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flbenöausgabe Nr. 236 40. Jahrgang Ausgabe B Nr. 117
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Das Geheimnis ües Jechenbachurteils. Wofür Fechenbach zehn Jahre Zuchthaus   erhielt.
Es fit nach dem furchtbaren Fechenbachurteil so- fort m weitesten Kreisen des deutschen   Volkes ganz richtig empfunden worden, daß durch diesen Richterspruch kein Ver- brechen gesühnt, sondern ein politischer Gegner erledigt hatte werden sollen. Nachdem Evstter ermordet worden war, sollte auch sein ergebenster Schüler und ehemaliger Privatsekretär zu Fall kommen; seit den Maitagen 1919 hatte man beobachten können, wie die bayerische Justiz am Werke war, Fechenbach ins Verderben zu stürzen. Daß Fechenbach im Verlaufe des Januarftreiks 1918 eine hervorragende Rolle gespielt hatte, wurde ihm ebensowenig verziehen, wie es ihm vergessen wurde, daß er während der Eisnerzest im Ministerium des Aeußeren den alten Gehsrmräten oft recht unbequem geworden war. Zu alledem hatte er auch noch den tapferen Kampf des ermorde- ten Genossen Gareis gegen die separatistischen Kahrschcn Einwohnerwehren mit journalistischen Mitteln unterstützt und hatte häufig durch seine Tätigkeit als parlamentarischer Ve- richterstatter der bayerischen USP. die bayerische   Reaktion in peinliche Verlegenheiten versetzt. In den Volksgerichten hat die bayerische   Reaktion eine Waffe, deren Zweck es weniger ist, dem Rechte zum Siege zu verhelfen sie selbst sind ja als verfassungswidrige Institutionen allein durch ihr Dasein schon dauernde Versündigungen am Recht als vielmehr poli­tische Aufgaben zu lösen. Auf diese Weise ist auch die Auf- gäbe Fechenbachs erledigt worden. Das Fechenbachurteil wurde in der gesitteten West als Fehlurteil empfunden. Auch der Sachverständige Dr. Thimme fühlte in sich die moralische Nötigung, sich vor aller Oesfentlich- keit dieser Auffassung anzuschließen. Nichtsdestoweniger schmachtet Fechenbach heute noch im Zuchthaus. Täglich wird unser Rechtsbewußtsein durch die Tatsache verletzt, daß ein Mensch, an dessen Unschuld wirnichtzweifeln können, auf Grund eines Verfahrens, von dem der Vertei- diger Iustizrat Bernstein sagte, daß es eines zivili- fiertenStaatesunwürdig sei, um Ehre und Freiheit gebracht ist. Die Kritik, die das Urteil in der anständigen Presie fast aller politischen Richtungen erfuhr, war nicht mäch- tig genug, um die Zuchthaustore zu öffnen. Die bewunüe- rungswüvdig sachlich geschriebene Broschüre des Rechtsanwalts Dr. H i r s ch b e r g über denFall Fechenbach" hat zwar viele Gewissen wachgerüttelt: die Freilassung und Rehabilitierung des unschuldig Verurteilten hat freilich sie auch nicht bewirkt. Nun nimmt in diesem bisher oergeblichen Kampfe um die chellighalwng derMajestät des Rechts" der Vorsitzende des Republikanischen Richterbundes  , Kammergerichtsrat Frey- vn u t h, das Wort. Rechtsanwalt Hirschberg haste in seinem Fall Fechenbach" lediglich einen objektiven, durch sich selbst wirkenden Prozeßbericht gebracht; Kammergerichtsrat Fveymuth gibt in seiner Broschüre*) eine Würdigung jenes Prozesses vom juristischen Standpunkte aus. Der bayerische   Iustizminister Gärtner hat bei Gelegen- heit der Fechenbachinterpellation im Bayerischen Landtag   be- merkt, daß die Kritik an dem Urteil es auf drei Punkte ab- sehe: 1. auf die Frage der Volksgerichte überhaupt, 2. auf das in dem Fall Fechenbach eingeschlagene Verfahren und 3. auf das Urteil selbst. Freymuth macht sich bei seinen Darlegungen diese Gliederung zu eigen. Der kurze Ueberblick über die 414jährige Geschichte der Voltsgerichte zeigt, wie diese Gerichte ursprünglich nur für wenige, besonders schwere Straftaten (Mord, Totschlag, Plünderung, Einbruchsdiebstahl, Brand- fstfwng) und nur bei Ertappung aus frischer Tat zuständig waren. Für