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Heilage des Vorwärts
Freitag. 29. Dezember 7922
Das Tagebuch einer Hausfrau. Ein Rückblick auf 23 Tage Hauswirtschaft.
In 23 knappen Tazebuchblättern, vom 1. Dezember bis zum Weihnachtsfest, hat eine Berliner Hausfrau im„Vorwärts" kurze Phasen jenes Kampfes mit den Preisen geschildert, den alle Frauen der Lohn- und Gehaltsempfänger zur Aufrechterhaltung der Familien- Wirtschaft, des bescheidenen Haushaltes heute Tag für Tag führen müssen. Sie hat 23 Tage in jenes Reich der Mühsal geführt, das der SBtcmn oft nur mit scheuen Blicken streift, weil er sich schmerzlich sagt: Ich merke wohl, daß es gemacht wird, aber ich möchte nicht sehen, wie es gemacht wird. Sie hat auch jene Herrscher im Reiche des Kopitals einen Blick hinter die Kulissen der Hauswirtschaft tun lasten, die von den Lohnkämpfen als von einer Sache sprechen, die ihnen zum Aerger geschieht, während ihnen die Ernährung und Lebens- Möglichkeit des einzelnen als eine Sache von untergeordneter Be- deutung erscheint, die jener mit sich selber abzumachen hat. Einigen wurden die Augen geöffnet und die Achselzucker, die sich wegwenden wollten, zu einiger Aufmerksamkeit auf Dinge genötigt, die sonst außerhalb ihrer Beachtung lagen. Die Wohnung. Die Familie bewohnt ein Zimmer, Kammer und Küche— jetzt soll es gesagt werden— draußen in Pankow , und die Preise der eingekauften Lebensmittel find die dort geltenden. Mann, Frau, drei Jungen. 4 bis 10 Jahre alt. Der Mann ist tagsüber vom Hause fort. Die Frau bleibt, nachdem sie die zwei größeren in die Schule geschickt hat, mit dem kleinsten allein. Ein Raum wird geheizt, das ist die Küche. Die anderen bleiben aus Mangel an Feuerung kalt, den ganzen Winter hin- durch. An besonders kalten Tagen frieren die Jungen noch im Bell, denn das Bettzeug ist dünn geworden und läßt Federn. Die Wohnung wird aufgeräumt, drei Kinder hinterlassen genug Un- ordnung. Daben denkt die Frau, was nun, was heut, was morgen? Ein Tag wie der andere, immer graue Wände, wenig Freundliches, in jedem Quadratmeter der Wohnung wird ein« neue Sorg« ge- boren, stehen gelassen und wieder vorgeholt,«in wenig abgeputzt und wieder hingestellt. Nur damit alles im Gang bleibt, damit nicht eines Tages diese eine Sorge alles auiichlingt, alles über den Haufen wirft. Einmal wundert sick, die Frau, und es fällt ihr der schlechte Zustand der Wohnung auf Sie hatte es lange nicht gesehen, vielleicht war sie durch Zufall in die Wohnung einer besser gestellten Familie gekommen, so dab der Gegensatz ste anstieß. Der Putz fällt in der Küche von den Wänden, er löst sich oben von der Feuchtigkeit und unteb durch den Gebrauch der vielen Füße. Man kann ihn nicht reinigen, dann fällt er ganz herunter. In den Zimmern schälen sick die Tapeten, Feuchtigkeit schlägt Blasen und Wellen auf der Oberstäche. Revarawren in der Wohnung zahlt der Mieter selbst. Zahlt selbst? Also sagt sich die Frau bitter, so muß es bleiben. Erst Esten und Kleidung, und dann das andere. Wann, wann wird es sein, das andere...? Ernährung. Erst Esten... Das Esten, die Preise für das Esten, die niemand mehr genau kennt, niemand mehr genau angeben kann, verschlingen den Lohn im Handumdrehen, wachsen ins Endlose. Schon am ersten Tage nach Lohnempfang ist