Nr. 405 40. Jahrgang
Beilage des Vorwärts
Die Ursache der Pilzvergiftungen.
Sammele nicht, was Du nicht kennst!
Freitag, 31. Angust 1923
Stillstand im Siedlungswesen.
Dem Mangel an Mitteln scheint auch das Siedlungs. wesen erliegen zu sollen. Zum Siedeln gehört Geld, nicht nur für die Errichtung von Wohnhäusern und Ställen, sondern ebenso für die Regulierung von Wegen und Straßen. Berlin fann aus dem Ertrag der Wohnungsbauabgabe einstweilen fast nur noch
Das Hauptgesundheitsamt der Stadt Berlin teilt mit: Soweit„ Wiesengrünling" ist wenig bekannt, selbst fundige Bilzfammler so I che Bauten bezuimussen, die an icon regu die Ermittlungen des Hauptgesundheitsamtes der Stadt Berlin bis- wiffen faum von ihr. Aber der grüne Knollenblätterpilz hat auch lierten Straßen errichtet werden, wobei es sich oft her zu einem Ergebnis geführt haben, ist als die Ursache der Pilz - den warnenden Namen Giftgrünling". In einem älteren vergiftungen der letzten Tage der grüne& nollenblätter Pilzbuch sahen wir unter einer Abbildung des grünen Knollen- Die Softspieligkeit der Straßenregulierungen bindert nicht nur, um Ausfüllung von Baulüden durch größere Mietshäuser handelt. pilz( Amanita phalloides) ermittelt worden. Einzelne Fälle find blätterpilzes mit dem Zufak Amanita phalloides( dem lateinischen das neue Siedlungen entstehen, sondern hemmt auch die icon be noch nicht aufgetlärt.- Der grüne& nollenblätterpil3 ift Namen diefes giftigen Bilzes) die einfache Benennung Grünling" stehenden Siedlungen in ihrer Weiterentwidiung. Begreiflich ist der gefährlichste Giftpliz unserer Wälder. Er fann infolge seiner die den Nichtkenner in gefährlicher Weise irreführen könnte. Der die Erregung, die sich der Siedler bemächtigt hat. Zur besseren grünen Farbe mit dem eßbaren Grünling( Tricholoma equestre) mirtliche Grünling ist bei einiger Aufmerksamkeit nicht mit dem verwechselt werden. Er unterscheidet sich von diesem durch die Knollenblätterpilz zu verwechseln, den sein am Grunde did. Wahrung ihrer Rechte hat sich vor einigen Monaten ein Zentralweißen Lamellen( Blätter auf der Unterseite des Hutes) und dem nolliger Stiel fennzeidmet. Auf unsere Anfrage wurde schlossen, der die Intereffen der ihm angehörenden Siedlervereine berband der Siedler Groß- Berlins zusammenges weißen oder grünlichen, mit einem zarten Ring versehenen Stiel, uns auch im Hauptgesundheitsamt der Stadt Berlin von Professor gegenüber Behörden und Unternehmern vertreten will. In einer der am Fuße tnollig verdict und von einer Hautfcheide um- Dr, Seligmann, dem Direktor der Hygienisch bakteriologischen Abgeben ist. Er kommt hauptsächlich im Mischwald unter Eichen teilung, die Auskunft gegeben, daß die neuesten Vergiftungen an Berlin stattfand, wurden gegen die in Frage kommenden Behörden von ihm einberufenen Versammlung, die am Mittwoch in von August an vor.- Der Grunting hat gelbe Lamellen scheinend auf Knollenblätterpilz zurückzuführen sein. Das Haupt- viele Beschwerden vorgebracht. Man hatte den Eindruck, daß bei und einen gelben Stiel, ohne Ring, ohne knollen und gesundheitsamt hat schon am Dienstag mehrere Sachver- dem im Siedlungswesen eingetretenen Stillstand auch die ohne Scheide. Er wächst gewöhnlich erst im Spätherbst in ständige beauftragt, Ermitiungen anzustellen, um diese Schwerfälligkeit des Bureau fratismus eine Rolle fandigen Kiefernwäldern. Das Hauptgesundheitsamt wird, sofern es Bergiftungsfälle möglichst aufzuklären. in der Lage ist, das erforderliche Material beschaffen, baldigft in spielt. Der Verbandsvorsitzende Rektor Lindhorst- Wittenau stelite der Vorhalle feines Dienstgebäudes, Berlin C, Fischerstr. 