politische Straftaten kamen sie anfänglich nicht m Frage. Durch eine Verordnung vom 24. Januar 1919 wurde ihre Zuständigkeit ausgedehnt; jetzt wurden ihnen noch unterstem: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedens- bruch, Landzwang, Bandenbildung, Anreizung zu Gewalt- tätigkeiten; das Erfordernis der frischen Tat siel hinweg. Auf Grund der neuen Zuständigkeit hotte sich das Dolksgericht nun- mehr mit Straftaten zu befassen, denen immerhin schon eine gewisse Färbung zukommt. Zu ausgesprochen politischen Ausnahmegerichten wurden die Voltsgerichte indes erst durch dasGesetz über die Einsetzung von Volksgerichten bei inneren Unruhen" vom 12. Juli 1919, für das die Haupt- Verantwortung der damalige Iustiznrinister und demokratische Abgeordnete Dr. Müller- Meiningen trägt. Durch dieses Gesetz werden auch Hoch, und Landesverrat den Volksgerichten unter st ellt; die Rechstprechung des Reichsgerichts wurde damit für diese wichtigen Gebiete ausge- schaltet. Das mußte je länger desto mehr um so unerträglicher werden, als die Volksgerichte so eingerichtet sind,daß sie den grundlegenden Gesichtspunkten des normalen Strafprozesses in Kulturstaaten ins Gesicht schlagen". Man denk« mir daran, daß für Verhaftungen, Beschlagnahmen und Durchsuchungen so gut wie keine Schranken bestehen, daß eine schriftliche An- klage nicht nötig ist und daß es kein Rechtsmittel gegen das Urteil gibt, keine Berufung, keine Revision,
') Das Fechenbachurteil, von Kammeraerichtsrat Freymuth, mit einem Vorwort von Dr. T h! m m e. Verlag Die «reue Gesellschaft, Berlin  .
nicht einmal ein Wiederaufnahmeverfahren. Selbst die fran- zösischen Kriegsgerichte ewähren den Angeklagten bessere Rechtsgaransten. Es ist angesichts des Fortbestandes der bayerischen Volksgerichte unverständlich, woher der bayerische  Innenminister S ch w e y e r den Mut nahm, den Staats- gerichtshof zum Schutze der Republik   als ein Ausnahmegericht zu bezeichnen, das das Rechtsbewußtsem des deutschen   Volkes untergrabe. Freymuch kommt zu dem Schluß:Seit späte- stens den 14. August 1919 ist die ganze Einrichtung ungesetzlich. Weder wird sie durch Art. 10 der Reichsoerfassung gedeckt (Kriegs- und Standgerichte) denn sie find weder Kriegs- noch Standgerichte, noch halten sie sich im Rahmen des Art. 48 daselbst(Ausnahmezustand), noch werden sie durch Art. 178 Abs. 3(Anordnungen auf Grund bisheriger Gesetze) am Leben erhalten." Mit Recht beklagt Freymuth die im- Mögliche Stellungnahme des Reichsministers H e i n z e in der Reichstagssitzung vom 13. Februar 1923, in der Heinze unver- ständlicherweife erklärte, daß die Volksgerichte keine Einrich- tung feien, die der Reichsverfassung widerstreiten. Nach- ahmenswert erscheint dagegen die Entscheidung des Ham­burger Amtsgerichts, das es ablehnte, einem Rechtshilfe- ersuchen des Volksgerichtes Folge zu leisten. Es wäre zu be- grüßen, wenn sämtliche außerbayerischen Gerichte dem Stand- Punkt des Hamburger Gerichts beitreten wollten. In Hinsicht auf das Verfahren im Fechenbach-Prozeß kritisiert Freymuth insbesondere diedurchaus unsachliche und gesetzwidrige Art, in der die Vorschriften über die Oeffent- lichkest.. gehandhabt worden sind." Der Ausschluß der Oeffentlichkeit soll bewirken, daß das, was geheim ist, auch weiterhin geheimgehalten bleibt. Weder die Erzberger-Denk- schrist, noch das Ritter-Telegramm, noch auch das Dasein von Geheimorganisationen waren jedoch zur Zeit des Fechenbach-Prozesses noch Geheimnis. Es gab nichts mehr zu verheimlichen. Der Ausschluß der Oeffentlichkeit mußte deshalb den Eindruck erwecken,daß das Verfahren und das Urteil das helle Licht der Oeffentlichkeit zu scheuen haben." Das Urtell selbst verletzt nach der Auffassung Freymuths in mehrfacher und sehr schwerwiegender Art Recht und Gesetz, Wahrheit und die allgemein aner» kannten