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Seilage öes Vorwärts
Mtttwoch, 27.?lln! 1923
Gegen die Aersthlagung GrsK-Serlins Die Wohnungszwangswirtschaft in der Stadtverordnetenversammlung.
Die Stadtverordneten machten gestern rasche Arbeit und räum- ten mit einer langen Reihe Vorlogen auf, um die bis zu ihren Sommerferien noch verfügbare Zeit, je eine Sitzung am Donnerstag und am Freitag, auf die Fertigstellung des Haushaltsplanes oer- wenden zu können. Ein lebhafterer Ton kam in die Verhandlungen erst in ihrem letzten Teil, als die Tätigkeit der Wohnungämter erörtert wurde. Stadtrat Genosse W u tz k r> und Stadtverordneter Genosse P a t t l o ch warnten vor Aufhebung der Wohnungszwangs- Wirtschaft, weil dabei die Minderbemittelten überhaupt keine Woh- nungcn mehr erhielten. Noch um g Uhr abends kam der wichtige, die geplante Aenderung des Gesetzes über Groß- Berlin betreffende Antrag zur Verhandlung, den Genosse Haß mit einer ausführlichen Rede begründete. * Zur Verhandlung gelangten zunächst die Ausschußaniräge zur Magistratsvorloge betreffend Maßnahmen zur Verbilligung des Bestattungswesens. Abweichend von dem Entwurf halte die bürgerliche Mehrheit des Ausschusses beschlossen, daß die neuen Gebührensätze erst nach drei Monaten in Kraft treten sollen; gestern verlangten die beiden Rechtsparteien eine weitere Hinausschiebung dieses Termins bis zum 1. Januar 1924. Genosse Harnisch er- klärte, daß mit Annahme dieses Antrages die Vorlage für ste wert- los und damit unannehmbar werden würde. Nach längerer Er- örterung ging die Vorlage auf Vorschlag unserer Genossen an den Ausschuß zurück.— Mit dem Erlaß eines Ortsgesetzes über die U n fa l l f ü r f o rg« für die Beamten und Festangestellten und deren Hinterblieben« hat sich der Ausschuß einverstanden erklärt. Ein Antrag unserer Genossen, bei der Berechnung der Unfallrente für die Angehörigen der Feuerwehr das Höchsteinkommen ihrer Berufsgruppe zugrunde zu legen, wurde mit 89 gegen 78 Stimmen abgelehnt, desgleichen der Antrag, auch den Weg vom und zum Dienste in die Unfallgefahr einzu beziehen; die Vorlage kam in der Ausschußfassung zur Annahme.— Für den Abbruch der Schlau- gengrabcnbrücke in der Grunewol-dstraße in Spandau und für die Zuschüttung des Grabens an dieser Stell« wurden 12 Millionen Mark bewilligt.— lieber die Ucbernahmebedingungen der Viktoria-Fach- und Fortbildungsschule auf die Stadt berichtete Merten(Dem.). Der Ausschuh hat zugestimmt; die Anstalt soll hinfort Viktoria-Fachschule heißen. Die Versammlung bescbließt nach dem Ausschußantraoe und lehnte die Anträge der Rechten, die Anstalt„Diltoria-Jugendschule" zu taufen uird ste dauernd unter weibliche Ceitung zu stellen, ab. Die Anfavfürsorge für Ehrenbeamte fall für Groß-Berlin einheitlich geregelt werden. Die Aus- fchußberatung, über die Genosse Dr. L ö w y referierte, hat zur Annahme der bezüglichen Magistratsvorlage mit einigen Modifi- kationen geführt. Di« Versammlung trat den Ausschußvorschlägen bei.