39/42 Mehr Pilzkenntnis der beste Schuh. in seinem einleitenden Referat den Bankrott des Siedlungs( gegenüber der Sparkasse ) den giffigen grünen knollen- Die Frage nach einem Schutzmittel haten wir schon oben be feiten nicht beseitigt würden. wesens in Aussicht, wenn die den Siedlern gemachten Schwierig. blätterpitz and Abbildungen des jeht noch nicht vorkommenden antwortet: Verschaffe di: mehr Bilzfenntnis! 3wedmäßig ist, mit über Einzelfragen. Walluth- Berlin , der fiber die berzögernde Es folgte eine Reihe von Referaten Grünlings aus stellen. Sobald das erforderliche Schaumaterial einem tüchtigen Pilzkenner sammeln gehen. Der Erfchwerung bei Gesuden um Bauerlaubnis sprach, vorhanden ist, wird dies bekannt gegeben werden. erteilt dir einen Anschaungsunterricht, wie du ihn beffer nicht wies hin auf die daraus in Zeiten rascher Materialpreissteigerung wünschen kannst. Wenn sich dir eine solche Möglichkeit nicht bietet, fich ergebende unerträgliche Berteuerung der BauIn ganz ungewöhnlicher und abschreckender Welse häufen fich mußt du andere Belehrung suchen. Bilzbücher gibt es in toften. Boges- Wittenau forderte, daß die Behörden die bauin diesem Sommer die Nachrichten über Pilzvergiftungen mit töd- tenge, aber sie sind jetzt teuer wie alle Bücher. In Berlin wurden ausführenden Unternehmer scharf fontrollieren, damit nicht durch lichem Ausgang. Alle Pilzliebhaber beschäftigt nach solchen trau- anstaltet, im Botanischen Museum, im Märkischen Museum, im unter anderem an, zur Straßenbefestigung in Siedlungen leichteres eine Reihe von Jahren hindurch Pilz- Ausstellungen vers Pfuscharbeit die Siedler geschädigt werden. Linke- Mahlstorf regte rigen Bortommnissen die Frage, wie man sich gegen Hauptgesundheitsamt. Die Ausstellungen im Märkischen Museum Bergiftungen fügen tann. Daß die altbewährten unter Leitung des als Pilzkenner geschätzten Berliner Lehrers Material zu verwenden, z. B. durch Chauffierung mit Schladen die Mittel nicht zuverlässig sind, hat manche böse Erfahrung gelehrt. Roman Schulz wurden besonders start besucht. Auch Vorträge im Straßenregulierungskosten zu verbilligen. Freistadt - Reinickendorf Auch wenn die Zwiebel, die man mit den Bilzen focht, oder der Botanischen Museum und im Märkischen Museum brachten manche lagte über Belastung der Siedler durch die Steuern und Abgaben, Silberlöffel, den man hineinstedt, sich nicht verfärben, ist noch Belehrung über Pilzkunde. Zu erwägen märe, ob nicht die die für Einfamilienhäuser ganz anders als für große Mietshäuser die für Einfamilienhäuser ganz anders als für große Mietshäuser feine Gewähr gegen Beimengung giftiger Pilze gegeben. Der Schule im Rahmen ihres Botanikunterrichtes mehr als bisher eine Entschließung angenommen, die von den Behörden mehr ins Gewicht fallen. Nach längerer Aussprache wurde einstimmig ficherste Schutz vor Giftpilzen ist immer noch, sich genaue Renntmöglicht dem prafiifchen 3wed angepaßt werden, der sich aus der Rücksicht auf die Siebler forbert. Die Behörden sollen nis der Pilze zu verschaffen, die man sammeln will- und bei Man- Zunahme des Pilzesammelns und der Steigerung der Bergiftungs. fünftig bei allen Siedlungsfragen ihre Maßnahmen nur unter gel genaue: Kenntnis das Pilzesammeln zu unterlassen. Sehr selten gefahr ergibt. Mitwirkung der zuständigen Siedlerverbände treffen. mird bekannt, daß Pilze, die beim Händler getauft, also vermutlich Don gewerbsmäßigen Sammlern heimgebracht waren, zu Vergiftungen geführt hätten, Fast immer find die Bergiftungen durch solche Pilze verursacht, die ein wilde:" Sammler in sorglofer Un. wiffenheit aufgelesen hatte.
