Kr. 126 ♦ 4S. Jahrgang
Seilage ües Vorwärts
Lrektag. 16. März 1425
Serliner �Demokraten"! Gegen den Märzgefallenen-Denkstein.— Für die„Königsplatz"-Rettung.
Eine eigenartige Vorfeier des 18. März war die gestrige Stadtoerordnetensitzung. Ueber den vor vier Monaten eingebrachten Antrag der Sozialdemokratischen Fraktion, der für den Friedhof der Märzgefallenen eine würdige Ausstattung und vor allem einen Denkstein forderte, wurde endlich Beschluß gefaßt. Im Ausschuß hatten die Bürgerlichen den Antrag abge- schwächt und den Denkstein gestrichen, aber unsere Genossen ver- suchten gestern, durch einen Zusatzantrag diese Hauptforderung wieder in ihr Recht einzusetzen. Bei der entscheidenden Abstimmung erlebte man das beschämende Schauspiel, daß gegen den Denkstein mit dem Bürgerblock auch die Demokraten stimmten, die Nach- kommen jener Männer, die 1848 auf den Barritaden standen! Es war nur folgerichtig, daß nachher auch der sozialdemo- kratische Antrag auf Umnennung des.Königsplatzes" in„Platz der Republik" von den nachnovemberlichen Demokraten in treuer Gemeinschaft mit allen anderen Bürgerlichen niederge- st i m m t wurde. Die Linke brandmarkte dieses Verhalten durch stürmische Pfui-Rufe, während die Deutschnationalen über die Rettung des„Königsplatzes" mit jubelndem Beifall quittierten.— Im ersten Teil der Sitzung führte die wichtige Magistratsoorlage über die Neuorganisation der Werke zu einer längeren Aussprache. Genosse Reuter betonte, daß der Stadtgemeinde ihre Werte erhalten bleiben müssen. Gerade durch die vorgeschlagene Neuorganisation wird den gegenteiligen Plänen der bürgerlichen Parteien entgegengewirkt. Die Vorlage soll im Ausschuß beraten werden. Angenommen wurde der die V o l k s s p e i s u n g betreffende sozialdemokratische Antrag, den Genossen S u p k e mit Wärme vertrat. « Zur gestrigen Sitzung war der Antrag der Sozialdemokraten auf Umbenennung des Königsplatzes in„Platz der Repu- blik" wieder eingebracht worden. Auf Antrag des Gen. Cze- minski wurde ohne Widerspruch beschlossen, die Beratung vorweg- zunehmen: eine Diskussion fand nicht mehr statt, die Abstimmung sollte später zusammen mit den übrigen noch ausstehenden Ab- stimmungen erfolgen.— Zwei Dringlichkeitsanträge der D. Vp. und der Dnat., die die Aufhebung der neuesten Werts- tariferhöhungen fordern, wurden in einen Ausschuß ver- wiesen, der auch den Antrag der Dnat., betr. die Straßenbahntarif- erhöhung, und den Antrag der Soz., betr. die Regelung der Wasser- mestermiete für Kleinsiedler beraten soll.— Die Beschwerde der Kommunisten über die Verzögerung der Auszahlung der Teue- rungszuschläge an die städtischen Beamten und Lehrer wurde, nachdem Goß sie begründet, vom Stadtsyndikus Lange dahin beantwortet, daß es sich dabei um sieben Milliarden gehan- delt habe, einen Betrag, den man nicht von heut? auf morgen flüssig machen könne, daß«s'aber doch gelungen fei, die erste Hälfte schon am Tage der Zahlungsermächtigung, 17. Februar, die zweit« am 22 Februar auszuzahlen.— Darauf erledigte die Versammlung eine lange Reihe von Vorlagen in erster Beratung. Für die G e- bührenordnung für Wohnungsvermittlung, für die Abbürdung der Baukostenüberteuerung durch Er- höhung der Wvhnungsbauabgabe. und für die kommu- nistifchen" Anträge betr. die neuesten Wertsteigerungen und die Wohnungsfürsorge wurde ein Ausschuß eingesetzt.— Eine längere Auseinandersetzung führte die Magistratsoorlage, betr. Neuorganisation der städtischen Werke herbei. Es wird darin nach den Vorschlägen der niedergesetzten gemischten Deputation die Bildung einer G. m. b. H.„Berliner Stadtwerke" als Muttergesellschaft empfoblen; als Tochtergesell- schaften m. b. H. sollen die einzelnen städtischen Werke konstituiert werden. Fabian sDnat.) beklagte, daß in dieser so hochwichtigen Frage«ine ungeheure, kaum noch nachzuholende Versäumnis zu verzeichnen ist: zwei Jahr« seien ungenutzt geblieben. Di« städti- schen Werke würden nicht eher wieder in vernünftige Ordnung kommen, als bis die besonders im letzten Jahre aufgetretenen politischen Einflüsse gönzlich zurückgedrängt seien. Einvcr- standen war der Vertreter der Rechten damit, daß der Besitz der
