hat die Anschlußfrage ein anderes Gesicht bekommen. Eine andere Frage ist es aller- Finanzminister beteiligten, fam Ministerpräsident Dr. Benesch zu das sind Worte, auf die sich die deutsche Zukunft nicht aufdings, was die einzelnen Mächte zu einem Anschluß an dem Schluß, daß die Arbeit des Bölkerbundes feineswegs bauen läßt. Auch die Santtionen auf dem rechten Rheinufer Deutschland sagen würden. Mit dem Widerstand Frank- unterschäßt werden dürfe und daß man unbedingt diesen legten Beg waren nur als vorübergehende Maßnahmen gedacht. Frankversuchen müsse, um so mehr, als er bestimmt wisse, daß sich bereich hat es bis auf den heutigen Tag verabsäumt, zu sagen, reichs fann man ohne weiteres rechnen. Auch die Tschechoslowakei und Italien sind nicht sehr für sonders gewiffe Mächte für diese Frage einsehen werden. Einen wann die Frist abgelaufen sein wird. Würde es mit den proden Plan eingenommen. Die Tschechoslowakei sähe es nicht anderen Weg dürfe Dr. Benesch nicht einschlagen, da das mittel- buktiven Pfändern anders sein? Solange die phantastischen gern, auf diese Weise in die umflammerung reichsdeutschen europäische Problem nicht durch Experimente und im Augenblic, Reparationsforderungen auf uns laften, wird Frankreich jeden Gebietes zu gelangen und von dem italienischen Außenminister sondern methodisch und schrittweise gelöst werden könne. Augenblick von neuem Gelegenheit haben, auf Grund von Echanzer weiß man, daß er in London den Blan einer ein- Zum Schluß wurden einige zwischen der tschechoslowakischen Re- Zahlungsschwierigkeiten zu Sanktionen und Pfändern zu heitlichen Zollgrenze mit Deutschösterreich ventiliert hat. publik und Desterreich schwebende praktische Fragen finanzieller und schreiten. Bon dieser Seite ist also an die Frage nicht heranAndererseits hat Deutschland ein sehr lebendiges wirtschaftlicher Natur behandelt und die Art und Weise einer mög- zufommen. Interesse daran, nicht von neuem ein ganzes Bolt Stammes- lichen fünftigen engeren wirtschaftlichen Zusam brüder in fremdsprachige Berbannung gehen zu sehen. Auch menarbeit erörtert. Endlich wurden die Modalitäten perein wer fein Irredentanationalist ist, fann nur mit Grauen daran bart, die zu einer rascheren Flüssigmachung der noch ausstehender denken, daß sich der Gürtel der Auslandsdeutschen weiter um Rate des tschechoslowakischen Kredits in der von Desterreich so drinDeutschland schließen und den allgemeinen Unruheherd ver- gend benötigten Atempause führen werden. größern soll.
In der französischen Presse machten sich vor dem Zufammentritt der Londoner Konferenz Stimmen einer erfreulichen Einsicht bemerkbar, in denen anerkannt wurde, daß das Reparationsproblem nur im Zusammenhang mit dem interalliierten Schuldenproblem zu lösen sei. Man wußte, daß die Wien, 22. Auguft.( WTB.) Bei einem Breffeempfang in Brag franzöfifche Regierung selbst derartigen Gedankengängen nicht Aber fragen wir einmal, was ein Desterreich, das nicht erklärte Bundeskanzler Seipel, wie die Blätter melden, auf die fernstand. Boincaré hat in feiner gestrigen Rede diefe Erörteim Elend ertrinfen will, gebraucht, um leben zu können. Frage, wie es sich mit einer eventuellen Angliederung Oesterreichs rungen furz abgebrochen. Er sagte, die deutsche WiedergutWir haben es ja zur Genüge am eigenen Leibe zu spüren be- an Deutschland verhalte: Wenn von der Anlehnung an ein machung sei eine Angelegenheit, die mit den Schulden der fommen, was es heißt, wenn über der Politik die wirt fremdes Reich die Rede ist, ist es natürlich, daß Deutsch- Alliierten nicht in Zusammenhang gebracht werden dürfe. fchaftlichen Notwendigkeiten vergessen werden. land zuerst in Frage tommt und im Hintergrunde die Das ist vom Standpunkt eines Boincaré, der ein größeres Bollunion mit Italien? Sehr gut. Es ist immer von Frage des Anschlusses steht. Man könnte ja auch den Anschluß Gewicht auf die Pfänder im rheinisch- westfälischen Ruhrrevier Borteil, wenn sich die Völker ihre Auslandwaren nicht unnüz legal durch Ansuchen beim Böllerbunde erzielen. Ob dies rasch ge- legt als auf eine vernünftige Regelung des Reparationsdurch künstliche Schranfen verteuern. Aber spielt eine Ein- fchehen würde, das ist nicht abzusehen, viel wird davon abhängen, prablems, tonfequent. Es ist ein Unding, zu gleicher Zeit fuhr aus Italien, das selbst unter der sündhaften Preispolitik wie unsere Reise ausfällt. mit Deutschland und den Alliierten zu einem friedlichen
Genofsinnen und Genossen! Besucht die heutigen Protestversammlungen!