fast ein Drittel glatt, ausgegeben Für Allcrnotwendigstes, keine Vorrats- käuse. �Fleisch kommt nur selten auf den Tisch, und dann in winzigen Portionen. Fünf find es ja immer, die sich sattessen wollen. Knochen, aus denen Suppen(Brühe) gekocht werden, bieten in allen Zusammenstellungen einen fleischähnlichen Ausweg. Sonst Kartoffeln, Aepfcl, Hülsenfrüchte und Mehl- Produkte. Wenig Gemüse, es kostet zuviel für die ganze Familie. Sorgen um die Nahrung den ganzen Tag. Wie lange mochte es gedauert haben, bis unsere Hausfrau zu diesem Speise- zettel hinabstieg, wie lange mochte sie gekämpft haben, um die ge- wohnte reichere Abwechslung, die Schmackhaftigkeit der Speisen zu erhalten? Sättigen mußte es jetzt vor allem, man mußte satt werden vor allem, damit der Hunger nicht aus den Augen stieß. Zum Abendbrot Mittagsreste, nestreckt mit Wasser und Mehl, dazu Brot(Margarine) und Malzkaffee. Kinder, die immer Hunger haben zwischen den Mahlzeiten, die für andere kaum Vorgerichte sind, kriegen Brot, trocken, dürfen sich etwas Salz
darauf streuen. Für den Mann, der alles erarbeitet, ist hin und wieder ein Leckerbissen, Le-ckcr-bis-sen, ein Restchen Schabefleisch, ein Endchen Wurst übrig. Milch soll eins der Kinder kriegen, weil es einen Knax an der Lunge hat. Die Frauen tuscheln schon: Was muß sie jeden Tag% Liter Milch kaufen. Da wird die Hausfrau bitter: Bei armen Leuten ist immer Luxus, was der andere hau Dann zwischen Quetschkartoffeln und Hafermehlsuppen naht Weih- nachten. Der Mann hat ein paar tausend Mark Nachzahlung gekriegt. Sie bäckt ein paar Pfefferkuchen für die Kinder und kriegt — Gewissensbisse, weil es doch noch Frauen gibt die sich das nicht leisten können die kein bißchen Tannenduft in der Wohnung haben und für die Weihnachten Allersorgentag ist wie heut« und gestern. Und die Preise steigen, sie kann das Geld nicht mehr einteilen. Es schwindelt sie vor den hohen Zahlen. Leben. Sorgen bilden den Lebensinhalt, meist kleine, ach so kleine Sorgen, die riesengroß werden können und alle Gedanken voll in Anspruch nehmen. Da dreht sich's um den Kochtopf, der kaputt ging und für dessen Ersatz 2500 M. aufgewendet werden müssen, man denke 2S0(1 M., und das noch vor dem Weihnachtsfest. Da dreht sich's um die Wäsche, die wie Zunder reißt und die kaum mehr geflickt werden kann. Aus zwei Bettbezügen wird einer gemacht. Da dreht sich's um den Kinderhandschuh, der verloren ging, was ein ganz neues Paar erfordert. Da dreht sich's um den Gaszylinder, der platzte, weil das Zimmer zu kalt war— alles so kleine Sorgen, aber alles geht vom Essen ab, alles von der knappen Rechnung, die für den nächsten Tag kümmerlich aufgestellt war. Niemals kommt sie darüber hinaus und kann sich nicht an das Gefühl gewöhnen, daß das Geld, das sie in der Hand hat, doch nur im Höchstfälle noch einige Tage aus- reicht, während das nächste erst in viel späterer Zeit zu erwarten ist. Und wie bringt sie es zustande, daß es dennoch reicht? Es wird wieder gerechnet und wieder umgestoßen, gefaßte einfache Speisezettelpläne werden weiter vereinfacht. So kriechen die Sorgen weiter, und die Welt ist grau in grau, was ihr schon gar nicht mehr auffällt. Sie tröstet sich aber damit, daß es mit ihrem Leben noch nicht am schlechtesten steht. Geht in die Frauenklinik