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flc. 412 ❖ Z9. Jahrgang
Heilage des vorwärts
Freitag. 1. SeptemberlH22
Segen Teuerung unö Wucher. Ein Antrag beider sozialdemokratischen Fraktionen im Rathaus.
Die Stadtverordnetenversammlung trat gestern, am letzten Tage ihrer Sommerfericn, nach einer Pause von sechs Wochen wieder zu einer Sitzung zusammen, die formell noch Feriensitzung war. Auf der Tagesordnung stand nichts von all den Resten, die bei Ferienbeginn liegen geblieben waren, son- dern nur neue und eilige Sachen. Die anfangs nur schwach besuchte Sitzung wurde vom Dorsteher Dr. Caspari mit einem Nachruf auf den verstorbenen früheren Stadtv. M o m ms e n eröffnet. Der Vorsteher gedachte auch des Stadtbaurats Ludw. choffmann, der in den Ferien sein 7v. Lebensjahr vollendet hat. Zugegangen ist dem Vorsteher ein Exemplar der„Roten Fahne" vom 9. August, in der die im Dezember vorigen Jahres gegen den Neu- k ö l l n e r Bürgermeister Scholz und den dortigen Stadtrat Radtke erhobenen Vorwürfe wegen des Verkaufs von Bornsdorf zurückgenommen werden. Außer der Tagesordnung lagen ein paar Dringlichkeitsanträge vor, die sich auf die neueste Verschärfung der Lebensmittelteuerung beziehen. Für die beiden sozialdemokratischen Frak- t i o n e n beantragten Dr. W e y l und C z e m i n s k i: Die Skadkverordneienversammlung wolle beschließen, den Magistrat zu ersuchen, mit größter Beschleunigung für eine aus- reichende Sicher st ellung der notwendig st en Lebensmittel. Kartofseln. Brot. Fleisch. Zucker. Fette und Milch, sowie der Brennmaterialien Sorge zu tragen. Die sprunghaften, willkürlichen Preiserhöhungen für die Nahrungsmittel und notwendigsten Bedarfsgegenstände haben Formen angenommen, die nur als glatter Wucher bezeichnet werden können, da die Herstellungskosten in keinem Berhältnis zu den fetzigen Preisen der Ware stehen. Der Magistrat möge daher bei der Reichsregierung dahin wirken, daß die von den Land- wirten nachträglich geforderte Erhöhung der Ge- t r ei dep reife, als im Widerspruch zu dem Umlagegeseh stehend, unterbleibt und daß alle Maßnahmen zur wirksamen Be- kämpfung des Wuchers von Erzeugern und händ- lern ergriffen werden. Der Magistrat wird serner ersucht, bei der Reichsregierung erhöhte Mittel für alle Arten der Rentner und sonstigen Unter st ützungsempfänger zu beantragen. Die Versammlung ist weiter der Auffassung, daß der Magistrat vor- bereitende Maßnahmen treffen muh. um der mit Sicherheit zu erwartenden großen Arbeitslosigkeit zu begegnen. Don einem Antrag der K o m m u n i st e n, der Maßnahmen gegen die Teuerung forderte, war bei der Verlesung durch den Vor- steher aus der Pressetribüne wenig zu hören. Oberbürgermeister Böß bat, die Beratung der Anträge bis zur nächsten Sitzung zu vertagen. Der Magistrat habe sich mit der Frage, welche Maßnahmen zur Lebensmittetbeschasfung und zur Wucherbekämpfung zu treffen seien, selbstverständlich schon be- schäftigt..heute könne er sich aber zu den Anträgen noch nicht äußern. Besprechungen haben bereits im Vorstand des Deutschen Städtetagcs stattgefunden, auch hat der Magistrat sich mit dem Reichsernährungsminister in Verbindung gesetzt. Erst am Freitag und Sonnabend wird er seine Beratungen