Kr. 385 ♦ 40. Jahrgang
l. Heilage des vorwärts
Sonntag, 14. �vguft 1423
WW
So leben wir.... Das Erbe der„grotzen Zeit".— Wir Millionäre am Hungertuch.
Fast zehn Jahre sind seit den„gelobten" Iahren vergongen. Es war uns so gut gegangen, daß unsere Stiegerverein« und gelangweilten Offiziertlubs, unsere Patrioten und Alldeutschen es nicht mehr aushielten und unbedingt einmal in einen srischfröhlichen Krieg hineinmußten. Es war damals alles so durchaus selbstverständlich ge- worden, daß man es schon gar nicht mehr in der Hautevolee schön fand und der Papst der Uebersättigten, ER von Gott « Gnaden, es für durchaus angemessen und zeitentsprechend hielt, sein Volk end- lich„herrlichen Zeiten«ntgegenzusühren!" Nun haben wir die Herr- lichen Zeiten____! Wie sie sind, wissen wir. Wir, die Millionäre am Hungertuch, wir, die wir resigniert und müde schon den Maß- stab vergessen haben, den die Arbeitenden anderer Länder gewöhnt sind an ein menschenwürdiges Dasein zu legen. Nämlich so— so leben wir alle Tage...... Unser hungerleiöerniveau. X Wir ha beer uns bescheiden gelernt in Dinge, die für uns un- glaublich gewesen wären, und in Verlstittnisse uns geschickt, die wir für unmöglich gehalten hätten. Wir schlafen nicht mehr wie damals im schonen Bett: es ist jetzt ärmlicher geworden, dürstiger, die Laken und Ueberzüge sind zerflickt und gestopft, teils so faden- scheinig, daß nichts mehr- zu retten ist, teils schon überhaupt fehlend, so daß man auf der bloßen Matratze oder einer Deck« schläft. Neues Bettzeug, das viel« Millionen kostet, ist unerschwinglich, da- Ijer das alte nicht mehr zu ersetzen. Auf dem Frühstückstisch steht die Kanne mit dünnem Tee oder mit Sassee-Ersah. Malzkassee oder Zichorie: doneben, dünn mit Margarine bestrichen, liegen die Klappstullen oder die schwarzen Schrippen. Das Ganze nennt sich „das Frühstück". Nur die Gutgestellten können sich Butter und weiße Schrippen leisten— und das ist auch dann die äußerste .Höh« der Gefühle. Einen weiteren Belag gibt ev nicht. Im g e- flickten Anzug geht Vater dann auf die Arbeit-, in geflickten und dünnen fadenscheinigen Kleidern mit einem«r- erbten Ranzen und mehr zersetzten, als ganzen Schulbüchern die Kinder in die Schul«; im dünnen Fähnchen, im alten Umschlagtuch die Mutter auf den Markt, zum Kaufmann, um irgend etwas zu„erstehen". Auf dem Markt, in den Läden, beim Bäcker und Metzger, keiner denkt mehr an Höflichkeit, an zu- vorkommendes Benehmen, an Entgegenkommen gegenüber den Kunden: im Gegenteil: man setzt auf dem hohen Pferde und schnauzt und.behandelt" den Kunden als einen unangenehmen StSrenfried. Man bietet nicht mehr an; sie reißen sich ja um die Ware, sie stehen stunldenlang um sie an, sie bitten, betteln, schmusen um sie und der Kaufmann kommt sich vor wie ein Neiner Fürst. dem man zu parieren hat, der sich nicht zu genieren braucht,„kaufst da nicht, kaust ein anderer! Was soll ich mich da noch bemühen? Das Geld kommt doch zu mir!" Und hat die Mutter dann glücklich sich olles„erstanden", dann hat sie vielleicht ein Viertel Pfund Butter, ein Pfund Margarine, ein schwarzes Brot, ein