und hört und sieht so allerlei von furchtbaren Krankheiten, die eine große Familie verwüsten und in ständiger Angst erhalten. Sie sieht bleiche Gesichter an sich vorüberschwanken, und an dieser Stätte des Elends und des Jammers mag doch etwas von stiller Zufriedenheit über sie gekommen sein. Ja, es bietet ihr so wenig das Leben, zuweilen wenn sie still sitzt, denkt sie, daß es ihr früher bester gegangen, daß sie doch hin und wieder einmal ein Theater besucht und Mitglied der Volksbühne war. Das hat aufgehört. Jetzt ist einzig« Hoffnung auf eine kurze sorgenfreie Shmde jener Tag, der die gewöhnliche Nachzahlung bringt. Zieht er sich zu weit hinaus, dann muß geborgt werden von Leuten, die keine Kinder haben und denen es bester geht. Aber nach der Rachzahlung, dann gibt es besseres Esten, etwas Fleisch steht auf dem Tisch, und die Sorgen sind für einige Stunden an die Wand gehängt. » Es ist hier nicht die Frage, ob diese Frau verständig gewirt- schaftet hat, oder ob es einer anderen möglich gewesen wäre, mit dem gleichen Betrag— 38 936,50 M. in 23 Togen— einen etwas größeren Nutzeffekt für die Familie zu erzielen. Einige wenige werden dies bejahen, andere wieder iverden es für das Beste halten, nicht auf die Probe gestellt zu werden, und ein großer Teil wird es für un- möglich erklären, mit dem ausgegebenen Gelde eine Familie so zu unterhalten, wie es tatsächlich der Fall gewesen ist. Das alles ist nebensächlich. Talsache bleibt, daß aus den 23 Tagebuchblättern. die der„Vorwärts" veröffenilichte, die furchtbare, jede höhere Lebens- äußerung erstickende Not der großen Masse der Lohn- und Gehalts- empsänger, ihre fast chronisch gewordene Unterernährung hervorgeht. Nur ein wahnsinnig gewordener Arbeitgeber kann diese Tage- buchnotizen als Beweis für„ausreichend« Entlohnung" anführen. Sie beweisen im Gegenteil ein Höchstmaß unzureichender Ent- lohnung, sind ein typisches Beispiel dafür, bis zu welchem Grade die Lebensansprllche jener Kreise gesunken sind, die die große Masse des Volkes bilden.
Die feierliche Woche. Drei Feiertage find vorüber, ein Sonntag und zwei Festtage, zwei weitere stehen bevor, und in der Zwischenzeit wird gearbeitet. Wenn man aber richtig hinsieht, dann will es einem so vorkommen, als ob nur die Hände bei der Arbeit sind, nicht aber die Gedanken. Wir schweben noch mitten zwischen den Festen, die unsere Gedanken gefangen halten. Und weil doch noch ganz bestimmt zwei Fest- tage kommen, möchten wir die Arbeit noch nicht ernst nehmen. In den Geschäften, ganz besonders aber in den Banken herrscht jedoch Hochbetrieb und die grünen Bureaulampen brennen bis spät in die Nacht, denn der Jahresletzte verlangt einen Abschluß aller Konten. In den Warengeschäften aber wird zur Inventur gerüstet und nicht wenig Hausväter und Mütter, die sich zum Weihnachtsfest allerlei Ankäufe„verkniffen" haben, rechnen mit der Neujahrsinvontur. Hoffentlich verrechnen sie sich nicht. Am allerbesten hat es die Schüler- und die Lehrerwelt, deren Ferientage noch bis in den Januar hineingehen. In den stillen Straßen der Außenbezirke und der Vororte aber sieht man in der Stunde zwischen Tag und Abend Damen und Frauen und Mütterchen hin und her huschen, denn wo große Familien sind, da dauert das Weihnachtsfest manchmal bis zum 30. Januar