schmelzen der bisherigen sozialistischen Mehrheik erwarten. So schreibt die„Äreuzzeitung": Die thüringischen Gemeinde- und Kreistagswahlen be- weisen ja ebenfalls, daß die Kommunisten auf Kosten der So- zialdemokratischen Partei Fortschritte machen, während die Gesamtzahl der Stimmen der drei radikalen Linksparteien stark zurückgeht. Hier können die Kommunisten einmal schwarz auf weiß lesen, wie der Thüringer „Sieg", auf den sie so stolz sind, von den Reaktionären gewertet wird. Die„Rote Fahne " be- rauscht sich an den 2S Proz. Stimmenzuwachs, die angeblich die KPD. in Thüringen erworben hat. Das klingt nicht viel, aber für eine kleine Minderheitspartei bedeutet schon ein absolut kleiner Stimmengewinn von wenigen tausend Stimmen eine hohe Prozentzahl. Wenn man den heftigsten und skrupellosesten Kampf innerhalb der sozialistischen den- kenden Arbeiterschaft entfesselt, wenn man die Rot der Zeit lediglich agitatorisch ausnützt, so ist es kein großes Kunst- stück, ein paar tausend Stimmen zu sich herüberzuziehen. Daß aber solche Taktik die doppelte und dreifache Wähler- zahl in das bürgerliche Lager hinübertreibt, ist die Kehr- feite derartiger„Siege", wie wir das nun schon ein paar dutzend Male erlebt haben. Kein Wunder, daß die Reaktion an solchen Vorgängen ihre helle Freude hat und auf den Kampf der Kommunisten gegen die sozialistischen Parteien alle Hoffnung fetzt. In Thüringen wollen jetzt die Bürgerlichen ähnlich wie in Sachsen durch Volksentscheid Landtagsneuwahlen erzwingen, dabei spekulieren sie natürlich auf die t o m m u- n i sti s che Hilfe, die ihnen in Sachsen eben erst so wunderbare Dienste getan hat. Schon sieht die„Kreuz- zcitung" im Geiste nach der sozialistischen Mehrheit in Braun- schweig auch die in Sachsen und Thüringen beseitigt und da- mit den verhaßten roten Block der mitteldeutschen Staaten zerstört. Und die„Rote Fahne?" Wenn man ihre täglichen Aus- führungen verfolgt, so erhält man den sicheren Eindruck, daß das Ziel der Kommuni st en das gleiche ist. Weil sich ja schließlich auch durch die geschickteste Sophistik nicht leugnen läßt, daß der Enderfolg der kommunistischen Taktik die Schwächung der Arbeiterfront, die Stärkung der Reaktion ist, so wird dieses Resultat nicht etwa bedauert, sondern m i t höhnischer Freude gebucht. Für einen kommunisti- schen Phrasendrescher ist ja nichts leichter als die Vehaup- tung, es sei ganz gleichgültig, ob ein Land eine sozialistische oder eine bürgerlich-reaktionäre Mehrheit habe. Man hat den Eindruck, als lechzten die Kommunisten förmlich danach, mög- lichst schnell der Reaktion in Sachsen und Thüringen in den Sattel zu helfen. Vielleicht hofft man dann noch ein paar tausend Stimmen zu gewinnen. Vielleicht gehen aber dann — freilich zu spät— den Arbeitern die Augen auf, wohin sie von den Kommunisten geführt worden sind.