Regeln der Logik." Schon im Jahre 1920 war Fechenbach wegen Urkundenunterdrückung rechtskräftig freigesprochen worden: das Verfahren wegen Landesverrats wurde damals eingestellt. Das Landgericht erwähnte in seinem Urteil, daß Eisner selbst den fraglichen Urkunden schon zur weitesten Verbreitung verholfen habe. Mithin war die Straf- klage verbraucht: das volksgerichtliche Urteil oerstößt gegen den anerkannten strafprozessualen Grundsatz:iNe bis in idern"(nicht zweimal dasselbe, d. h. der Angeklagte darf wegen derselben Tat nicht nochmals mit einer Strafklage über- zogen werden.) Wollte man aber dennoch annehmen, daß sich Fechenbach durch die Weitergabe des Ritter-Telegramms strafbar gemacht habe, so hätte doch unter keinen Umständen vollendeter Landesverrat angenommen werden dürfen. Payot hatte im Journal" das Telegramm unter Namenszeichnung ver-
öffentlicht; war die Oeffentlichkeit Landesverrat, dann war Fechenbach nicht Mittäter, sondern schlimmstenfalls nur Ge- Hilfe. Mittäterschaft konnte bei Fechenbach noch viel weniger angenommen werden als etwa bei dem gleichzeitig verurteil­ten Wemer T echo w, der den Kraftwagen gelenkt, in dem die Mörder saßen, den Mordplan gegen Rathenau   mitbe­raten und sogar die Maschinenpistole in den Kraftwagen ge- bracht hatte. Der Staatsgerichtshof verurteilte aber den Techow lediglich wegen Beihilfe zum Mord. Indes durfte die Veröffentlichung des Ritter-Telegramms überhaupt als Landesverrat gewürdigt werden? Freymuth ist in der Lage, endlich den Wortlaut des mysteriösen Telegramms zu bringen. Es lautet: Baron Ritter an die bayerische Regierung. Der Papst billigt ein scharfes Vorgehen Oesterreichs   gegen Serbien  . Der Sardinalstaatsjekretär hofft, daß dieses Mal Oester- reich standhalten wird. Er fragt sich, wann es denn sollte Krieg führen können, wenn es nicht einmal entschlossen wäre, mit den Waffen eine ausländische Bewegung zurückzuweisen, die die Er- mordung des Erzherzogs herbeigeführt hak. und die in Rücksicht aus die gegenwärtige Lage Oesterreichs   dessen Aortbestand gefährdet. 3n seinen Erklärungen enthüllt sich die Furcht der römischen Kurie vor dem pauslawismus. Gezeichnet Ritter. Für die Weitergabe dieses Telegramms an den Schweizer   Journalisten Payot wurde Fechenbach zu 10 Jahren Zuchthaus ver- urteilt. Ein weiteres Jahr Zuchthaus erhielt er wegen seiner Berichte über die Geheimorganisation, so daß er im ganzen 11 Jahre im Zuchthaus sitzen soll. Jedermann fragt sich, wie die Veröffentlichung dieses Telegramms dem Deutschen Reiche jemals hätte schädlich sein können. Das Münchener   Gericht behauptete: Der Papst habe sich in der Zeit vom Waffenstillstand ab für Deutschland   bei den Ententemächten oerwandt. Er habe sich auch um Milde- rung der Blockade bemüht. Durch die Telegrammveröffent- lichung sei die Tätigkeit des Papstes lahmgelegt worden. In überzeugender Erörterung zerfasert Freymuth diese geradezu kindliche Konstruktion des Münchener   Gerichts: er weist nach, wie das Volksgericht sowohl gegen den Grundsatz: In dubio pro roa(In Zweifel für den Angeklagten) wie überhaupt gegen die gewöhnlichsten Gesetze logischen Den- kens verstieß. Wir stimmen ihm zu, wenn er sagt:Ein solches Urteil wie das Fechenbach-Urteil war überhaupt nur vor dem bayerischen Volksgericht möglich: niemals wäre es von dem Reichsgericht gefällt worden, vor das die Sache von Rechts wegen geHärte." Die Schrift Freymuths wird, wie wir hosten, auch dem Reichstag   ein Ansporn sein, sein vielleicht schon allzu lange währendes Stillschweigen zu dem bayerischen Justizmord zu brechen. Dieser Justizmord muß wieder gutgemacht werden, damit niemand daran zweifeln kann, daß wir als ein schwaches Volk Gerechtigkeit nicht nur vom Ausland verlangen, sondern daß wir auch oerstehen, ihr innerhalb der eigenen Grenzen Geltung zu verschaffen.