Werke der Stadt verbleiben, und nur der Betrieb auf die G. m. b. H. übergehen soll. Er beantragte, die Vorlag« mit den Vertrags- entwürfen einem Ausschuß von 25 Mitgliedern zu überweisen. Der Demokrat P r e n tz e l sah das Heil ebenfalls nur darin, daß an die Stelle des politischen Einflusses das Sachverständnis tritt: er plädierte für gründliche Umgestaltung des Gcscllschoftsoertrages und sprach sich grundsätzlich auch fiir den Verzicht der Stadt an dem Eigentumsrecht aus. Gen. Reuter erklärte die Zustimmung der Partei zur Herbeiführung einer anderen Rechtsform für die Be- wirtschaftung der Werke, gab aber zugleich den Herren rechts mit aller wünschenswerten Deutlichkeit zu verstehen, daß die Elemente, die die hemmenden politischen Einflüsse ausübten, gerade in den Kreisen zu suchen si nsT, die darüber a m meisten zetern. Unter„Sachverständnis" scheine man rechts das Jnier- esse an der Abstoßung städtischen Besitzes zu verstehen. Von bureaukratischcn Hemmnissen müßten die Werk« b e- freit werden, aber der Besitz müßte der Stadt erhalten bleiben. An diesem Grundsatz werde der Ausschuß nicht mehr rütteln; nach Jahrzehnten werde die Bevölkerung ihrer heutigen Vertretung danken, daß sie ihr diesen Sachbesitz, diese Goldwerte erhalten Izat. H a l l e n s l e b e n(D. Ap.) sägte der Vorlage nach, sie habe«ine schwere Enttäuschung bereitet. Ihre Konstruktion der G. m. b. H. sei nicht annehmbar, denn si« mache den Magistrat souverän und schalte die Versammlung aus; ouch werde auf diesem Wege die wirtschaftliche Verselbständigung der Werk nicht erreicht. Nach Herrn Dörr(Komm.) kam dann auch Richard Kunze wieder mit seinen demagogischen Tiraden. Schließlich wurde die Ausschuß- b e r a t u n g beschlossen. Um 7 Uhr gingen die zurückgestellten Abstimmungen vor sich. Der Antrag des Zentrums, einen hervorragenden Platz mit dem Namen„Platz der Republik" zu bezeichnen, wird abgelehnt. Gegen die Linke und das Zentrum fällt der Antrag der Dnat., über die Umbenennung der Straßen mit mehrfach vor- kommenden Namen zunächst die Bezirksämter zu fragen, sowie der Antrag derselben Fraktion, die Beschlüsse der Versammlung vom Juni 1921 über Umbenennung nicht zur Ausführung zu bringen.— Zum Ausschußbeschluß für den Friedhof der Märzgefalle- n e n:„Den Magistrat zu ersuchen, baldigst ein« Vorlag« zu machen, wie der Friedhof der Märzgefallenen dauernd in würdigem Zu- stände zu erhalten ist", hat Genosse K a y s e r den Zusatz beantragt: „Hierzu gehört insbesondere auch die Anbringung einer ange- messenen Umwehrung mit entsprechendem Einganastor, und inner- bald der Umwehrung ein einfaä�r Denkstein mit Inschrift". Dieser Zusatz wird mit 101 gegen 92 Stimmen abgelehnt: darauf gelangt der Ausschußantrag mit großer Mehrheit zur An- nahm«. Der sozialdemokratische Antrag, den Königsplatz in„Platz der Republik umzubenennen, fällt mit 101 gegen 95 Stimmen (Pfuirufe links, Bravorufe rechts). Für die Teilnehmer an der städtischen Volksspeisung hat der Magistrat neue Einkommensgrenzen festgesetzt: Die unentgeltlich« Abgabe des Essens der Volks- s p e i s u n g erfolgt nach Prüfung, wenn das Einkommen der einzelnen Person 8909 M. monaüich nicht übersteigt: die Ab- gab« für die Hälfte des jeweiligen Preises, wenn das Einkommen 16 000 M. nicht übersteigt. Dazu befürwortete Gen. Subke«inen Antrag,„den Magistrat zu ersuchen, die unentgeftliche Abgäbe auf Antrag und nach Prüfung an alle Personen, deren monatliches Ein- kommen die vom Reich für Klein- und Sozialrentner je- weils festgesetzte Einkommensgrenze nicht übersteigt, eintreten zu lasten".