em„Erfolg". Die„Rote Fahne ", deren Wahrheitsliebe nachgerade perverse Formen annimmt, sucht die gestrigen Teucrungsversammlungen als großen kommunistischen Erfolg auszuposaunen. Darüber wird nie- mand verwunderter sein als ihre eigenen Anhänger, soweit sie die Versammlungen besucht haben. Obwohl die Kommunisten keinerlei Mühe und Mittel scheuen, die Versammlungen zu sprengen, ist ihnen das nur bei einer einzigen von insgesamt 19 Versammlungen ge- glückt, und zwar in Moabit , wo ihr« Anhänger mit den Mitteln rohe st er Gewalttätigkeit arbeiteten und in Ermangelung geistiger Argumente das F a u st r e ch t proklamierten. Von diesem Verhalten, das einen traurigen Tiefstand kennzeichnet, ist die„Rote Fahne " allerdings äußerst entzückt und sie berichtet schmunzelnd, daß der Einberufer„feige geflohen" sei. In Wirklichkeit ist die Vcrsammlungsleitunug von den kommunistischen Raudys miß- handelt und blutig geschlagen worden. Daß die„Rote Fahne " solche Methoden billigt und lobt, wundert uns nicht, charaktert. si«rt aber den Geist der KPD . Von dieser Ausnahme abgesehen, haben jedoch die Versammlungen einen durchaus günstigen, ja glänzenden Verlauf für die einberufende»
sozialistischen Parteien genommen. Die kommunistischen Stürstu friede konnten überall zur Ruhe gewiesen werden, und nur auf ihre geistigen Argumente angewiesen, sielen die bekannten kommunisti- schen Rednerschüler kläglich durch. Der Beifall war durchweg auf der Seite der Referenten und es bestand daher gar keine Ursache, den Kommunisten� wie die„Rote Fahne " weiter lügt, die Diskussion zu verweigern._
Honorar vom»Erbfemö". Wilhelm verkauft seine Memoiren au Frankreich . Die„Agentur Radio", das offiziöse französische Nachrichten- bureau, teilt mit, daß sie die Memoiren Wilhelms für Frankreich und die Kolonien erworben habe. Mehrere Pariser Acitungen, darunter„Matin",„Petit Parisien ", „Petit Journal",„Echo de Paris",„Journal" u. a. künden an, daß die Memoiren in ihren Spalten veröffentlicht werden. Es geht nichts über monarchische Gesinnungstüchtigkeit. Hinden- bürg hat jüngst berichtet, er habe am 9. November deswegen dem Kaiser zur Flucht geraten, damit die„Schmach" vermieden würde, daß der deutsche Kaiser kämpfend den Feinden in die Hände fiele. Daß die Memoiren dieses Kaisers von der Boulevard-Hetz- presse für ihr Publikum als Sensationsleckerbissen angekauft werden und daß der deutsche ehemalige Kaiser dafür Honorar in franzö- sischer Valuta bekommt, erscheint den teutschen Mannen dagegen nicht als Schmach. Aber freilich— Hindenburg und Ludendorff haben ja auch schon den Reiz englischer Pfunde kennen gelernt. Jeder schlägt sich halt durch die Not der Zeit, wie es seinem Choral- ter entspricht.
Die Eisenbahn saniert sich. Ucberschüffe im Frühjahr, Tariferhöhungen am 1. Oktober Der„Soz. Parlamentsdienst" teilt mit: Heute trat im Reichs- v e r t e h r s m i n i st e r i u m auf Einladung des Reichsverkehrs- Ministers der ständige Ausschuß des Reichseisenbahnrates zur Be- ratung der notwendig werdenden weiteren Erhöhungen der Eisenbahntarifc zusammen. Der Reichsverkehrsminister ließ mitteilen, daß infolge der ungeheuren Verteuerung der nötigsten Materialien der Reichsbahn in den letzten Wochen der Eisenbahiwer- waltung eine monatliche Mehrausgabe von rund 26,0 Milliarden Mark erwachse. Diese Mehrausgabe soll mit einer Er- höhung der Güter- und Personentarife ausgeglichen werden. Es ist beabsichtigt, die Gütertarife zum 1. Oktober über die bereits beschlossene Erhöhung von 33 Proz. hinaus um weitere 100 Drsz„ ferner die am 1. Ottober in Kraft tretenden um 59 Proz. erhöhten Personen tarife vorn 1. November ab um weitere 100 Proz. zu steigern. Die neue Erhöhung der Perjonentarife bereits zum 1. Ol- tobsr durchzuführen, ist aus drucktechnischen Gründen nicht möglich. Zu dieser neuen Maßnahme des Reichsverkehrsministeriums wurde von dem Vertreter der Verwaltung im einzelnen ausgeführt: Während im Haushalt 1922 nach dem Stande vom 1. 