zu Ende führen können und Beschlüsie fassen. Stadtv. Dörr(Komm.) widersprach der Vertagung. Stadtv. Dr. Hertz(U. Soz.) empfahl, der Anregung des Oberbürgermeisters zu folgen, weil nach dessen Erklärung heute eine fruchtbar« Erörterung doch nicht möglich sei. Gegen die Stimmen nur der Kommunisten wurde die Vertagung be- schlössen. Ein dringlicher Antrag der Unabhängigen, der für die Arbeiter der Blindenanstalt höheren Lohn fordert, wurde einem Aus- schuß überwiesen.. � �... Bei einer Anfrage der Kommunisten, ob der Magistrat veran- lassen will, daß städtische Beamte und Angestellte im Dienst das Hakenkreuz nicht tragen dürfen, kam es zu einigem Lärm. Stadtv. Venus(Komm.) brachte einen be- stimmten Fall zur Sprache und nannte dabei das Hakenkreuz ein Mörderabzeichen. Darüber tobte die Rechte. Bürgermeister Ritter erklärt«, es könne nicht gebilligt werden, daß Beamie
und Angestellte mit Abzeichen, die eine bestimmte politische Gesin- nung bekunden, in die Amtsräume kommen. Aber das gelte na- türlich für alle Parteien. Der Magistrat werde den besprochenen Fall untersuchen, wenn ihm die Antragsteller das Beweismaterial liefern wollen. Zu den Kosten der Hilfsmaßnahmen für n o t l e i- dende Kleinrentner wurden als weiterer Beitrag der Stadt, den sie zu leisten hat, 4'/io Millionen Mark bewilligt. lieber die vom Magistrat beantragte Steuer auf Benutzung nicht öffentlich aufgestellter Mietkrastwagen wird zunächst der Haushaltsausschuß beraten. Magistratstarifkommission und Stadtverordnetenausschuß haben über die Umorganisation und den Ersatz der bisherigen Tarifdepu- tation beraten, um eine Beschleunigung von Lohnlarifvcrhandlungen zu erreichen. Die aus den Beratungen hervorgegangenen Richt- linien über ein engeres Zusammenarbeiten des Magistrats mit den Stadtverordneten wurde jetzt zur Beschlußfassung vorgelegt. Die Stadtverordnetenversammlung soll einen ständigen Tarifver- trgasausschuß wählen, der dem Magistrat die Meinung der Stadtverordneten über die Vertragsabschlüsse unterbreitet. Der Ausschuß soll das Ergebnis der Verhandlungen des Magistrats mit den Arbeitnehmern vor einem Magistratsbeschluß erfahren und nötigenfalls zu diesen Verhandlungen hinzugezogen werden. Für die sozialdemokratische Fraktion erklärte Genosse haß das Einver- ständnis mit den Richtlinien. Er beantragte, den Ausschuß aus 1b Mitglieder zu bemessen. Der Unabhängige A m b e r g forderte Abänderung der Richtlinien dahin, daß der Tarifvertragsausschuß st e t s an den Verhandlungen der Magistratstarifkommission mit den Arbeitnehmern teilnimmt und daß die Betriebsröte hinzu- gezogen werden. Ein Antrag der Kommunisten lief darauf hinaus, die Tarifdeputation in alter Zusammensetzung wiederherzustellen. Die Deutsche Volkspartei beantragte Bemessung des Ausschusses auf 17 Mitglieder. Der 17. Mann würde nämlich den Fraktionen der Rechten«in Ueberqewicht sichern. Die zweite Lesung wurde vertagt. Eine lange Reihe minder wichtiger Vorlagen fand Annahme ohne Debatte. Ueber eine vom Magistrat vorgelegte neue Wert- z u w a ch s st e u e r o rd nu n g, die bei Grundstücksverkäufen den Geldwertunterschied zwischen Erwerbs- und Veräußerungspreis be- rücksichtigen soll, soweit der Veräußerer selber mit Kapital an dem stüheren Erwerbspreis beteiligt ist, wird im Ausschuß beraten. Zu- gesichert wurde der Regelung der Bezüge nicht st ändig An- aestellter ab 1. Juli. Die Vorlage auf Erhöhung der Wohnungsbauabgabe ging an einen Ausschuß. Auch ein Antrag der Kommunisten, den Armen dieselbe Unter- stützung wie den Erwerbslosen zu geben, wurde einem Ausschuß überwiesen.