— Mit der Fahrgelderstattung und mit der Gewäh- rung von S i tz u n g s g e 1 d e r n an die den Bezirksschuldeputationen und den Bezirksscbulausslbüssen angehörenden Geistlichen und Lehr- Personen erklärte sich die Versammlung einverstanden; der, von der Genossin Riedger begründeten Antrag, die allgemein« Gewährung von Sitzungsgeldern abzulehnen, fiel mit 86 gegen 7 6 Stimmen. — Nach einer Magistratsvorlage vom 13. d. M. soll die Erhöhung der Ortslohnzulage für dl« städtischen Arbeiter entsprechend der Reichslohnregelung ab 1. März auf 30 Proz. die Gewährung einmaliger Lohnzulagen für März in Höhe von 96 Stunden, für Avril und Mai von je 48 Stunden, sowie die Neufestsetzung der Löhne für die erste und zweite Maihälste in Höhe der Reichsarbeiterlöhne erfolgen: für bei- iiilseberecbtlgt« Kinder soll die Cinkommensgrenz« ab 1. Mai auf 39 009 M. monatlich heraufgesetzt werden.— Di« Versammlung beschließt demgemäß.— Die Gebühr für die städtische Müllbeseitigung ab 1. Juli 1923 wurde auf 600 Proz. (Vorlage 270 Proz.I) des G-bäudesteuernutzungswertes festgesetzt.— Das Ortsgesetz über den Ersatz barer Auslagen und ent- gange n'en Arbeitsverdiinstes an ehrenamtlich tätige Bürger soll der fortschreitenden Teuerung angepaßt werden und die neu« Fassung am 1. Juli in Kraft treten, mit der Maßgabe,
daß von da ab die Pauschalbeträge sich automatisch den jeweisigen Teuerungsverhältnissen anpassen.— Nach kurzen Bemerkungen von Dave(Dem.) und D e t l e f f z e n(Dnatl.) überwies die Ver- sammlung die Vorlag« dem Besoldungsausschuß, dem zugleich ein Dringlichkeitsantrag aller Fraktionen, auch die ehrenamtlichen Mit- glieder der Preisprüfungsstellen zu berücksichtigen, übergeben wurde. lieber Abbau und Tätigkeit der Wohnungsämter hatte der Magistrat am 17. April und 11. Mai der Versammlung Ueberschichten zur Kenntnisnahme unterbreitet.— Pohl(Dnatl.) übt« schaife Kritik an der Wohnungszwangswirtschaft und an der Institution der Wohnungsämter und forderte Abbau und Aufhebung der Wohnungszwangswirtfchast.— Mit Recht verwies Genosse Stadtrat W u tz k i diesen Fanatiker der freien Wohnungswirt- schaft darauf, daß zwar niemand«in« rein« Freude an der Wirksam- keit der Wohnungsämter Hab«, daß aber der letzt« Grund für diesen unerfreulichen Zustand in den miserablen Wirtschafts- Verhältnissen liege und daß auch bei Aufhebung der Zwangs- Wirtschaft die Wohnungen nicht wie die Pilze aus der Erde schießen würden. Die 8 Milliarden, die das Institut bisher gekostet habe, seien nicht umsonst aufgewendet; heute würde ohne die Woh- nungsämter kein Mensch mehr eine Wohnung finden, es fei denn, er Hab« 20 Millionen in der Tasche.(Hört, hörtl) Einigermaßen sei es doch gelungen, das Wohnungs- wesen in Ordnung zu bringen. Der Abbau schreite bei Perso- nal und Amtsräumen stetig vorwärts; die ganze Einrichtung sei ver- einfacht und den Ansprüchen des Publikums gemäßer gestaltet worden.