2lpril die Gesamtausgaben für das Rechnungsjahr auf rund 199 Milliar- den veranschlagt worden waren, stiegen sie infolge der Markentwcr- tung aus 235 Milliarden im Zsionai August, während sie nach den letzten Schätzungen im September sogar die höhe von 395 Milliarden erreichen werden. Die Einnahmen hielten infolge dos starren Güter- und Personenverkehrs nicht nur mit den Ausgaben Schritt, in den ersten drei Monaten des Rechnungsjahres 1922 konnte sogar cin Ucberschuß von 2,5 Milliarden Mark erzielk werden. Auch für das Vierteljahr Juli— September konnte man mit einer B i l a n- z i o r u i! g des Haushalts rechnen, aber die Septemberpreise Wersen alle Berechnungen für das zweite Halbjahr Lktober 1922 bis Avri! 1323 über den Haufen. Es werden in jeden: Monat 29,9 Milliarocn Mehrkosten entstehen, die durch die bisher erfolgte Erhöhung nicht gedeckt werden. Bon diesen 25,6 Milliarden entfallen 19,2 Milliarden auf die persönlichen und 13,4 Milliarden auf die sächlichen Kosten. Von den Materialien, die von der Eisenbahn am nötigsten gebraucht werden, stiegen in den letzten Wochen die Preise für DeutscheIkohle.. von 2 999 M. auf 5 599 M.— 175 Proz. 1 To. Schiene...„ 20 999„. 59 999„ 243„ 1„ Eisenschwelten, 29 990„. 41 000„--- 244. 1„ Stabeisen..„ 19 479„. 49 999,---- 249 1 Kubikm. Kiefernholz. 8 999.„ 25 999„— 313„ Radsätze...... 85 700„, 85 000„= 239„ Arn stärksten schlagen von diesen Steigerungen die für Kohle zu Buch, die rund ein Viertel der Gesamtausgaben der Reichsbahn ausmachen. Dabei ist es der Reichsbahnverwaltung noch gelungen,
dann auch in diesem Punkte eingegriffen. Sie Host jene er- Habens Einschränkung, zu der die Kommission der Juristen sich entschlossen hatte, daß die Abkömmlinge der Urur- großeltern als gesetzliche Erben ausgeschlossen sein sollten, wieder auf. Es heißt in dem Texte, den der Reichstag an- genommen hat:„Die Erben der fünften Ordnung und der höheren Ordnungen sind die entfernteren Voreltern des Erblassers und deren Deszentdenten." Also Erbschaft ohne Grenzenl So ist das gültige Recht für das Deutsche Reich zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ge- worden. Ob es auch gültiges Recht am E n d e des zwanzig- steu Jahrhunderts sein wird? In manchen anderen modernen Rechten, z. V. im Privat- rechte des Kantons Zürich , tritt die Beschränkung des Jntestat- Erbrechts schon mit dem dritten Grad ein, so daß die Nachkommen der Urgroßeltern nicht mehr erbberechtigt sind. Mit den Kritiken, die an dieses Erbrecht sich heften, hängen die neuen Gesetze oder Eesetzesvorschläge zur Erbschaftssteuer oder zur Ausdehnung derselben zusammen. In einer Ab- Handlung, die den Durchschnitt der landläufigen Denkungsart hierüber wiedergeben dürfte und die sich aus Zweckmäßig- gründen für eine ausgedehnte Erbschaftssteuer ausspricht, heißt es aber doch, daß diese keineswegs begründet werden solle auf ein„staatliches Erbrecht". Ich meine hier den Artikel über den Gegenstand in Conrads„Handwörterbuch der Staatswissenschaften". Es heißt überhaupt, ein Staatserbrecht sei an und für sich unmöglich, privatrechtlich unmög- lich; denn das Privaterbrecht beruhe einzig und allein auf Blutsverwandtschaft und der Staat sei kein Blutsverwandter: ein Staaserbrecht auf öffentlich- rechtlicher Grundloge würde ober keine andere Bedeutung haben als die einer ein- fachen Konfiskation. Nun ist aber doch ein Hauptsatz des mo- dernen bürgerlichen Bewußtseins, daß eine Nation ein ein- h e i t l i ch e s Volk von Brüdern sei oder sein solle, und die Vaterlandsliebe wird so sehr als eine wesentliche Fundierung des modernen Zusammenlebens gehalten, daß man, wenn mit Recht die Blutsverwandtschaft des Staates geleugnet wird, eine Art von Familiencharater der Nation nicht wohl wird leugnen können. Man könnte also die Nation als erbberechtigt betrachten und ans„National- erbschaften" besondere Zwecke fördern. Außerdem müßte weiter die Konsequenz gezogen werden, daß diesem nationalen Fonds ein regelmäßiges Miterbrecht, ein Pflichtteil am Erbe zukäme, ein Pflichtteil, der auch nicht durch Testament umgestoßen werden könnte. Im geltenden deutschen BGB., das bekanntlich am 1. Januar 1900 in Kraft trat, läßt Z 1929 in der Tat gesetzliche Erben der fünften Ordnung und der ferneren Ord- nungen(!!) des gesetzlichen Erbrechts teilhaftig werden! „Es besteht keine Grenze für die Verwandtenerbfölge," sagt der Kommentator Achilles . Das war das Ergebnis einer Wiederberstellung, die erst im Plenum des Reichstages geschah. Prof. Bernhöst bemerkt dazu:„Gerade die übermäßige Aus- dehnung des Erbrechts führt dazu, dessen natürliche Grund- läge zu verdunkeln und dessen innere Berechtigung über- Haupt in Frage zu stellen." Dies sei auch politisch ge- fährlich. Ein solches Erbrecht eines Verwandten, der etwa feine Verwandtschaft erst mühsam aus alten Kirchenbüchern nachweisen müsse, sei geradezu verwerflich. Run wohl, die Zeit ist jetzt wohl reif dazu, das„Verwerf- liche" und einiges dazu zu revidieren.