___ Zliegenöe Papiersammler. Wer erinnert sich nicht der Aermsten— Männlein und Weiblein—, die mit einem großen Sack auf dem Rücken und einem eiscnbespitzten Stock in der Hand von Haus zu Haus zogen und aus den übelduftenden Müllkästen allerlei„Kostbarkeiten" heraus- stocherten, um sie in einem Produktenkeller für wenige Groschen zu verkaufen.„Naturforscher" hießen sie im Volksmund, und heute sieht man sie kaum noch. Dafür bevölkern jetzt meist junge Burschen und auch Kinder die Straßen— auch mit Säcken auf dem Rücken, aber ohne den Stock. Sie sammeln emsig und flink das Papier auf der Straße, die weggeworfene Zeitung des raschen Geschäfts- mannes, das„Stullenpapier" der Leute, die unterwegs essen, weil sie sonst keine Zeit haben, und die Obsttüten, wenn sie von ihrem Inhalt geleert sind, hundert und mehr Mark nimmt solch ein fleißiger Sammler pro Tag ein, denn das Papier ist teuer und fein Preis klettert fast von Tag zu Tag. Wie kostbar dieses Material heutzutage ist, beweisen nicht nur die hohen Zeitungspreise, sondern auch die Tatsache, daß z. B. das Abfallpapier an den. Anschlag- säulen regelrecht an eine Firma verpachtet ist, die dafür an das Litfaß-Säulen-Unternehmen noch ein stattliches Sümmchen zu zahlen hat, nun aber auch allein das Recht auf die Entfernung des Abfallpapiers besitzt. Mancher fliegende Papiersammler hat sich.
verleiten lassen, auch hier einmal zuzugreifen und mußte dann er- fahren, daß das Auge des Gesetzes wacht und die. Polizei ihn am Kragen nahm. Darum: Hände weg von den Anschlagsäulen! Für die Säuberung der Straßen von den häßlichen Papierfetzen sind euch alle dankbar und die städtischen Straßcnreiniger nicht böse!
Klies wirü teurer. Elettrizikäf, Bolksspeisung und— Bedürfnisanslalleic. Die Gemeindebehörden haben im Versorgungsgebiet s ä m t- licher Elektrizitätswerke der neuen Stadtgemeinde Berlin , also der ehemaligen Berliner , Charlottenburger, Lichtenbcrger, Neu- köllner, Köpenicker , Steglitzer , Spandauer , Zehlendorfer , Lichter- felder, Pankower , Weißenseer , Friedenauer und Tegeler Elektri- zitätswcrke, die Elektrizitätstarife mit Wirkung der im September erfolgenden Zählerablesung ab wie folgt festgesetzt: E i n h e i t s- t a r i f für Wohnungen, Werkstätten und hausbe- l e u ch t u n g(Treppen, Keller usw.) Strompreis 12 M. für die Kilowattstunde Bodenflächengebühr 0,50 M. monatlich je Quadratmeter. Pauschaltarif: Leistung in Watt. � 60 80 � 100 140 200 250 300 Jahresgebühr in Mark. 561 750 936 1 308 1863 2337'2802 Besonderer L i ch t t a r i f: 16 M. für die Kilowattstunde. B e- sonderer Tarif für B e t r i e b s k r a s t und gewerb- liche Zwecke: 12 M. für die Kilowattstunde. Der Magistrat hat durch Beschluß vom 30. August den Preis einer Portion Mittagessen aus der städtischen Volks- speisung anderweit auf 12 M. sestgefetzt. Die Erhöhung tritt vom 