— Genosse Pattloch: Die eigenen Fraktionsgenossen des Kollegen Pohl, die in der Wohnungsdeputation sitzen, müßten ihm bestätigen, daß er von den Dingen, über die er klagt, kein« Ahnung hat. Der Krebsschaden ist, daß unsere Vermieter fast durchweg vor- ziehen, an Ausländern zu oermie.ten, indem sie nur die Rücksicht auf ihren Geldbeutel sprechen lassen; darum fällt es den wohnungsuchenden deutschen Landsleuten so schwer,«in« Wohnung zu bekommen. Ohne die Zwangswirtschaft kämen wir aber vom Regen in die Traufe.— Schumacher(Komm.): Warum macht der Magistrot von seinem Recht, Unterkünfte durch Abtrennung von den größeren und großen Wohnungen zu schaffen, nicht viel energischer Gebrauch?— Di« Versammlung nahm die beiden Bericht« zur Kenntnis. — Von den auf der Tagesordnung stehenden Uranträgen zog die Ver- sammlung auf Antrag unserer Genossen denjenigen vor, welcher von den Sozialdemokraten, Zentrum und der Wirtschastspartei gestellt, sich mit den Landtagsberatungen über Abänderung des Gesetzes Groß-Beriin befaßt. Der am 26. April eingebrachte Antrag geht dahin, den Magistrat zu ersuchen, beim Landtag vorstellig zu werden, seine Beratungen zu vertagen, bis die von den städtischen Körper- schaften in Angriff genommen« Reorganisation der Groß- Berliner Verwaltung praktisch erprobt ist; insbe» sondere müsse das Gebiet und die Finanz- und Steuerhoheit der Einheitsaemeinde unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben.— Genosse Haß führte aus, daß die dem Landtag« vorliegenden An- träge der Dnatl. und der DVp. die Gefahr, daß die aus 94 Ge- meinden bestehende Einheitsgemeinde wieder zerschlagen werd«, bereits bedenklich nah« gerückt hätten. Wenn die Rechtsparteien gegen das Gesetz vom 20. April 1920 so heftig Sturm liefen, wenn sie nicht nur das Gebiet der Einheitsgemeinde wieder zerreißen, sondern auch ihre Finanz- und Steuerhoheit wieder abschaffen wollten, so seien dafür hauptsächlich politische Gründe maßgebend. Die kümmerliche bürgerliche Mehrheit von S Stimmen habe keineswegs alle Blüten- träum« der Reaktion zur Reife gebracht, darum soll« die Axt an die Wurzel gelegt und der Landtag gegen das rote Berlin mobil gemacht werden. Tatsächlich aber habe das Gesetz trotz seiner Mängel schon in den drei Jahren seiner Gellung seine Existenzberechtigung erwiesen: die Notwendigkeit einer starken Zentralstation stehe nach dem Gange der Entwickelung in Deutschland , Preußen unh Berlin fester denn je.— Trotz der vorgerückten Stunde(es war bereits 1410 Uhr vorüber) ließ es sich der Redner nicht verdrießen, die großen Vorteile, die das Gesetz den ehemaligen Einzel-
gemeinden des jetzigen Groß-Berlin, auch den früher widerstreben- den, gebracht hat, gegen die relativ geringen Nachteil« kritisch abzu- wägen. Mit Entschiedenheit lehnte er eine Ueberzentrali- s a t i o n ab. In der für die Frag« tätigen gemischten Deputation könne man auf ein positives Resultat der Beratungen ge- gründete Hoffnung hegen. Quacksalberei und Pfuscherei sei zumal auf diesem Gebiet vom Uebel.(Beifall.) Hierauf nach MIO Ubr Bertagung. Nächste Sitzung Donnerstag Uhr.