Hoffnung auf Sie Kommunisten. Die sächsischen Landtagswahlen sind auf den 5. Rovem- der angesetzt worden. Die reaktionäre Presse gebärdet sich bereits, als sei dem Bürgertum der Sieg sicher. Eine etwas kühne Voraussetzung in einem Lande, das eine so überwie- gende Arbeiterbevölkerung hat wie Sachsen . Aber freilich, die Herren haben eine sichere Hoffnung: die Kommu- nisten. Ganz offen bringen sie zum Ausdruck, daß sie von der kommunistischen Zersplitterungsarbeit ein Zusammen-
Die Zeitung aw Schuttesebuch. Von einem Volksschutlehrcr wird uns geschrieben: Die Versetzung der Kinder steht vor der Tür und die Eltern überkommt ein Grauen, wenn sie an die Auschafsung der Bücher und Hefte denken, die ihre Kinder in der neuen Klasse brauchen. Wenn auch einigen wenigen Kindern die Schulmaterialien auf An- trag der Eltern ocm Magistrat geschenkt werden, so wird doch den meisten ihr Stolz diesen Bettelgang unmöglich machen. Sie müssen also kaufen. Ein Heft kostet heute 29 M., cin Lesebuch weit über 199 M. Jever Mensch pflegt sonst ein gekauftes oder geliehenes Buch auszulesen. Man frage jeden Schulknaben, ob auch nur cin einziger sein Lesebuch„ausgelesen" hat. Die Stoffe des Lesebuchs sind viel zu sehr auf Absicht und Wirkung gestellt, was die Kinder instinktiv fühlen. Ja, aber was sollen denn die Kinder im Unter- richt lesen?... Die Zeitung! Entsetzlicher Gedanke! Die Zcitung ist doch nicht für Kinder. Was verstehen denn sie von der Zeitung! Dann lehre man sie die Zeitung verstehen, damit sie, wenn sie die Schule verlassen, auch wirklich die Zeitung lesen können. Hier können nur die Schulen und die Fortbildungsschulen mit den richtigen Hilfen einsetzen, und deshalb gehört in der heutigen Zeit die Zeitung in die Schule. Wenn die Kinder der Aufnahmcklasse an der Hand der Fibel die mechanische Lesefertigkeit erlangt haben, so vervollkommnen sie diese in den folgenden Klassen am Lesebuche. Das kann ganz genau ebenso an der Zeitung geschehen, z. T. sogar noch besser, weil die Worte des täglichen Lebens und besonders moderne Wort- bilder in der Zeitung viel häufiger vorkommen. Es d«-rf natürlich nicht nur mechanisch, sondern muß mit Sachverständnis gelesen werden, d. h. das Gelesene muß im Unterricht besprochen werden. Eignet sich dazu die Zeitung? Vor der Hand vielleicht noch nicht in allen Teilen. Nach dem Alter der Kinder muß der Lehrer die Stoff- auswahl treffen. Mit Kindern der Unterstufe können z. B. Unglücks- fälle auf der Straße gelesen werden. Da haben sie wirkliche Tat- fachen, an deren Hand mit ihnen besprochen wird, wie sie sich im Berkehrsgetriebe zu bewegen haben. Da steht ein Familiendrama in der Zeitung: seine Behandlung in der Schule gibt eine prächtige Religionsstunde im modernen Sinne. So werden sich alle Sachen im lokalen Teil restlos nutzbringend verwerten lassen. Sämtliche wissenschaftlichen Artikel werden dem Unterricht in Naturkunde und Naturlehre hoch willkommen sein, weil sie das trockene Lehrbuch in interessanter Weise ergänzen und beleben. Ein ganz besonderes Augenmerk wird die Schule auf die Theaterrezensionen zu richten haben. Viele Leser werden einwenden, daß sie diese Rezensionen selbst nicht verstehen. Schreibt also die Kunstkritiken so, daß ein dreizehnjähriges Kind sie verstehen kann, wofür mancher Erwachsene dankbar fem