und irgendwo brennt noch an jedem Tag ein Weih- nachtsbaum, irgendwo ertönen an jedem Tag die Weihnachtslieder, irgendwo ist an jedem Tag zwischen Weihnachten und Neujahr ein Plauderstündchen mit Kaffee und Stolle und ein bißchen Leckerei. Nur sind die Kuchen doch nicht mehr so fett wie früher und es sind nicht so viel Rosinen und Mandeln drin. Das Konfekt ist selten und die Schlagsahne fehlt noch immer. Und unversehens sind die Damen wieder hineingeraten in das Jammern über dies« Zeit und dann verfliegt plötzlich alles Feierliche und man hört böse und horte Worte, die man aber schon am Morgen so oder ähnlich irgendwo im lieben„Lokal-Anzeiger" gelesen hat. Bis irgend jemand aus Klavier geht und die„Stille Nacht " spielt, unter deren Klängen die alten Damen sich allmählich wieder besänftigen. Draußen aber geht das Leben der Großstadt seinen Gang; es pulst ein wenig ruhiger und langsamer in den feierlichen Tagen zwischen den Festen. Aber schon in einer Woche fingen alle Maschinen wieder das Lied von der Arbeit in wuchtigen Akkorden.
»Staatsanwalt König". Der Schrecken der Spielklubs. In der Ioachimsthaler Straße hatte sich vor zwei Jahren ein feudaler Spielklub etabliert, welcher hauptsächlich von Ausländern und insbesondere Russen besucht wurde. Zu letzteren gehörten u. a. die aus Rußland stammenden Kaufleute Pollaczek und Wolfs. Da diese sehr hoch spielten, reifte in einigen weniger glücklichen Mit- spielern der Gedanke, sich auf deren Kosten zu bereichern. Sie such- ten Verbindung mit den Kriminalbeamten Köppen und Mehl, welche sich auch zur Mitwirkung bereit erklärten. Unter gleichzeitiger Zu- Ziehung verschiedener anderer Personen, welche die Rolle von fal- schen Kriminalbeamten spielten, wurde eines Tages dem Zeugen P. ein Besuch abgestattet. Dieser ließ sich jedoch nicht ins Boxhorn jagen und so zogen sie, ohne Geld erhalten zu haben, wieder ab. Dagegen gelang ihnen der Plan bei dem Zeugen Wolfs. Sie er- schienen hier und beschlagnahmten mehrere Hundert- tausend Mark Bargeld und wertvolle Brillant- Schmucksachen. Wolfs wurde hierauf in einem Automobil nach der Jungfernheide verschleppt, wo man ihn mitten im Walde absetzte. Dtese Vorfälle haben schon wiederholt die Moabiter Strafgerichte bescyaftigt, da nicht weniger als 12 Personen in diese Angelegenheit verwickelt waren. Ein Teil derselben ist inzwischen zu langen Zuchthaus - bzw. Gefängnis- strafen verurteilt worden. Gestern fand vor der 6. Strafkammer des Landgerichts III noch ein Nachspiel statt. Unter Anklage stand der Kaufmann Lange, welcher schon einmal durch einen an die„Helden- tat" des entschlafenen Hauptmanns von Köpenick erinnernden Streich von sich reden gemacht hatte. Lange gelang es nämlich, aus dem Untersuchungsgefängnis durch einen frechen Handstreich zu ent- wischen. Er war eines Tages, als er vorgeführt werden sollte, kurzerhand zu dem Portal gegangen und hatte dort den wacht- habenden Beamten angeschnauzt:„Kennen Sie mich nicht? Ich bin doch der Staatsanwalt König. Daraufhin hatte der verdutzte Be- amte den Gefangenen passieren lassen. Er benutzte die wiedererlangte Freiheit, um eine ganze Reihe von Straftaten zu verüben und
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Die Welt ohne Sünde. Der Roman einer Nlinute von vicki Daum.