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Die Sammlerschar der Hungerzeit.
Die wilden Sammler haben sich in Berlin seit den Kriegsjahren fehr start gemehrt, und das ertiärt auch die auffällige Zunahme der Bilzvergiftungen. Leute, die frühe: dos Pilzefammeln entrüftet als nicht ftandesgemäß abgelehnt hätten, beteiligen fich jetzt mit Eifer daran. Ausgerüstet mit Tüten, Rörbchen, Regen, Säden durchstreifen fie die Mälber ber näheren und ferneren Umgebung Berlins und sammeln von Bilzen, was fie für eßbar halten. Die fortschreitende Teuerung aller Lebensmittel und die immer brückendere Erschwerung der Haushaltführung nötigen immer mehr Familien dazu, auf die Pilzsuche zu gehen, die sie früher als ein Kennzeichen der Armut ansahen. In Hungerzeiten, wie fle mit Beginn des Krieges über uns hereinbrachen, greift der Be drängte nach jedem Mittel, die knappe Nahrungsmenge zu ver. mehren. Die Bilzsucherei wurde in den Kriegsjahren fogar amtlich gefördert, weil es galt, die Hungernden zu beschwichtigen. Erst feitdem ist es üblich geworden, daß ganze Scharen wilder Samm ler die Wälder durchstreifen und abräumen. In diesem Jahr aber ist der Estrog nur gering. Seit langer Zeit ist kein Jahr so arm an Bilzen gewesen, wie 1923. Infolgedeffen wird gewiß auch mancher Pilz mit aufgerafft, der in ertragreicheren Jahren teinen Liebhaber fände. Mangel ftumpft ab und dem Ent behrenden gilt noch vieles als genießtar, was der Bemittelte miß trauisch und voll Widerwillen zurüdweift.
Daß übrigens auch nichtgiftige Bilze zu Ber.. giftungen führen tönnen, ist immer noch nicht hinreichend bekannt. Alte, wässerig gewordene, vielleicht Ihon faulende Pilze soll man meder sammeln noch vom Händler annehmen, weil sie oft ebenso gefährlich wie Giftpilze find. Aber auch frische Pilze foll man nicht zu lange aufbewahren, da immer mit der Gefahr rascher Zersehung zu rechnen ist. Das möglichst bald zubereitete Pilzgericht darf auch nicht Tage hindurch stehen, ehe es genoffen wird. Nicht selten sind nach dem Genuß eines zu lange aufbewahrten Restes zubereiteter Eßpilze schwere Be: giftungen beobachtet worden.
Zahlung der fälligen Steuern.
Tunlichst Gerechtigkeit!
Die Gaspreisberechnung vor dem Haushaltsausschuß. Der Haushaltsausschuß der Stadt Berlin beschäftigte fich in seiner gestrigen Sigung mit den in den letzten Wochen vorgekommenen Schwierigkeiten infolge der Gaspreiserhöhung und beschloß, den Magistrat zu ersuchen, bei der Einziehung der erhöhten Gaspreise tunlich st Milde walten zu lassen und zu ermägen, ob in Zukunft unter Vermeidung neuer Berwaltungsfosten nicht eine Selbstablesung des Gasmesserstandes durch die Ronsumenten oder eine Durchschnittsberechnung des Preises auf Grund der für die einzelnen Wochen festgesetzten Preise erfolgen tann.