— N a w r o ck i(Komm.) verlangte die unentgeltliche Hergabe an all« Personen, die ein Einkommen in Höhe der jeweiligen Er- werbslosenunterstützung haben. Stadtrat Hintze widerlvrach letzterem Antrage, der in seinen Konsequenzen vro Tag 75 Millionen Mark kosten würde, und hatte auch gegen den Antrag der Soz. große finanzielle Bedenken.— Nach Ablehnung des komm. Antrags fand der Antrag der Soz. eine Mehrheit. Der Antrag der Kommunisten vom 1. März d. I.„Der Magistrat wird beauftragt, beim Berliner Polizeipräsidenten Richter die Auf-
Hebung des kleinen Belagerungszustandes zu fordern", wird angenommen, wobei die Dnatl. zunächst sich der Stimmabgabe enthalten und dann dafür stimmen. Die Anfrage des Komm. G ä b e l, ob der Magistrat bereit ist, die Gefahren zu beseitigen, die sich sür die Mieter aus der G a s- 1 absperrung ergeben, wenn die Gaswerke im Falle der Nichtbe- zahlunq der Rechnungen seitens der Hauswirte eine solche ver- hängen, beantwortet Stadtrat Weise dahin, daß dem Magistrat eine direkte Einflußnahme auf die zwischen Gaswerken und Haus- wirten bestehenden Verträge nicht zusteht. Nach Erledigung einer langen Reihe weiterer kleiner Vorlagen schließt die öffentliche Sitzung gegen 9 Uhr. Der Staöthaushalt für 1923. Vorläufige Bestimmungen. Der Haushaltsplan für 1923 wird erst noch Beginn des neuen Rechnungsjahres festgestellt sein. Somit müssen vorläufige Bestimmungen für die Haushalts- Wirtschaft getroffen werden. Da der Haushaltsplan der Einheitlich. keit wegen nach dem Geldwerte vom 1. Oktober 1922 aufgestellt worden ist müssen die vorläufigen Bestimmungen der seit diesem Zeitpunkt eingetretenen sehr beträchtlichen Geldentwertung Rech- nung tragen. Der Magistrat hat die Stadtverordnetenversammlung ersucht, zu beschließen: Bis zur endgülttgen Feststellung des Haus- haltsplans für 1923 findet folgende Regelung der Haushaltswirt- schaft statt: Laufende Ausgaben für das Vierteljahr April bis Juni 1923 können bis zur Höhe eines Viertels des Jahres- j ausgabesolls für 1923 geleistet werden. Als Jahresausgabesoll für . 1923 gilt der auf den Stand vom 1. März 1923 erhöhte Ausgabe- ansatz in dem von der zentralen Finanzverwaltung geprüften Haus- Haltsentwurf für 1923. L. Die außerordentliche Ver- waltung und die bei der ordentlichen Verwaltung für ein- malige Ausgaben angesetzten Mittel dürfen ohne Genehmi- gung der Gemeindebehörden nur in Anspruch genommen werden, wenn der Jahresansatz in dem von der zentralen Finanzverwaltung geprüften Haushaltsentwurf(Stand vom 1. Oktober 1922) die Summ« von 100 000 M. nicht übersteigt. Die hiernach freigegebenen Ausgabcansätze sind gleichfalls nach dem Stande vom 1. März 1923 umzurechnen. C. Von der Beschränkung werden nicht b e- troffen: Ausgaben zur Erfüllung gesetzlicher oder vertraglicher Verpflichtungen und aus einen längeren Zeitraum im voraus fälli- ger Verbindlichkeiten, v. Für Zwecke für die weder durch den Haushal'splan 1922 noch im Laufe des Rechnungsjahres 1922 von den städtischen Körperschaften Mittel bereitgestellt smd, dürfen Aus. gaben nur mit Zustimmung der Gemeindebehörden geleistet werden