halbes Wund Knochen, ein Viertel Pfund Wurst, etwas Suppengrün, ein paar Borillonwürfel, Ersatz, Ersatz und— Angst, daß sie sich über- kauft hat, daß sie zu viel ausgegeben hat daß es nun nicht mehr reicht, daß sie wieder rechnen, rechnen mutz. Die Frau spart in- dessen am Gas, an Feuerung, an diesem, an jenem, als sie endlich das Essen fertig hat: fleischloses Essen, paar Kartoffeln, etwas Gemüse- eine Dürselsuppe vorher, etwas Brot dazu und dann Schluß. Fleisch, das mehrmals in der Woche früher felbstver- ständlich war, kommt nun nur mehr höchstens all« Sonn- tage aus den Tisch und dann auch nur spärlich; ein Pfund kostet über eine Million; das kann die Hausfxan nicht mehr auf- bringen, da alles andere zu viel verschlingt. Dv ist z. B. die große Wäsche. Früher war sie ebenso wie der Hausputz für die Hausfrau eine Selbstverständlichkeit, auf die sie stolz war. Das ist heute anders. Seife, Seifenpulver Feuerung- Gas find so teuer geworden, daß sie sich da einschränken muß. Die Wäsche muß länger getragen werden, dars nur seltener gewaschen werden. Durch beides aber geht die Wäsche noch schneller entzwei. Selbst die Reinlichkeit und Sauberkeit von ehemals ist nicht mehr to selbstverständlich in einer Zeit, in der Waschseife 200 000 M. der Riegel, Seifenpuloer dos Pfund 150 000 M., eine Preßkohle 10 000
Mark und Gas zum Plätten noch teurer ist. So bleibt die Wäsche zum Teil eben ungeplättet; Schönheit kann man sich heute nicht mehr leisten. Kommt dann der Abend, gibt es ein kalles Abendbrot, wieder dünnen Tee oder Malzkaffee, für Vater viel- leicht eine Suppe, für die Kinder etwas Milch, ein paar Stullen dazu mit Margarine oder bei guter Kasse mit Butter, in den wenig- sten Fällen aber mit Belag, meist mit Schmalz. Diaer: Kartoffeln mit Hering. Daß der Gesundheitszustand aller, namentlich der Kinder, dar- unter leidet, ist selbstverständM. Sieht man sich um, so graut es einen, sieht man die vielen unterernährten Kinder, die allzuvielen Zeichen von Rachitis, Tuberkulose und englischer Krankheit. Das Armleute. Abendessen von ehemals.„Sartofseln mit Hering", ist heute zum Abendessen der gutstehenden Vollarbeiter geworden: alles hat sich in diesem Verhältnis verschoben. Ging man früher ins Kino, so hat das auch für die meisten aufgehört; die Kinos werden gefüllt meist von den Verdienern unter den Jugendlichen, Allein- stehenden und Reichen. Noch stärker macht sich das beim Theater bemerkbar. Auch der Arbeiter fand es früher selbstverständlich, sich durchzubilden, Theater zu besuchen, Bücher zu lesen, Gäste, Freunde bei sich zu sehen. Heute ist„Bildung" teuer und Luxus geworden. Bücher gehen in die Millionen; der Beitrag als Volksbühnenmitglicd macht ihm Svgen; Gäste in seiner Familie sind zu kost- s p i e l i g. Man will doch etwas vorsetzen, man muß länger Licht brennen, der Kaffee-Ersatz verbraucht Gas usw. So ist auch das Familienheim von ehemals,„das trauliche", ein Luxus geworden, den sich nicht jeder mehr leisten kann. Roch hat der Arbeiter einen Ausweg in seiner Leihbibliothek, in seiner Volksbühne— aber noch für wie lange? Dann hört auch das