wird. Welch herrlicher Ausblick bietet sich da den Zeitungen, wenn ihre Kunstbetrachtungen in der Schule gelesen werden! Das Beste jedoch, was die Zeitung den Kindern bieten kann, wird ohne Zweifel der wirtschaftliche und politische Teil sein. Wenn auch noch nicht alles in die jugendlichen Köpfe hineingeht, so ist doch die Grund- läge für das Verständnis und Interesse und Begeisterung gegeben, und damit hat die Schule für das wirkliche Leben vorbereitet und ihre Aufgabe erfüllt.' So gibt es wohl kaum ein Unterrichtsfach in der Schule, in dem die Zeitung nicht mit Nutzen gelesen werden könnte. Die Zcitung ist ohne Zweifel das unmittelbarste Anschauungsmaterial, und die Einführung der Zeitung.in die Schule ist durchaus keine Utopie, sondern ohne jedes Bedenken sofort durchführbor. Elternbeiräte und Stadtverordnete müssen aus Abschaffung des Lesebuchs dringen.
Bilder aus Smyrna. Die Nachricht von dem Brande Smyrnas zeigt, daß die Kriegsfackel schon wieder schöne Kulturstätten zer- stört. Denn Smyrna ist cin Juwel an der asiatischen Küste, heute noch wie in den Tagen Homers eine der reichsten und lebendigsten Handelsmittelpunkts der Levante . Die„Stadt der Teppiche" ist nicht nur für diese kostbaren Erzeugnisse des Orients der eigentliche Markt, sondern überhaupt strömen hier die Waren zusammen. Der Ruhm der schönen Frauen von Smyrna lebt in zahllosen Gedichten, und schön ist auch die Stadt selbst, die sich über der weitgeschwun- genen Hafenbucht aufbaut. Dieser Riesenhafen, der die gesamten Flotten Europas in seinem Innern aufnehmen könnte, war in fried- lichen Tagen von den Handelsschiffen aller Nationen bevölkert und bot das bunteste Bild mit dem Völkcrgemisch, das hier laut schreiend u»ld gestikulierend seiner Tätigkeit nachging. Dieses hastige Ge- triebe setzt sich dann auf der breiten Kaistraße fort, die zugleich den Mittelpunkt der Europäerstadt, des„Krankenviertels", bildet und wo sich schöne Hotels und Cafes erheben. Hier tritt einem so recht das Völkergemisch vor Augen, das sich in Smyrna zusammenfindet. Zwischen den armenischen Lastträgern schreiten würdevollen Ganges ernste Türken, eilen geschmeidige Griechen, flinke Spaniolen und bewegen sich europäische Damen in den neuesten Pariser Toiletten. Einst krönte die Häuscrwellen, die an den Bergwänden empor- branden, eine Akropolis : heute steht dort in düsterer Wehrhaftigkeit die alte Zitadelle. Wie im Handelsverkehr, so herrscht auch in der Bevölkerung Smyrnas das Griechische vor. Von der Viertelmillion Menschen, auf die man die Bevölkerung Smyrnas schätzt, sind mehr als die Hälfte Griechen: griechisch verständigen sich die Hafenarbeiter, rufen die Straßenverkäufer ihre Waren aus. Freilich ist es ein ocr - stümmeltes, dem Fremden unverständliches Neugriechisch, das hier gesprochen wird. Der Orient herrscht noch vollständig in dem Türken- viertel mit seinem Labyrinth von winkligen dunklen Straßen, mit seinem emporstrebenden Wald von Minaretts und den Friedhöfen mit den uralten riesigen Zypressen. Der Orient beginnt auch schon an dem Bahnhof, von dem die Krawanen nach dem Hinterlande ausziehen, um neue Waren zu holen. Das jüdische und armmische