Das Kinderelcnd. Wichtige Angaben über die Wohnungsnot in Deutschland Hai eine auf Anregung der Quäker in Berlin-Pankow ausgeführte Ge- ineindeschulfinder-Ümfroqe geliefert. Danach ergibt sich, daß nur 24 Prozent aller Kinder ein Bett für sich allein haben �(im Jahre 1997 immerhin noch 33 Prozent), 71 Prozent schlafen zu j zweit, 5 Prozent(im Jahre 1907: 3,5 Prozent) zu dritt. 47 Prozent ' wohnen in Hinter Hauswohnungen, 26 Prozent in Ein- und Zwei- zimmerwohnungen. Von diesen wird aber vielfach das eine Zimmer mir Küche abvermietet oder die Küche ist infolge Teilung der Woh- nung weggefallen. Bei 13,7 Prozent der Kinder wohnten Familien- fremde in der Wohnung, und zwar je mehr Kinder, um so mehr Fremde mußten aufgenommen werden, so daß in zehn- köpfigcn Familien die Zahl der Fremden mehr als ein Drittel der Kinderzahl bettug. Beachtet man diesen kleinen Ausschnitt aus der allgemeinen Not und zieht die ungeheuere Verteuerung und Vetf- schlechterung der Nahrung und Kleidung in Betracht, so werden au' folgende Ziffern erklärlich: von den 485 000 Kindern Berlins sich 29 000 tuberkulös. 77 000 trank, 120 000 unterernährt. Die Kindersterblichkeit(zwischen 5 und 15 Jahren) hat 1914 25 730, im Jahre 1918 50 391 bettagen. Eine(flscherichule in Sacrow . Schon lange besiand in Fischer» kreisen der Wunsch, sür die Ausbildung von Fi'chern eine geeignete Lehranstalt zu besitzen. Der cbemalige„Jägerbof" am Sacroiver See bat jetzt dazu Perwendung gefunden. Neben der Einführung in die vrattische Fii-berei sollen die jungen Leute in die G c to ä s s e r p f l e g e eingeführt werden, wie sie von hervor» ragenden Praktikern gefordert werde. Für die Ausbildung in der Handfertigkeit ist eine große und modern eingerichtete Werkstatt vorhanden.
Drei Soldaten.
K2i Von Iohn dos Vassos. «US dem amerikanischen Manuskript übersetzt von Julian vumper». 3. Henslowe goß Wein aus einem braunen, irdenen Krug in die Gläser, in denen er hellrot glitzerte. Andrews lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mit halbgeschlosscnen Augen auf-den Tisch mit seinem weißen Tischtuch, aus dem kleine verbrannte Brotstückchen ausgestreut waren, und durch die Fenster auf den Platz draußen, wo zitronengelbe Gas- lampen spärliches Licht gössen, und auf die dunklen Glebel der kleinen Häuser, die draußen lzerumhockten. An einem Tisch an der Wand gegenüber saß ein lahmer Junge mit weißem, bartlosem Gesicht und sanften, dunkelfarbigen Augen, nahe bei dem Mädchen, das um ihn war und das nie die Augen von seinem Gesicht ließ. Ein Ofen summte leise in der Mitte des Raumes, und aus der halboffenen Küchcntür kam rötliches Licht und das Zischen einer Bratpfanne. „Ich möchte reisen", sagte Henslowe und dehnte die Worte schläfrig aus.„Abesiinien, Patagonien. Turkesian, Kaukasus , irgendwohin und überall hin. Was sagst Im dazu, wenn du und ick nach Neuseeland gingen und Schafe züchteten?" „Aber warum nicht hierbleiben? Nichts kann so schön, so wundervoll wie das hier sein." „Ich werde auf'ne Woche nach Neuguinea fahren. Ich kann nirgendwo mehr bleiben. Es ist mir jetzt im Blut, nach all diesem Mord. Der Krieg hat einen Wanderer aus mir gemacht, einen Abenteurer." „Gott , ich wünschte, er hätte aus mir auch so'was Inter- esiantes gemacht." „Binde an deinen Skruveln einen Felsen fest und schmeiß das Ganze von der Pont Neuf hinunter in die Seine. O, Junge, das ist ja jetzt geradezu dos goldene Zeitalter, so nach «ia-nem Belieben leben zu können!" " Du bist noch nicht aus der Armee raus?" �Meine Sorge. Ich trete ins Rote Kreuz ein." 'Wie?" 'fficiß schon, wie das zu machen ist." „Wenn du mir sagst, wie ich aus diesem Heer'raus- komme, wirst du mir wahrscheinlich das Leben retten", sagte Andrews ernst.