auf, ausradiert von der Zeit, die in die Trillion hineinmarschiert. Mutz da noch bemerkt werden, daß jene kleinen Genüsse, die damals mehr als selbstverständlich waren, schon längst es nicht mehr sind: das abendliche Glas Bier, die Zigarre, die Zigarette, der Skat in der Stammkneipe, das Kegeln usw.? Ebenso wie das ist für viele der obligate Sonntagsausslugs INS grüne verschwunden: für dix, die ihn noch aufrechterhalten konnten, wird er longsam ebenso verschwinden, wenn die Eisenbahn statt der Tausende Millitznen verlangen wird. Und, wenn es so weitergeht, wird es nicht mehr lang« bis dahin währen. Und nach vieler Arbeit und schweren Sorgen, kargem Essen und dürftigem All- tag legt man sich unzufrieden ins Bett auf die zerfiickte, dünn«, an- geschmutzte Bettwäsche und denkt nach: Wofür arberte-t man? Wo- für lebt man? Warum ist man...? vergleiche. Viel wird immer betont: ja, uns Deutschen , dem deutschen Ar- beiter sei es stüher zu gut gegangen. Er sei zu unbescheiden. Es j feien einige kleine Vergleiche erlaubt. Vor nicht allzulanger Zeit i war der Schreiber dieses in Holland und zwar in einer Arbeiter- tamilie in Venloo ; die Familie mar- gut genährt, zufrieden und konnte sich etwas leisten. Jedes Kind bekam seinen Liter Milch morgens mit gutem Kakao und einem Ei, sowie Butterbroten. Mittags kam Fleisch auf. den Tisch und abends warmes Essen. Als ich meinen Gastfreunden von unseren Verhältnissen erzählte, schüt- telten sie den Kopf und frugen mich: ja, wie wir da» denn aushalten könnten? Und warum wir denn nichts dagegen unternähmen? Sie tranken kopfschüttelnd ihren Geneoer aus, der immer auf dem Tisch stand. In Schweden , in Norwegen , ja, selbst in der Tscheche- slowakei sah ich das gleiche Bild und hörte ich die gleiche Frage: einen voll bedeckten und gut gedeckten Essenstisch, kleine Alltagsver- gnügen und Sonntagsfreuden und die Frage, wie ist es nur möglich, daß ihr das entbehrt, wenn ihr arbeitet? Und noch ein Hinweis, der auf den amerikanischen Arbeiter. Wer ihn kennt, weiß, was er verlangt: er will fein gutes Morgenfrühstück mit Kakao und Milch, Ei und Weißbrot, seinen kräftigen Lunch, sein Riesenbeefsteak als Mahlzeit, seine Singhall, seinen Klub als Er- holung, seine Partie und Mahlzeit. Dos empfindet er als eine Selbstverständlichkeit, die ihm au 6) jeder, auch der größte Arbeiter- feind als selbstredend zubilligt. Dort heißt es: Ich arbeite gut, also muß ich auch gut essen! Soll ich schlechter essen, dann werde ich auch schlechter arbeiten I
Bei uns heißt es anders: Du mußt dich im Essen bescheiden und noch mehr, noch besser arbeitenl Daß einmal aber die Erkenntnis dämmern wird, die sich in der Frage auslöst: Warum? Warum und wofür arbeite ich denn? dürste aber wohl klar sein. Daß diese Er- kenntnis aber die Katastrophe noch verschlimmern wird, ebenso! Also muß eine Aenderung kommen: die Aenderung durch Herbei- führung einer der Leistung würdigen Entlohnung, durch Rückführung zur Goldmark und Errichtung einer wertbestän- digen Einnahme, die— vielleicht— noch retten können, was ver- lorm zu sein scheint: das menschenwürdige Dosein!