4. September ab in Kraft. Von diesem Tage ab kostet demnach eine ganze Portion 12 M., eine halbe Portion 6M. Minder» bemittelte sowie bedürftige Kriegsbeschädigte und Kriegerhinterbliebene erhalten das Essen zum Preise von 6 M. für die ganze Portion, 3 M. für die halbe Portion gegen Abgabe einer Marke der eingeführten Ausweiskarte zur Erlangung verbilligten Essens. Die Ausweiskarten werden von den Wohlfahrtsverwal- tungen ausgegeben. Der Magistrat hat ferner beschlossen, die Gebühren für die Be- Nutzung der Bedürfnisanstalten in der 1. Klasse auf 3 M., 2. Klasse für Männer auf 1,50 M.. 2. Klasie für Frauen aus 1 M. und den Nachtzuschlag aus 1 M. zu erhöhen. Doch noch ein Wohlläler der Menschheii. Ständig bezeichnet man die Kleinkrämer als diejenigen, die mithelfen, die Waren bis ins Ungemessene zu verteuern. Daß aber doch noch ein weißer Rabe sich unter den Kaufleuten befindet, be- weist folgender Aushang im Schaufenster des Feinkosthändlers Scheunemann, Neukölln, Kaifer-Friedrich-Str. 60: Zur Beachtung! Ein Pfund Margarine kostet im Einlaus 240 M. und verkaufe pro Pfund mit 170 M. Um die neue Ware einzukaufen, zahlen wir heute noch 70 M. zu zu den jetzigen Einkaufspreisen. Dabei muß bemerkt werden, daß der hohe Einkaufspreis von 240 M. pro Pfund nur etwa 24 Stunden hindurch in Wirkung blieb. Der Brave hat also zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt eingekauft, und wenn er gewartet hätte, so wäre er vor Schaden bewahrt ge- blieben. Der Toü beim Sett. Wieder die Revolverspielerei. Der tragische Ausgang einer fidelen Weinreise, die die Artistin und Kunstradfahrerin Lillh Hankel mit ihrem Freunde, einem Kauf- mann Stanichcck. sowie noch einem Herrn und einer Freundin intter- nahm, fand gestern ihr gerichtliches Nachsviel vor der Feriensiraf- kammer des Landgerichts L EineS Abends nach ihrem Auftreten besuchte die Angeklagte Hankel mit ihren Bekannten die Nachtlokale der Friedlichstadt, man war in bester Stimmung und landete schließ- lich in der.Zauberflöte", wo reichlich dem Sek: zu- gesprochen wurde. In animiertem Zustande kam es zu einem kleinen Streit zwischen der Hankel und ihrem Freund, in dessen Verlauf St. aus der Tasche seinen Revolver zog, und im Scherz aus die Angeklagte anlegte mit den Worten:.Ich möchte dich am liebsten totschießen. Hierbei muß St. verschenlliÄ die Sicherung des Revolvers ausgelöst haben, denn wenige Minuten später, als er gerade die Gläser von neuem füllte, krachte ein Schuß und Stanscheck sank tot zu Boden. Die Angeklagte hatte ihm nämlich den Revolver, den er wieder in die Taiche gesteckt hatte, herausgenommen und ebenfalls im Scherz auf ihn angelegt. Geh. Medizinalrat Dr. Hoffmann hatte als Todesursache eine Zerreißung -der Leber festgestellt. In seinem Plädoyer führte Staatsanwalt«