-UVA
Die
Der Haushaltsausschuß hat in der Sache, um die es sich handelt, Die Erhöhungen der Vorauszahlungen für Reichseintomten Beit, wie wir sie jetzt durchleben müssen, Milde walten lassen vorbeibeschlossen. Daß der Magistrat in einer wirtschaftlich bedrängmen ft euer find, wie die Hauptsteuerverwaltung mitteilt, an muß, ift eigentlich selbstverständlich. Nicht für selbstverständlich diejenigen Raffen zu zahlen, bei der die Reichseinkommensteuer er mas es sein müßte hoben wird, also, soweit die Einkommensteuer von den städtischen für alle Gasabnehmer in der fritischen Beit gel. Steuerfassen erhoben wird, an diese; sonst an die Finanzkaffen. tenden durchgängig gleichmäßigen Breis festzusetzen. scheint es aber der Magistrat zu halten, einen Die Rhein - Ruhrabgabe und die Betriebsabgaben nur dieses ist der springende Punkt. Fälle, wie wir sie hier schildern der industriellen und landwirtschaftlichen Bemußten, wo dasselbe Revier am gleichen Lage für zwei Abnehmer triebe und die Kraftfahrzeugabgabe find stets an die zwei verschiedene Preise berechnete, sind wohl der Gipfelpunkt fo Reichsfinanztassen abzuführen. Die am 25. August fälligen Be. träge werden von Anfang September ab mit einem Zuschlag in" tunlichst Milde, sondern tunlichst Gerechtigkeit. zialer Ungerechtigkeit. Die Berliner Gasverbraucher wollen nicht Höhe des vierfachen des Schuldbetzages für jeden angefangenen fönnen sie fordern, und zwar so schnell wie möglich. halben Monat telegt. Maßgebend für die Fälligkeit dieses Zuschlages ist der Tag, an dem die Staffe bei Barzahlung das Geld empfängt, ober bei unbarer Zahlung die Verfügungsberechtigung der Donnerstag Morgennummer des Die neue Schlüffelzahl für Hebammen. Zu der Mitteilung in über das Geld erhält. Um sich vor den sehr erheblichen Zuschlägen regelung der Hebammengebühren ist nachzutragen, daß die Borwärts" über die Neuzu schüßen, fann also nur empfohlen werden, möglichst frühzeitig Schlüsselzahl ab 23. Auguft bereits 6000 beträgt. Außerdem zu zahlen. Bei der Wichtigkeit des rechtzeitigen Einganges der Ab- ist nachträglich noch festgesetzt worden die Schlüffelzahl 800 für gaben wird hinsichtlich der Rückstände die Zwangsbeitreibung sofort bie Zeit vom 1. bis 14. August. In Zutunft werden vorans Bei den Pilzvergiftungen der letzten Wochen und Lage ist nach Ablauf der Fälligkeitsfrist beginnen und mit größter Be- fichtlich die Schlüsselzahlen nicht mehr 14täglich, sondern wöchentlich immer wieder beriesengrünling" genamt morben, der schleunigung durchgeführt. Voraussetzung eine: schnel festgesetzt werden. besonders im Plänterwald zu finden sei und die Todesfälle ver. len und glatten Abwicklung der Steuereinzah arjacht habe. Bahrsechinlich handelt es sich aber um den gefähr- Iungen ist allerdings, daß die Steuerbehörden Borsorge treffen, lichen Knollenblätterpilz, der fast stets bei Bilzvergiftun. daß den Steuerzahlern, die einzahlen wollen, das Gelb auch fofort gen seine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Die Bezeichnung und ohne langes Säumen abgenommen wird.
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Der geführliche Knollenblätterpilz.