Halöwins Kabinettsbilöung.
London  , 23. Uld(Reuter.) Es verlautet, daß die Reu- blldung de- Ministerillms nicht vor Mittwoch abend beendet fein wird. Am nächsten Montag vormittag wird eine Sitzung der konservativen Partei abgehalten, in der Daldwin zum Führer der Partei vor Wiederaufnahme der Sitzungen des Parlaments am Montag nachmittag gewählt werden soll. Eurzon soll zu den ersten gehört haben, die anerkannten, daß der Premierminister Mit­glied des Unterhauses sein müßte. London  . 23. Mai.  (WTB.) Di« Press« rühmt in ihrer Deur- teilung Baldwins vor ollem die kaufmännischen Fähigkeiten des neuen Premierministers. Dem Parlamentsberichterstatter derTimes" zufolge wird die Neubildung des Kabinetts große Schwierigkeiten nicht bereiten, da die meisten der früheren Kollegen Baldwins bereit seien, jetzt unter seiner Leitung zu dienen. Viel häng« von der Haltung Lord Eurzon s ab. Baldwin und der größte Teil der unionistischen Partei würden gern sehen, wenn Curzon das Amt des Außen- Ministers behalte. Es müsse jedoch anerkannt werden, daß feine Gesundheit nicht allzu gut sei, und daß er daher der Ansicht sein könne, daß die Zeit gekommen sei, wo er die Lasten jüngeren Schultern überlassen könne. Sollte Curzon nicht im Amte bleiben wollen, so werde der Posten des Staatssekretärs des Aeuße- ren vielleicht Lord Robert Cecil   angeboten werden. Dem Be- richterstatter derTimes" zufolge verlautet weiter, der neue Pre- mierwinifler sei der Ansicht, daß die Zeit gekommen sei, wo die vollständige Einheit der konservativen Partei wieder ein« vollendete Tatsache sein sollte. Es sei daher voll- kommen begreiflich, wenn Baldwin Einladungen an gewisse vor- malige Minister ergehen lasse. Es bestehe jedoch wenig Aussicht
darauf, daß Brrkenhead gebeten wird, der neuen Regierung beizu- treten. Londoner   Prcstestimmeu. London  , 28. Mai.  (MTB.) Zu der Ernennung Baldwins schreibtDaily Expreß  ": Keine besser« Wahl hätte getroffen werden können.Daily Mail" sagt, die Wahl werde im ganzen Lande und bei der konservativen Partei sehr vvlks- t ü m l i ch fein.M o r n i n g Post", derzufolge die Ernennung Baldwins in finanziellen und kaufmännischen Kreisen mit allge- msiner Befriedigung aufgenommen wurde, schreibt in einem Leit- arttkel, niemand versteh« das Problem des Tages besser: Die Wiederbeschäftigung der Industrie und der Arbeits- losen Englands. Das ArbeiterblattDaily Herald" hebt hervor, daß Baldwin ein Buflneßmann ist und rühmt sein gesundes Urteil, sein« Güte, seine Ehrlichkeit und seinen aufrichtigen Wunsch, bessere Verhältnisse im Innern und friedliche und freundschaftlich« Verhältnisse nach außen zu schaffen.(Ob diese Wiedergabe das Urteil desDaily Herold" zutreffend skizziert, können wir noch nicht wissen zweifeln aber einigermaßen. Red.) Der Lloyd Georg« nahestehend«Daily C h r o n i c l e" überschreibt dagegen seinen Leitartikel: D i e h a r d e obenauf! Auch ,W e st m i n st er Gazette" schreibt, die Wahl Baldwins fei ein weiterer Triumph für die Diehards und ein möchtiges Hindernis für jedes Wiederaufleben des Ge- dankens an ein« Zentrumspartei.  Daily News" be- tont, die beherrschende Erwägung war die Ueberzeugung, daß der neue Premierminister wie seine vier Vorgänger Mitglied des Unter- Hauses fein müsse.Times" schreibt, der neue Premier habe jetzt eine Gelegenheit, sein« Regierung auf eine weitere und stärkere Grundlage zu stellen. Er müßte in der Lage sein, sofort die s in n- lose Kluft in der konservativen Partei zu überbrücken.