Stillegung üer Straßenbahn? Ab Montag 100«00-Mark-Tarif. Die Verkehrsdeputation hat gestern die Erhöhung des Straßen- bahntariss mit sofortiger Wirkung von Montag ab auf 100 000 Mark erhöht. Die von der Direktion aus Grund ihrer Unterlagen verlangte sprunghafte Steigerung auf 200 000 Mark wurde von der Verkehrsdeputation abgelehnt. Die Straßen- bahn ist in Verlin zweifellos am Ende ihrer Kraft. Angesichts der besonderen Verhältnisse, der Konkurrenz der Stadt- und Ringbahn wie der Hoch- und Untergrundbahn ist es unmöglich, nur mst dem Mittel der Tariferhöhung Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen. Der als wirtschaftlich not- wendig errechnete Tarif führt zum Leerlauf, der rein Verkehrs- politisch vielleicht noch erträgliche Tarif hat ein ungeheures Defizit zur Folg«. Beim 100 Y00-Mark-Tarif wird das tägliche De- fizit etwa 80 Milliarden betragen. Es ist vollständig ausgeschlossen, daß die Stadt Berlin ein solches Defizit stagen kann. Der Verkehrsdeputation blieb in dieser Lage gar nichts anderes übrig als den einzig möglichen Beschluß auf Still- legung der Straßenbahn zu fassen. Am Montag morgen wird sich jder Magistrat in einer außerordentlichen Sitzung mit dieser Sachlage beschäftigen. Einen Ausgang gibt os, auf den wir im„Vorwärts" immer wieder hingewiesen haben: das ist die Schaffung eines einheitlichen Verkehrs unter- nehmen? für ganz Groß-Berlin, das Straßenbahn, Untergrundbahn- Stadt- und Ringbahn einheitlich als eine wirt- schaftliche Zweckgemeinschaft zusammensaßt, dem Durcheinander, der zwecklosen Vergeudung und der wirtschaftlichen Widersinnigkeit des augenblicklichen Systems oder besser der augenblicklichen System- losigkeit«in Ende macht. Dazu gehört Entschlußfähigkeit und so- fortiges Handeln. Alle Unterlagen für /diesen Plan sind längst beschafft und bearbeitet worden. Rur haben bisher die verfchie- denen„Instanzen" sich niemals zu irgendwelchen Entschlüssen aus- raffen können. Es gibt eben immer noch Leute von einem be- ireidenswerten Phlegma, die glauben, am besten zu tun, wenn sie erst alles zusammenstürzen lassen, ehe sie gnädigst geruhen, viel zu spät Hals über Kopf das Nötige und Unvermeidliche zu beschliehen- was man früher forgfälligsr hätte vorbereiten können. Noch unserer Kenntnis wird auch das Reichskabinett sich mit der Frage beschästigen und wir hoffen, daß in dem neuen Kabinett schnellere Entschlußfähigkeit und größerer Arbeitswille zu spüren ist als unter dem selig entschlafenen Herrn Cuno. Die Berliner Bevölkerung muß jedenfalls mit der Möglichkeit rechnen» daß, wenn die Reichsregierung nicht doch eingreift, der Berliner Straßenbahnverkehr nach Ablauf einer vierzehntäglgen Kündigung»- srist für das Personal zum Stillstand kommt. Alle diese kata- strophalen Entwicklungen sind die Folgen der ungeheuer- lichen Jnflationsentwicklung, die die bürgerlichen Kreise nur gar zu gern mit angesehen haben, weil sie in ihrer grenzenlosen Kurzsichtigkeit auf solch begueme Weise glaubten, sich vom Steuerzahlen drücken zu können. Jetzt kommt das Ende mch das ist bitter.
Die neuen Hebühren für Aerzle und Zahnärzte. Vom 15. August d. I. an betragen die Gebühren der Aerzt« und Zahn- ärzle, wie dem„Ämtlichen Preußischen Pressedienst" vom Volks- wohlfahrtsministerium mitgeteilt wind, in Abänderung der Ge- bührenordnung das 2 0 0 0 0 0 f a ch c des Friedenssatzes.