Die Rinnftem-Hpmne. Aus Deutsch -Oberschlesien schreibt uns ein Parteigenosse. Heute habe ich zum zehnten Male das schöne Lied von der Judenrepublik grölen hören. Ich könnte somit eine Art Jubiläum feiern. Da ich mich aber auf das Festefeiern nicht be- sonders oerstehe, möchte ich mich darauf beschränken, zu Ehren der eingangs erwähnten Tatsache folgende Zeilen zu schreiben: Wie immer: das Lied wurde nicht gesungen, sondern g e- brüllt. Uitd zwar s o gebrüllt, daß ich mit höchstem Entzücken das Fenster auftat und nach dem brüllenden Wesen Ausschau hielt. Und siehe da: das Wesen lag auf der Straße. Mit dem Rücken auf dem Fahrdamm, mit den Füßen auf dem Bürgersteige; die untere Verlängerung des Rückens aber lag mitten in dem ruhig dahinfließenden Regenwasser des Rinnsteins. Dem Munde ent- strömten mit eruptiver Gewalt die einzelnen gebrüllten Töne des Liedez wie dem Aetna die Lavamassen; und bei dem in stärkstem Fortissimo gebrüllten Worte.Pfui" ging durch den ganzen Körper des Jünglings jedesmal ein mächtiger Ruck, so daß das Wasser im Rinnstein erschrocken stehenblieb und hoch ausspritzt«. Es war«in erhebender Anblick. In derselben Körperlag« könnte man sich die alten Deutschen vorstellen, die bekanntlich immer und immer und.immer noch eins" tranken. Bloß mit dem Unterschied, daß es dazumal noch keine festen Rinnsteine und keine Bürgersteige gab, so daß die edlen Germanen etwas weicher gelegen haben mochten. Doch haltl Es gab noch einen Unterschied: An dem Schädel des holden Sängers vor meinem Fenster vermißte ich die Ochsenhörner. Es könnt« also trotz des gebrüllten Textes immer noch zweifelhaft sein, ob die im Rinnstein liegende Schnapsleiche wirklich von rein germanischer Abstammung war. Doch nun zurück zu dem Lied« selbst. Zehnmal hörte ich es, und jedesmal wurde es gebrüllt von einem oder mehreren— B e- trunkenen. Noch nie hörte ich es von einem normalen Menschen. Ergo komm« ich zu dem Schluß: Das Lied von der Judenrepublik ist die Hymne des Rinnsteins.
Schluß mit der �uslänSersteuec. Die Mehrheit der Finanzdeputation hat sich gestern endlich jur die Beselligung der besonderen Beherbergungssteuer für Ausländer entschieden. Seitens des Auswärtigen Amtes wurden dieselben Bedenken gegen eine solche Sondersteuer geltend gemacht, die auch wir immer und immer wieder dagegen erhoben haben. Die Aeußerungen der ausländischen Presse, vor allem die der holländischen und schwedischen, die durchaus nicht als deutsch - feindlich schlechthin gelten kann, beweisen, wie eine solch« ver- ärgernde Steuer der Volksverständigung und den d e u t- ichen Interessen ganz unmittelbar entgegen wirkt. Durch die Verdoppelung der Steuer neben der Verdoppelung oder Ver- dreifachuna des Hotelpreises für Ausländer ist es dahin gekommen, � daß die Preise für einfach« Hotels in Deutschland tatsächlich die'' Preise ausländischer Luxushotels übersteigen. Hiervon sind be- sonders hart all« die Ausländer betroffen worden, die sich aus beruflichen Gründen, als Arbeiter und Angestellte im Konsulats-... dienst oder im Auftrage der Press« oder im Dienst« der Völker- Verständigung in Deutschland aufhalten. Dazu kam, daß die Be- fristung auf den 1. Januar 1921, die den lange Zeit in Deutsch - land ansässigen Ausländern zugute kommen sollt«, zu einer ganz ungleichmäßigen Behandlueg bei einer sonst gleichartigen Berufs- tätigkeit geführt hat, daß insbesondere eine groß« Zahl Auslands- deutscher von der erhöhten Steuer betroffen wurden. Der nunmehr von der Finanzdeputation genehmigte Entwurf beseitigt all diese Härten und politischen Bedenklichkeiten, ohne dem Staat einen irgendwie erheblichen Einnahmeausfall zu bringen. Denn die für die städtischen Finanzen ausschlaggebenden Einnahmen aus dir Ausländersteuer erbrachten doch nicht alle die erwähnten Berufs-
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Als die Wasser fielen.