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Der Sprung in die Welt. Ein Jungarbeikerroman von Artur Zickler . Es wurde aber nichts aus der Landstraße. In dem Richen Arbeiterblatt, das feine Arbeiten abdruckte, fand Hans e Ankündigung einer Versammlung, deren Thema ihn inter- sierte. Ein Gewerkschaftsführer sollte über„Den wandern- :n Arbeiter einst und jetzt" sprechen. Hans verschob� feine breise aus den nächsten Morgen und fand sich zur festge- tzten Stunde im Volkshause ein. Die Versammlung war in einigen hundert Arbeitern besucht. Der Redner machte gf Hans einen guten Eindruck, er hatte ein schmales und uges Gesicht, eine etwas matte, aber eindringliche Stimme nd sichere, beherrschte Gcstem In seiner Rede zeichnete er lerst das Bild des reisenden Handwerkers vor der Industrie- !it. der den Satzungen der Zunft gemäß zwischen die Lehr- nd Gesellenzeit ein Wonderjahr einschob, um sich in seinem andwerk zu vervollkommnen. Diese wandernden Zunft- -seilen glichen nicht den Proletariern von heute, auch den ge- rnten nicht, sondern waren Leute von Stand und eigenen bürden, wohl geduldet und gelitten. Heute sind es die charen der Arbeitslosen, die Opfer der Riederkonjunkturkrilen. e das Gros der Landfahrer stellen, nur ein Rest der alten ittcn und Gebräuche zeugt von dem, was einmal war. Die aterste Schicht des wandernden Proletariats stellt das Va- ibundentum dar. dem die Landstraße zur endgültigen Heimat -worden ist. ruhelose Gesellen, die der Hunger von Ort zu rt treibt, denen die Landgendarme auflauern, um sie den rbeitshäusern auszuliefern. Das Elend der Landstraße ist n Teil des Elends der Besitzlosen ül�rbaupt? die Stunde, e der„Ordnung", der Ausbeulung ein Ende bereitet, wird ach dem wandernden Arbeitervolk die Stunde der Erlösung >n ihrer erzwungenen Wanderschaft bedeuten! In der Aussprache meldete sich auch Hans zum Wort. „Liebe Kollegen!" begann er— da sah er plötzlich die underte auf ihn gerichteter Augen und hatte alles vergessen. .äs er sagen wallte. Eine kurze Pause entstand. Dann gab ch Hans einen Ruck. „Liebe Kollegen, an dem, was der Redner gesagt hat, ibe ich wenig auszusetzen. Es mag wohl im großen und
ganzen stimmen. Vielleicht denkt Ihr verwundert, was der junge Dachs schon wissen könne. Aber ich bin in langer Fahrt vom Norden Deutschlands nach dem Süden gewandert und habe mancherlei erlebt. Ich denke also, daß ich dem, was der Redner gesagt hat, etwas hinzufügen darf. Ich habe nämlich gefunden, daß die Landstraßenleute ein besonderes Volk sind und daß es nicht immer nur die wirtschaftliche Not ist, die sie das Wandern lehrt, sondern, wenn man so sagen darf, ihre Natur. Ein jeder Mensch hat etwas, was er besonders liebt, seinen Acker, seinen Garten, seine Familie oder seinen Beruf. Nun habe ich den Eindruck, daß die Landstreicher das alles auch nicht verachten, die anderen, die das haben, sogar darum beneiden— aber über alles lieben sie die Freiheit und die Wanderschaft. Gewiß, das müssen sie bitter büßen, doch sie nehmen es mit in den Kauf zu hungern, zu frieren und ver- folgt zu werden, um ihrer Natur treu zu bleiben. Daß viele von den Menschen, die heute die Landstraße bevölkern, froh wäre-n, wenn sie in die schöne Ordnung einer freien Gesell- schaft einmünden könnten, glaube ich ohne weiteres, aber eben so fest bin ich überzeugt, daß sich ebenso viel dafür bedanken würden. Wenn ich ehrlich sein soll, muß ich bekennen, daß ich unter den Landstreichern genug Leute gesehen habe, die angenehmer und edler waren als die meisten der ordentlich lebenden Bürger. Es ist recht und gut. daß man die Welt ordnen will. Besonders die Dinge müssen gerecht geordnet werden, aber