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(Copyrlelil 1923 dz- Orelhlein& Co., Q. ra. d. H. Leiprit) Kilian. Roman von Jakob Bührer . Zweites Kapite l.� An einem Septemberabend fuhr Kilian, nun ein siebzehn- jähriger Bursche, auf einem ziemlich geräuschvollen Fahrrad am Zürichsee entlang talwärts. Er hatte ein neues Sonntags- gewändlein an, aus dem dicken, braunen Stoff, den die Berg - dauern tragen, und sah, wie er so mit blauen Socken unter den etwas knapp bemessenen Hosen, mit fliegenden Rockschößen und einem schwarzen, auf dem Hinterkopf sitzenden Hütlein» daherradelte, gar unternehmend und vergnüglich drein. Das war nun freilich kein Kunststück, denn der Augenblick' war schön und reich wie keiner. Blau, wie ein feingeschliffener Edelstein lag der See; gelb weiß und grau die Uferböschung. dahinter Obstbaumwälder mit tiefen Schatten und dem Flim- mern reifer Früchte, darüber ein Kranz von Bauernhäusern. Villen und Fabriken— Wiesen. Wälder. Htmmel Das alles ging so leicht und schön ins Auge ein, auf dieser tanzsaal- glatten Straße!— Bei Gott , die Schweiz war schon! Das Heimatland!-- Doch dursterzeugend! Da war ein Landungssteg und neben dran ein Wirtshaus. Ei, hinein! Er hatte ja noch mehr als siebzehn Franken. Es fan lich gut am Fenster dicht am Wasser.» Was gab's, denn da? Ein großer Dampfer wallte weiß heran. Ein Rauch stieg auf. und Wellen quirlten weißlich! beim großen Rad. Darüber stand in großer schwarzer Schrift Helvetia '. Und so schön und wichtig zieht das Schiff vor- � bei. Vom Decke winken Tücher, grüßen Hände, und auch am! Ufer iauchzt man:..Grüßgott" und„Juchhei!" Kilian steht dem Schifte lange nach, der Heloetia. Dabei fällt ihm ein, was er von der Schweiz weiß, daß es zweiund-! zwanzig Kcmtone sind, und die Geschichte vom Tell, und die Sache bei Morgarten und bei Murten und überhaupt, daß die Schweizer alleweil gesiegt haben! „Ja, ja, die Schweiz, " sagt Kilian und haut, nachdem er sich umgesehen, ob er allem in der Wirtsstube sei, aus den Tisch vor Vergnügen und trinkt. Aber mit einemmal sind Kilians Gedanken wieder oben in Obsthalden, wo er die letzte., drei Jahre als Stierenbub beim Meyer im Ried verbracht hat. Der Meyer war ein rechter Mann, da konnte man nichts sagen. Was der nur schon an Holz verdient hatte in den
letzten Jahren! Wenn nur die Frau nicht hätte in das Spital müssen! Aber da kam halt die Seline ins Haus. Die konnte es dem Meister. Und weil das Kilian ärgerte, steckte er einmal eines Abends Selinens Kammerschlüssel in die Tasche. Aber das ward gar nicht bemerkt. Darum sagte er es ihr:„Jeh, Seline, jetzt Hab ich da gestern nacht euern Kammerschlüssel aus Versehen in die Tasche gesteckt. Hobt ihr ihn nicht ver- miß? Wo habt ihr denn geschlafen?" Die Seline hob gerade eine Pfanne aus dem Herd, also daß ein roter Glutschein über chr Gesicht zuckte. Und so, mit gebeugtem Rücken, blieb sie eine lange Weile regungslos, als warte sie geduckt, bis man sie schlage. Kilian aber machte sich auf seinen Holzschuhen leise hinaus. Am Abend stand sie plötzlich im Stall neben ihm. Sie drückte ihm zwei Fündffrankenstücke in die Hände und flüsterte: „Nimm das, aber schweig!" Kilian hatte nichts zu antworten tewußt. Die Seline stand da und starrte in den Boden. ichließlich sagte sie:„Wir waren viel Kinder. Darum, und weil mein Erbteil zu klein war, hat er die Wahlauer-Marie genommen... Aber was geht das dich an? Nur so viel sage ich dir: Schweig, sonst..." Damit war sie gegangen. Kilian fröstelte. Er wußte, wenn er nicht schweigen würde, würde ihm die Seline etwas in den Kaffee tun. Und gestern, am