Mißmutig arbeitete Gude in seiner Kajüte. Es war, als bekäme er, wohin er griff, nur Bruchstücke in die Hände, und die Splitter stachen ihn in die Seele. Verstaubte Stuben aus längst vergangener Zeit, wie die Wohnung der Schwester in dem alten Familienhause, oder eine elegante, aber im Ver- fall begriffene Beletage mit zerfetzten Tapeten und lecken Heizungsröhren— das waren die Heime, die er vorfand! Es war Nacht geworden. Nyhavn war totenstill jetzt. Nur die alten Planken des Schisses seufzten hin und wieder dumpf, lieber das Deck erklang ein leiser Ton wie Schritte, die elastisch oorbeiglitten und zurückkehrten; in seinen Ohren ein Wiederklang von des Vaters Marsch über den Fußboden der Wohnstube— und später auf dem Deck des Schulschizfes! Machte er noch feine Runde dort oben, ewig über Ordnung und Disziplin an Bord wachend, mit harten Augen und schwerer Hand das Leben feines Sohnes behütend auch jetzt noch nach zwanzig Jahren Stummheit und Tod... * Gerda saß vor ihm in ihrer kleinen Kajüte. Sie war auf dem verblichenen Diwan zusammengekro.chen und hätte die Beine unter den Rock emporgezogen. So- liebte sie zu sitzen und zu erzählen, was sie für feine Ohren angebracht fand. Wie sie da, die Hände im Schoß, die Stirn hoch und gewölbt unter dem fortgestrichenen Haar und mit klugen, klaren und stillen Augen hockte, glich sie einem kleinen Buddha. Wie er jetzt wußte, erzählte sie gern. Er lächelte dazu und sagte neckend, daß sie gewiß zu fabulieren liebte. Vieles. räumte sie denn auch ein, wäre nur eine Art Träume alles das, was ihre Zukunft beträfe. Aber die Kapitel, die sie aus ihrem Leben erzählte, müßte er respektvoll glauben! Er nickte willig: Vieles konnte er kontrollieren und fand denn auch keinen Grund zur Ungläubigkeit, als sie jetzt von ihrer Kindheit in Nyhavn erzählte. „Alles, was nicht wahr ist, bekommen Sie nicht zu wissen", lachte sie.„Aber auch vieles, was wahr ist, nicht!" Sie lehnte sich zurück:„Wissen Sie, daß Millionen da- mals durch meine Finger rannen? In gemünztem Golde? Summen, mit denen Sie in Ibrer Höhle nur in trockenen Zahlen rechnen! Aber ich habe es in dieser meiner Hand sieben Jahre lang gjehalten, von meinem fünften bis zum zwölften Jahre habe ich täglich mit Gold gespielt. Glauben Sie. daß
ich jetzt wieder fabele? Diesmal müssen Sie mit buchstäbsich verstehen! Nyhavn hat zwei Seiten," fuhr sie fort,„die eine ist etwas femer als die andere. Ich wohnte auf der falschen Seite des Kanals in drei kleinen Zimmern dort in der Gasse, das Haus war vor hundert Jahren die Wohnung des Probstes der Garnisonkirche gewesen. Es war ein Fächwerkbau, und der Efeu wuchs ungefähr bis zum Dach hinauf. Alles steht heute noch wie damals. Oft gehe ich vorbei, aber nie hinein. Dazu habe ich keine Lust. Da wohnte ich," fuhr sie fort,„bei der alten Dame, die mich in meinem zweiten oder dritten Lebensjahre adoptterte. Ich nannte sie Tante Mariane, und so wurde sie vom ganzen Hause genannt— sie äfften mir nach, wenn ich es rief!— und später von allen Leuten, ja sogar der alte Bureauvorsteher und der Kontrollprobierer und selbst der alte Münzwart drüben in der Münze nannten sie so, wenn sie miteinander über sie sprachen." Sie beschrieb ihren Aufenthalt in den kleinen niedrigen Stuben.„Sie glichen der Kajüte hier," sagte sie.