Er murmelte etwas Tonloses, aber Christine sagte: „Kommst du jetzt heim, Anselmus? Vielleicht ist es die rechte Zeit; aber vielleicht ist es zu spät. Vom Süden kommen sie schon—" „Vom Süden..." murmelte Anselmus und fand alle Tore zum Erinnern versperrt. „Morgen holt der Teufel diese ganze verwunschene Welt. fehlen und Bazillen. Es sieht schön aus, Anselmus, schön. Die Frauen tragen nur mehr sechs Monate, und dann ge- bären sie tote Kinder. Zwillinge. Drillinge, Mißgeburten. Die Welt ist verrückt geworden, das sage ich. Schau diese armen Kinder an: da haben wir den Segen. Da haben wir den Fortschritt von Dörries und die Wissenschaft von Leonhard." „Was ist mit Börnes?" „Tot." „Und Leonhard? ..Tot." „Wie sind sie gestorben?" „Leonhard starb als erster an seinem Bazillus. Du weißt: die Wucherkrankheit." »Ich weiß nichts—" „Nun—" sagte Christin« zögernd und sah ihn mit.h'.em verquollenen Gesicht an.„Du weißt nichts? Wo warst du all die Zeit? Sei froh, wenn du nichts weißt. Wir sterben alle furchtbar," setzte sie leiser hinzu. Sie schaute ihn prüfend an. dann hob sie ein Kind aus einem Bettchen und hiell es vor feine Augen. Er begann zu zittern. Furchtbar war an dem kleinen abgezehrten.Körper ein Glied aufgetrieben, ein Schenkel und Dein unmäßig und ent- setzenerregend gedunsen. Das Greisenköpfchen trug den Aus- druck verhelter Schmerzen. „So fängt es an. Ein Glied außen am Körp.-r oder ein inneres Organ beginnt zu wuchern, wächst, frißt sich dick und satt, indes der Mensch verfällt. Dann kommen die Schmerzt«: dann kommen die Wunden. Furchtbar sterben wir alle, Anselmus—" Zugleich mit maßlosem Ekel stand Hunger in.hm aus, quälte, zog bitter seine Kehle zusammen, krampfhaues Schlucken erstickte ihn. Er schrie— und war allein. Unaufhaltsames Zittern riß an seinen Schultern, die
nackt waren, wie er jetzt sah. Er dachte noch: ich habe Leonhard meinen Kittel gegeben. Doch Leonhard war tot, und alles sank in neue Verwirrung. An Bacherlen stand er noch und konnte einmal tief atmen: inmitten tropischen und vasallcnen Wucherns lag da ein stilles Stück Wiesengrün, zwei Schritte lanA einen Schritt breit. Weiße Glockenblumen wiegten sacht darüber hin und läuteten Stille. Anselmus atmete tief und spürte Erlösung von Tränen, die ihm vergönnt waren. Er dachte: Konrads Grab, und das war nur ferner Klang der Erinnerung: auch sah er sich selbst mit geschlossen n Augen und gefalteten Händen neben dem toten Bruder Namenlos liegen und tief in Frieden gebettet sein. Er sagte laut: Es ist bald vollbracht und schaute in den Himmel hinauf. Dünne gelbe Wolken wehten vorbei, und die Sonne hatte schwarze Ränder, streute ein krankes verkrochenes Licht vom Horizont her. Im zerfallenen Dorf schlich Menschenregung hin, an geborstenen Hüttenwänden waren verwischte greise Ge- sichter zu sehen. Tote lagen da, Sterbende in Winkeln, von der Seuche ergriffen, gedunsen wie Wasserleichen: Lebend« auch, mit uralten Fiebergesichtern. Anselmus suchte seine Hütte und fand sie nicht Geängstigt, immer stärker bebend suchte er das Gotteshaus und fand es nicht. Die Strahlen surrten stärker im sinkenden Licht, und in der Ferne stand ein dumpfes Brausen auf. Anselmus taumelte über verfaulende Stufen unter Schlinggewächsen, er scheuchte