„Es gibt zwei Wege. Aber ich werde dir später davon erzählen: sprechen wir über etwas Wichtigeres. Du schreibst Musik?" Andrews nickte und lehnte sich dann in seinen Stuhl zurück. „Es ist wunderbar ruhig und weich hier", sagte er.„Man oergißt so leicht, daß es überhaupt Freude im Leben gibt." „Es ist eine Zirkusparade." „Hast du schon etwas Trostloseres als eine Zirkusparade gesehen? Das ist einer jener Witze, bei denen man nicht lachen kann." „Justine, noch eine Flasche Wein", rief Henslowe. „So, du kennst ihren Namen?" „Ich lebe hier." Justine mit ihren roten Händen, die so viel Geschirr ab- gewaschen hatten, von dem andere Leute gut gegessen hatten, setzte einen roten Hummer auf den Tisch nieder. „Weißt du," sagte Andrews plötzlich, schnell und erregt sprechend, während er sich das unordentliche Haar aus der Stirn strich,„ich hätte nichts dagegen einzuwenden, am Ende eines Jahres erschossen zu werden, wenn ich die ganze Zeit hier leben könnte mit einem Klavier und einer Million Blatt Notenpapier... Es würde sich schon lohnen." „Aber das hier ist ia ein Platz, um zurückzukehren... Stell dir nur vor... hierher zurückkehren von dem tibeta- nischen Hochland, wo du fast ertrunken bist und skalpiert wurdest und die Tochter eines afghanischen Häuptlings geliebt hast, die sich die Lippen immer rot einschmierte, so daß ein süßer Geschmack blieb, wenn man sie viel geküßt hat." Henslowe strich leicht über seinen kleinen, braunen Schnurrbart. „Aber welchen Wert hat es, die Dinge nur zu sehen und zu fühlen, ohne sie ausdrücken zu können?" „Welchen Wort hat es überhaupt, zu leben? Nur um des Spaßes willen. Mann, verflucht noch'mal" Sie starrten beide schweigend aus dem Fenster in den Nebel, der sich dicht dagegen gelagert hatte wie Baumwolle, nur weicher und mit einer grünlich goldenen Farbe. „Die Militärpolizisten werden uns die Nacht nicht kriegen", sagte Henslowe und schlug mit der Faust auf den Tisch.„Zum Donnerwetter noch'mal. Erinnerst du dich an den Mann, der die Weinflasche zerbiß? Der gab um nichts was. Und du sprichst von Ausdrücken. Warum drückst du das nicht aus? Ich denke, das ist der Wendepunkt deines
Lebens. Das ließ dich ja nach Paris kommen. Du kannst es nicht ableugnen." Sie lachten beide laut. Andrews versuchte, mit den blassen Bioleitaugen des lahmen Jungen und den dunklen Augen des Mädchens Kontakt zu bekommen. „Wollen ihnen davon erzählen", sagte er noch lachend, und sein Gesicht, das nach den Monaten im Hospital noch immer blutlos war, rötete sich plötzlich. „Salut!" rief Henslowe, wandte sich um und erhob das Glas. Wir lachen, weil wir vom Rotwein blau sind!" Dann erzählte er ihnen von dein Mann, der Glas ge- gesien hatte. Er stand auf und erzählte gestenreich und lang» sam, mit seiner gedehnten Stimme. Und Justine lächelte. „Und ihr lebt hier?" fragte Andrews, nachdem sie alle gelacht hatten. „Immer. Nur selten gehe ich in die Stadt. Es ist so schwierig. Mein linkes Bein ist ganz abgestorben!" Cr lächelte wie ein Kind, das von einem neuen Spielzeug erzählt. „Und du?" „Wie könnte ich wo anders fein", antwortete das Mäd - chen.„Es ist ein Unglück, aber es ist so." Sie schlug mit der Krücke auf den Boden und machte ein Geräusch, als ob jemand damit ginge. Der Junge lachte und legte den Arm fester um ihre Schulter. „Ich möchte gern hier leben", sagte Andrews einfach. „Warum tun Sie es nicht?" „Aber siehst du denn nicht, daß er Soldat ist?" flüsterte das Mädchen. Der Junge runzelte die Sttrn. „Er ist es sicher nicht aus freien Stücken", meinte er. Andrews schwieg. Unsagbare Scham ergriff ihn vor diesen Menschen, die nicht begreifen konnten, daß man sich der Schmach des Soldatseins beugte. „Die Griechen pflegten zu sagen." meinte er bitter und brauchte ein Wort, das ihm schon lange im Sinn gelegen hatte. „daß. wenn ein Mann Sklave wird, er am ersten Tage die Hälfte seiner Tugend verliert." „Wenn ein Mann ein Sklave wird." wiederholte der Lahme sanft,„verliert er am ersten Tage die Hälfte seiner Tugend." �„. „Wozu Tugend? Wir brauchen Liebe," sagte das Madchen. „Ich habe deine Tomaten gegessen, Freund Andrews, warf Henslowe ein,„Justine wird uns noch welche geben." (Fortsetzung jotgt.)