Es fing sehr übel an. Der Gerichtsschreiber las die Anflageatten vor. Darin stand, daß Kilians Vater im Zuchthaus geendet habe, daß der Bube teine rechte Erziehung genoffen, daß er in Zürich mit gefährlichen Elementen verkehrt, daß er mit Jahrmarktsbuden herumgezogen, daß er in den letzten Jahren feine rechte Beschäftigung mehr gehabt und als Tingeltangel Sänger aufgetreten sei. Trotzdem habe er bei seiner Berhaftung annähernd tausend Frant auf fich getragen, über deren Herkunft er zwar bestimmte, doch nicht über jeden 3meifel erhabene Angaben mache. Hierauf waren in der gleichen einfeitig belastenden Weise die Vorgänge bei der Tat als ein Att roher Eifersucht geschildert. Bugunsten des Angeklagten spräche einzig feine Jugend und der miserable Ruf der Berson, der das Attentat gegolten habe. Das war die Anflage.
Durch das Berhör wurde nichts beffer. Kilian hatte nur auf die Fragen zu antworten, die ihm der Präsident stellte, und die alle nur darauf hinausgingen, feine Schuld und Schlechtigkeit, nicht aber die Wahrheit zu beweisen.
Während der Untersuchungsrichter die Frage offen gelaffen hatte, ob Kilian überhaupt geschossen habe, oder ob ihm die Waffe in der Erregung nur aus Versehen losgegangen fei eine Großherzigkeit des Richters, der Kilian einzig Der dankte, daß er auf freiem Fuß belaffen worden war, hatte die Anklage furzerhand die Mordabsicht als Tatsache hinge stellt, und der Standpunkt der Antlageaften war nun verrüdterweise der Standpunkt des Gerichtspräsidenten. Wer einige Erfahrung in Strafprozessen hat, weiß, daß dies die Regel ist.
Kilian hatte dem Untersuchungsrichter verschwiegen, welches die Geschäfte waren, die Marutschta an dem verhängnisvollen Abend vorhatte. Er hatte sich aber fest vorgenommen, heute am entscheidenden Tag damit nicht hinter hem Berg zu halten. Marutschta mar verreist, und eine Enthüllung fonnte ihr taum schaden, stand file boch in den Gerichts aften in ganz üblem Licht. Nun aber die Antlage und die Fragen des Präsidenten einzig darauf ausgingen, ihn herein.
Die Juristische Sprechstunde findet von Montag, den 3. Sepfember d. 3. ab wieder wie folgt ftati: Montag bis Freitag von 3 bis 6 Uhr Sonnabend von 3 bis 5 Uhr.
zuleimen, ihn mit Teufelsgewalt schuldig zu erklären, ver-| Augenblicke die Sache so darstellen, wie sie sie sehen, wie härtete er in seinem Sinn und gab tnappe Antworten, die alles gekommen ist. Aber es fehlt ihnen die Kraft, und es nichts offenbarten, was nicht schon in den Atten stand.
Ebenso offenbarungslos verliefen die Zeugenaussagen. Am Nachmittag folgten die Reden des Staatsanwalts und des Verteidigers. Der Staatsanwalt wiederholte ungefähr die Anflageatten, ließ zum Schlusse jedoch durchblicken, daß er nicht abgeneigt sei, mildernde Umstände gelten zu lassen; am Mordversuch sei jedoch unbedingt festzuhalten. Der Verteidiger, den auf Wunsch des Angeklagten das Gericht bestellt hatte, war ein blutjunger Mensch. Er las hastig einen Aufsatz vor, in dem gesagt war, daß man der Vererbungstheorie Rechnung tragen müsse, daß es unbedingt angezeigt gemejen wäre, ein irrenärztliches Gutachten einzuholen, daß sein Klient unter allen Umständen und absolut freigesprochen, jedenfalls aber mur des Totschlagverfuchs, aber wenn schon, dann halt in Gottes Namen des Mordversuches, aber dann doch und in Uebereinstimmung mit dem Staatsanwalt, mit Zubilligung von milbernden Umständen schuldig gesprochen werden müsse. Als der junge Herr noch einmal ausholen und von den möglicherweise infolge eines vielleicht vorliegenden übermäßigen Alkoholgenusses ausgelösten Hemmungen reden mollte, begann der Präsident zu huften, worauf der Berteidiger errötend und hastig ans Land schwamm und schloß: Meine Herren Geschworene, und nun tun Sie Ihre Pflicht!"