fremdes Tier- voll auf: wenn er die Augen schloß, sah er immer noch die Milch aus vielen ekelhaften Brüsten fließen, steigen bis an seinen Mund, der ganz vertrocknet war. Er tastete sich hinab zum Seeufer, beugte sich über den grünen Spiegel, um zu trinken, und wich zurück vom Leichengeruch der Tiefe. Er lag dann niedergebrvchen und träumte von einem Brunnen, den er einmal gegraben hatte. Da sah er plötzlich Linde, die sich mit dem Krug neigte. Wasser schöpfte und ihm das Gelfiß an die Lippen legte. Die ewige Bewegung der Frau, flüsterte er lächelnd. Da floh das Bild. Durch einen Garten schleppte er sich, der zum verstrickten Urwald geworden war, und suchte nach Früchten. Er fand viele, und jede, die er an den Mund hob, war faul und krank. Er schauerte, da auch die Früchte gedunsen, krank und verfärbt starrten, mit geplatzten, wuchernden Wunden, in denen Tiere hausten. Er watete mit schweren Knien vorwärts, über ihm schloß sich das Dickicht zum finstern Gang. Im ungewissen Schein sah er wieder einen Zug dicker, weißer Maden vor seinen Füßen den Weg kreuzen, über ihm wuchsen Stämme
zueinander wie Mauern und die Brennessclriesen griffen nach ihm. Gebückt schlich er vorwärts, immer vorwärts. „Parole", sagte eine ruhige, tiefe Mädchenstimme vor ihm: er stand. Die Stimme selbst gab sich Antwort. „Die Welt ohne Sünde." Das schlug in fein Hirn. Das weckte ihn auf. Er riß sich aus dem dunklen Gang ans Licht.„Kornel," schrie er:„was ist aus unserer Welt geworden?" Der Schmerz machte ihn blind: im Wimpernschlag seiner Augen sah er noch einmal seine Welt aufwachsen aus Para- dieseswiesen und Brüderlichkeit, sah sie kranken, verfallen: sah sie sterben wie die andere, frühere Welt, die er selbst zerstört hatte.„Was ist aus unserer Welt geworden?" schrie er und flüchtete in das Dunkel und die Einsamkeit seiner gehöhlten Hand. Als er den Blick wieder hob, sah er Kornel. Es war eine alte, kleine Frau, mumienhaft gegerbt und eingetrocknet, ohne Haar, ohne Zahn: sie reichte ihm ihre zähe, kleine, oerdorrte Hand. Sie saß auf verfallenden Stufen, und eine Ruine wuchs hinter ihr in die gelbe Dämmerung. „Was tust du, Kornel?" „Ich wache hier. Ich werde die Glocke läuten, wenn es Zeit ist." Sie regte leise die Hand: da sah er das Seil, das von ihr zu der Ruine leitete und erkannte im Zerfall die Kuppel des Gotteshauses. Sie folgte seinem Blick und sagte lächelnd: „Wundere dich nicht, Väterchen. Das Gotteshaus haben sie zerstört. Und anderes auch..." „Wie lange war ich fort? Wo war ich? Du bist alt geworden?" „Alt sind wir alle. Es gibt keine jungen Menschen mehr, seit wir die Strahlen haben. Sieh die Kinder an. Die Strahlen sind verflucht." „Warum reißt ihr sie nicht von den Dächern? Seid ihr alle wahnsinnig geworden mit der wahnsinnigen Welt? Führt euch keiner? I ch bin wieder hier: Anselmus, der Führer." Kornel lächelte nur trüb mit ihrem Ledergesicktchen.„Du bist müde und fieberst, Väterchen", sagte sie.„Komm, setze dich zu mir und ruhe aus." „Berichte!" sagte er hart: in chm wurde etwas stark und ganz aus Eisem Roch einmal eine Welt einreißen und noch einmal aufbauen, sagte seine innerste Stimme. Sehr wach und klar hörte er. was Kornel mit ihrer ruhigen, tiefen Stimme zu berichten hatte,(Fortsetzung folgt.)