„Da waren alte Wandschränke, Bodenfenster, so klein wie die Luken hier; sie konnte weit über alle Schornsteine und geborstenen Ziegel- dächer Nyhavns sehen, auf denen die Tauben und oft auch die Möwen sich niederließen. Zwischen den Türen befanden sich fußhohe Schwellen, die jedoch in der Mitte bis zum Fuß- boden abgetreten waren, als wären sie jahrelang als Stiefel- knecht gebraucht worden! Die alten Schlösser in den kleinen weißen Türen waren aus Messing und immer so blank ge- putzt wie das Goldgeld in der Münze, wo meine Tante da- mals Zählerin war." Während sie erzählte, konnte sie sich die alle Frau vor- stellen, wie sie scheuernd und schrubbend, in Nachthemd und Pantoffeln, durch die Stuben fuhr, wenn sie vor sechs Uhr morgens aus ihrem Alkoven gekrochen war. Am Fenster war kein Kanarienvogel mehr; der leere Käfig hing noch vergessen zwischen den Sprossen. Aber es standen immer Blumen auf der Fensterbank, im Winter nur eine Pelargonie, im Frühling jedoch Krokus, Tulpen und Hyazinthen in einem an Draht hängenden Kasten und dazu in einer mit Erde gefüllten Stärkeschachtel Kresse, die Tante Mariane mit einer Nagelschere erntete. Gerda meinte, in den Augen mancher Leute wäre die Tante wohl verrückt gewesen. Ihr schweres graues Haar um- gab immer flammend wie eine Krone ihren Scheitel, sie be- nutzte jede Nacht Papilloten aus einer Zeitung, die sie zu
diesem Zwecke vom Tisch des Münzmeisters mitnahm. Ihre Haarnadeln legte sie nachtsüber zum Auslüften vor das offene Wohnzimmerfenster. Später, als sie immer wunderlicher wurde, kam sie auf den Einfall, jeden Abend alle Stuhl- und Tffchbeine abzuschrauben und in Zeitungspapier gepackt auf den Fußboden zu legen, damit sie sich des Nachts ausruhen konnten. „Ich schlief auf einem Sofa," fuhr Gerda fort,„das wurde allmähllch zu kurz, und vielleicht kommt es daher, daß ich nicht größer geworden bin. Unter mir hatte ich zwei Deck- betten, über mir zwei andere. Tante Mariane sagte, daß Kinder weich liegen müßten, gerade wie Küken. Wenn sie mich weckte, so beugte sie sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr. daß es sieben Uhr wäre, um mich nicht durch zu lautes Sprechen zu erschrecken. Dann weckte sie mich wieder jede Viertelstunde, bis es acht Uhr war und ich aufstehen mußte, und jedesmal sprach sie ein wenig lauter. Zuletzt riei sie, daß die Scheiben zitterten! Dann kämmte sie mich mit ihrem Kamm, den sie zuerst gebraucht hatte, und oft hingen, wenn ich zur Münze kam, lange graue Haare zwischen meinen eigenen. Darauf zog sie mir mehrere Lagen Unterröcke aus Wolle und Barchent an, und endlich nahm Tante mich mit in die Münze, wo wir Geld zählten. Wir gingen von der Gasse nach Nyhavn und dann über die Brücke nach Gammelholm. Dort waren dieselben kleinen Hotels und Wirtschaften wie jetzt, sowohl„Ausguck" wie „Halt aus". Aber die Giebel waren nicht wie jetzt gelb und violett gestrichen. Nyhavn war damals schmutziggrau, und die Lichter leuchteten nicht. Es war allen Kindern streng ver- boten zu antworten, wenn ihnen von einem Manne Bonbons angeboten wurden, denn was sie in den Mund bekamen, war nur ein ausgespuckter Priem! „Ich sehe heute noch." sagte Gerda,„viele von denen, die ich damals kannte. Sie wohnen noch hier. In Logishäusern und Kellern. Bor einem Mann waren wir bange, weil er auf semer Kellertreppe stand und uns lockte, wenn wir vorbei- kamen. Er steht noch da und sieht genau so aus wie damals. Wenn ich ihn sehe, werde ich todbange und möchte am liebsten weglaufen, wie damals, als ich klein war. Aber so war es nur in Nyhavn. Meist lebte ich drüben auf Gammelholm. Später in Charlottenborg, aber meine Kind- beit verlebte ich in dem alten Münzhof. Dort stand Tante Mariane acht Stunden täglich in der Zählsttibe und zählte das Geld des Landes.— (Fortsetzung folgt.)