Der Herr Gerichtspräsident nickte unmerklich und höflich, er sei zufrieden mit dem jungen Mann, und sagte:„ Sie wün schen wohl nicht zu replizieren, Herr Staatsanwalt!" worauf dieser ein„ Berzichte!" in den Saal sahmetterte. Der Präsident wandte sich an Kilian:
"
Angeklagter, Sie haben das letzte Bort. Haben Sie den Geschworenen noch etwas zu fagen?"
Kilian stand auf. Nach diesem Augenblid hatte er fich gefehnt, wie ein Berdurfteter nach einer Quelle, wie ein Blinder nach Licht. Aber nun fehlte ihm die Kraft; nun war er erfchöpft nach dem monatelangen Harren, nach der Folter dieses Tages. Und audem: man hatte sich doch ganz falsch zu der Sache eingestellt. Er selber war in dieser falschen Anschauung befangen, ganz und gar, so daß er alles vergaß, was er sich zu sagen vorgenommen hatte. Es paßte auch gar nicht mehr. Wie vielen Angeklagten geht es so! Sie wollen im letzten
fehlt die Voraussetzung des guten Willens, zu verstehen.
BE
Kilian stammelte etwas, aber plöglich riß er sich mit legter Kraft zusammen und sagte: Meine Herren Geschworenen , ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und habe tausend Franten selber verdient. Ist das etwa nichts? Es scheint Ihnen, daß ich mich rühme. Sie alle sind Geschäftsleute, Handwerker und Schloffermeister und Krämer. Sie wissen, was das heißt, tausend Franken zufammengaunern. Sie lachen. Aber das wissen Sie so gut wie ich: anders geht es nicht. Nur mit Profit und Brozenten tann man in unserer Demokratie etwas auf die Seite bringen. Bei uns aber wird der geachtet und geehrt, der es zu etwas bringt. Deshalb glaube ich nicht, daß Sie mich verachten können, wenn ich jetzt schon tausend Franken beieinander habe. So viel wollte ich Ihnen fagen über meine moralischen Fähigkeiten. Ich glaube, baß Sie mich verstehen!"
Der Saal dröhnte vor Lachen, und der Präsident mußte heftig die Klingel schwingen, bis es Ruhe gab und Kilian, der am ganzen Leibe zu zittern begann, fortfahren fonnte:„ Man hat hier auch abschäßig von Marutschta gesprochen, weil sie eine gewerbsmäßige Dirne sei. Ich frage Sie: Wer ist verächtlicher, derjenige, der etwas Schändliches begeht, und für dieses Schändliche bezahlt, oder derjenige, der damit wenigstens etwas verdient? Will sagen: Ist die Dirne gemeiner oder der, der zur Dirne geht? Wenn aber einer unter Ihnen ist, der noch nie bei einer Dirne war, so soll er aufstehen."
" He, he!" rief der Präsident, die erneute etwas gedämpftere Heiterteit bekämpfend, Sie haben nicht das Recht, die Herren Geschworenen zu beleidigen!"
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,, Es liegt mir natürlich völlig fern," fuhr Kilian erregt fort, jemand beleidigen zu wollen. Ich wüßte auch nicht, wie ich das getan hätte. Ich glaube, daß ich ein wenig irr rede. Ich sage gar nicht, was ich eigentlich fagen möchte. Eigentlich wollte ich sagen... Es fann die Herren nicht mehr beleidigen, wenn ich behaupte, daß Sie alle zu Dirnen gehen, als menn man öffentlich zwischen das Gotteshaus und das Bundeshaus ein Hurenhaus stellt."
Reden Sie zur Sache, oder ich entziehe Ihnen das Wort!" fchnauzte der Präsident.
( Fortsetzung folgt.)