der Mensch wird sich nur bis zu einem gewissen Grade„ordnen" lassen: denn jeder Mensch ist anders. Der Redner hat das Wort Erlösung gebraucht. Ich will nicht be- haupten, daß er das Wort nicht richtig versteht, aber es wird viel mißverstanden. Erlösung heißt Lösung des Menschen aus dem Zwange, uGd die Landstreicher sind in dauernder Flucht vor dem Zwange der ungerechten bürgerlichen Gesellschaft. Doch ich fürchte, daß sick' ein großer Teil von ihnen auch dem Zwange einer wirtschaftlich gerechten Gesellschaft gleichfalls entziehen wird. Ich sehe, daß der Hauptredner die Achseln zuckt, was für mich bedeutet, daß er mir recht gibt: der Mensch ist eine unbekannte Größe, darum wird sich eine Ordnung, die ihn einbezieht, ihn also glücklich machen will, nie errechnen lassen. Ordnung und Freiheit sind Feinde. Vielleicht gibt es einmal einen gescheiten 2lusgl?ich, bei dem ein gewisses Maß von Freiheit garantiert und umgekehrt— ober man wird mit Außenseitern rechneu und sie dulden müssen. Da die„ordent-
lichen" Menschen in der Mehrheit sind, so werden die ande- ren nicht gefährlich werden, doch dürfen, was wahrscheinlicher ist, die Ordnungsmertschen auch den anderen nicht gefährlich werden: denn vor Gott sind alle gleich..." In der Versammlung lachte jemand. Hans wurde rot im Gesicht und trat ab. Die Versammlung hatte seine Rede ruhig mit angehört, aber der Beifall blieb vereinzelt. Thomas Weftmann, der Hauptredner, erklärte im Schlußwort, das, was Hans ausgeführt habe, sei wohl des Nachdenkens wert. Als Hans dem Ausgange zustrebte, faßte ihn Thomas West- mann an der Schulter. „Wir hocken uns noch ein Weilchen zusammen, Genosse Onfreder..." Sie suchten in der Wirtsswbe des Volkshauses eine stille Ecke. Westmann wollte viel von Hans wissen, er ließ sich auch die gedruckten Arbeiten zeigen.„Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Onfreder, nicht nur, weil ich Ge» fallen an dir gefunden habe, sondern auch um deinetwillen. Ich halte nämlich dafür, daß du wieder einmal festen Boden unter den Füßen erhalten mußt. Darum schlage ich dir vor, mit mir nach München zu fahren, wo es mir ein leichtes ist, eine angenehme Arbeit für dich zu verschaffen. Du wirst dort auch einen Kreis von Menschen treffen, in dem du dich wohl fühlst. Hast du Lust" Hans schlug ein. Hans war überascht, wie heimatlich ihn die Stadt an- mutete, die er doch noch nie gesehen hatte. Ein müder Herbst- nachmittag vergoldete die Kuppeln der Frauenkirche . Unter den Brücken schoß das weißblaue Wasser der Isar dahin, braun, gelb und rot leuchteten die Bäume. Ein sonderbares Klingen war in der Luft, gemischt aus dem Singen des Windes, dem Gefall des Gebirgswossers und einer Fröhlichkeit, die allenthalben in dieser Stadt schwang. Aus den. Beckereien schlug der Geruch gewürzten Brotes, aus den Gast- stätten der des Bieres, dazwischen der Duft des sterbenden Laubes— dazu die derben Laute des Dialekts, die ehrbare Dämmerung alter Bürgerstraßen: man sog die Stadt mit allen Sinnen ein. Draußen, im Vorgelände,'wo das Rauschen der Isar am stärksten vernehmbar ist, wohnte Thomas West- mann. Er winkte zu einem Balkon hinauf, mo zwischen Bohnengerank seine junge Frau mit dem Kinde saß. (Fortsetzung folgt.)