Tage darauf, hatte der Meister zu ihm gesagt:„Kilian, es wäre mir lieber, du würdest dich nach einem anderen Platz umsehen. Ich gebe dir noch vierzehn Franken zu dem neuen Sonntagsgewand und dann nimm dein Velo und fahr in Gottes Namen ins Land hinunter und sieh, wo du unterkommst." z Da KiMn ein bißchen bestürzt war, fügte der Meister hinzu:„In der Schweiz ist noch keiner verhungert." Heute morgen, bevor Meyer ins Vorderholz gegangen war, hatte er Kilian noch die Hand gegeben und gesagt:„Tue recht, Kilian, und schau, daß du zu etwas kommst. Kilian hatte dann noch Ordnung gemacht, sich umgezogen, seine drei Strümpfe in ein Päcklein gebunden und war dann lange im Schopf herumgestoffelt, weil er nicht wußte, ob er der Seline Lebewohl sagen sollte oder nicht. Schließlich war es ihm eingefallen, daß man so einer nicht noch die Hand gebe, war auf sein frischgeöltes Rüßlein gestiegen und in einem Schnautz bis gen Welsen hinuntergesaust, wo er mit Selinens beiden Fünffrankenstücken sein Belo vollends abbezahlt und nachher noch ein Bierlein getrunken hatte. Hierauf ist er gen Rapperswil und weiter seeabwärts gefahren, und nun sitzt er, ein freier Mann, im Restaurant Seeblick, und trinkt seinen zweiten Rotwein, vergnügt und im
Vertrauen auf das klangsame Wort Heloetia, und daß, wie der Meister gesagt hat, in diesem Lande noch keiner ver- hungert ist. Etwas ganz Bestimmtes kann sich Kilian freilich bei dem Wort„Heloetia" nicht denken. Das wird auch nicht gewünscht. Wenn Kilian einen Wunsch hat, ist es der, dem hüchchen Mädchen, das ihm den Wein gebracht, etwas Freundliches oder Anzügliches zu sagen. Aber es fällt ihm nichts ein, und er wäre schon zufrieden, wenn er ihr ein wenig über den Rücken streicheln könnte, so, wie es heute in Welsen ein Herr bei einer Kellnerin gemacht hat. Doch das verflixte Weib kommt nicht in seine Nähe. Auch, als er bezahlt, bleibt sie auf der anderen Tischseite. Dumm! Aber unter der Haustüre muß Kilian doch lachen. Ein- fach so: ohne Grund. Auch fällt es ihm ein wenig schwer, aufs Velo zu kommen. Doch nun geht es ganz gut. Heißt das: eine Weile. Langsam wird das Treten mühsam: auch spürt er jeden Stein. Ein Nagel! Teufel abeinand! Der hintere Reif hat keine Luft mehr. Dort geht die Straße ganz ans Wasier. Dort will Kilian den Schlauch flicken. Üebrigens steht da schon ein Velo an einen Baum gelehnt. Ein schönes Velo, fahrbereit! Und nirgendswo ein Mensch! Dort badet einer! Er schwimmt weit draußen. Ein schönes Velo! Sieben Meter Ueberfetzung, mindestens! Der Mensch schwimmt immer weiter hinaus. Er platscht mit dem Fuß. — Daß er gar keine Angst hat für sein Velo? Wenn man es zum Beispiel vertauschen wollte, mit einem, das gerade keine Luft hätte, der da draußen.. Kilian faßt das fremde Rad bei den Handgriffen. Er zittert. Er beißt die Zähne zusammen. Da läutet die Glocke leise. Aus Bersshen ist er an die Klingel gekommen. Kilian stellt das Rad wieder an den Baum. Er nimmt sein eigenes zur Hand. Kann fein und wahrscheinlich, wenn die Klingel nicht ge- klungen hätte, so hätte Kilian sein altes Rad mit dem neuen des Badenden vertauscht. Vielleicht, weil er nicht ganz nüchtern war! Vielleicht hatte er aber noch ein Schlücklein zu wenig getrunken! Vielleicht war noch die Vermahnung des Pflegevaters in seinem Ohr:„Tue recht, Kilian!" Viel- leicht... Ja, wer kann so bestimmt sagen, warum ein Mensch dies und dies tut, und jenes läßt? Sicher aber ist, das sich Kilians ganzes Leben anders entwickelt hätte, wenn er die Velo oertauscht, wenn er nicht— aus Versehen an dt? Klingel gekommen wäre... (Fortsetzung folgt.)