Viertel sind weniger bedeutend, aber auch sie haben geschichtlich merkwürdige und künstlerisch hervorragende Baudenkmäler. Der Handel vollzieht sich hauptsächlich in den Basaren: hier tritt man in die kühlen„Hans oder Speicher durchweinen Torweg, erhält türkischen Kasfee serviert und sieht dann die Schätze des Orients vor sich ausgebreitet, die man freilich crst nach einem langwierigen Feilschen erstehen darf. Die neue lailberi-Operette. Es gibt ernsthaste Leute, die be- haupten, die Tanzoperettc, die unsere Spielhäuser erfüllt, sei in jeder Weise erledigt, sie habe weder den Geist noch die musikalische Erfindung der älteren Operette, noch gelinge es ihr, irgend etwo� Neues zu bieten. Komponisten und Autoren— so witzeln sie— machen Proudhons Wort:„Eigentum ist Diebstahl", mit der neuen Variante zur Wahrheit, daß sie nicht nur andere, sondern sich selber bestehlen. Die gediegenen Lobredner alles Bestehenden machen da- gegen geltend, daß alle Kultur, und jo auch die„Operettmkultur", Tradition und Wiederholung brauche. Tatsache bleibt jedenfalls, daß diese Operette den Geschmack des zahlungskräftigen Publikums beherrscht und neue chäuser erobert. Das zuerst sür beinahe höhere Zwecke eingerichtete„Neue Theater am Z y o" ist von seinem Direktor Charte jetzt sür die Operette bestimmt worden. Mit Gilberts neuester Schöpfung, für die Grünbaum und Stcrk einen einigermaßen banalen, witziosen und schleppenden Text geschriebm haben, wurde das Haus eröffnet. „D o r i n e und der Zufall" heißt das neue Opus, dem die Ehren feinster Ausstattung im Gentgeschmack, tadellosester Aufführung(das deliziöse Orchester hinter der Szene) und geselljchast- licher Weihe in großer Toilette zuteil wurde. Jo, es gibt eine Operettenkultur in Berlin (im allerweitesten Wortsinne). Das Girren von fünf Männern um ein Weibchen, dos dank dem Zufall, der ihr und der Autoren Verhängnis ist, immer in die kompromittierendsten Situationen(bis an den Rand des Bettes) gerät, ist der Inhalt. Die vorkommenden Tänze gehören bereits ins Gebiet der Akrobatik (Harald P a u l s e n ist Meister darin). Bei einigen setzten sich die Darsteller zur Abwechslung auf den Po(und die Zuschauer finden das sehr vergnüglich). Gilbert wollte drei Schlager einlegen, aber nur einer ereicht den nötigen Grad einschmeichelnder Schmalzhaftig. kcit, er wird dafür endlos wiederholt und in den Pausen aufs neue serviert, und das Publikum muß ihn schließlich mitsingen, um nicht ganz zu verblöden. Inszenierung und Darstellung waren natürlich blendend. Grete Freund singt, tänzelt, schmollt, weiß die Toi- leiten, deren Lieferanten auf dem Zettel genannt werden(„ach, die süßen Schuhchen", zischelte es neben mir), mit Bravour zu tragen und— auszuziehen. Fritzl Werner entzückt mit seiner holden Weis', die alle sentimentalen Schleusen öffnet, usw. Ach ja, es war ein denkwürdiger Abend und dauerte von 7 bis gegen 11. ei. Erstaufsührnnge» der Woche. Dienst. Vollsbühne:„U-ber die ternjl"(2. Teil). Mitlw. Neues VolkStkicalcr:»Der Eng- ländcr",„Satyros*. Theater i. d. Kouimandantem'lr.:.Der Tänzer unserer lieben Frau',„Der Fremde." Tonu. Tribüne:.Tod und Teufel",„S o u u e n I p e k t i u m." Kreit. Kammerspiele:.Der«chleier der P i e r e l t c". Schau. Ipieldaus:»Hochzeit d e S Adrian B r o u w e r." Tonuab. Theater i. d. Koniggrasjer Str.:»Die Jüdin von Toledo."