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Str. 407 40. Jahrgang

Beilage des Vorwärts

Die Bürgerlichen gegen den Magistrat.

Werke und Straßenbahn sollen dem Privatkapital ausgeliefert werden.

Sonnabend, 1. September 1923

den Sizungssaal, ohne die Beschlußunfähigkeit der Deputation zu erreichen. In eingehender Aussprache wurde dann von der Depu­tation beschlossen, den vom Magistrat mit den Sachverständigen zu­fammen ausgearbeiteten Abdrosselungsplan vorläufig zu akzep­tieren. Da die wirtschaftliche Entwicklung der Straßenbahn jetzt nach den bedeutenden Tariferhöhungen der Stadt- und Ringbahn vlei günstiger zu beurteilen ist, forderte die Deputation den Ma­

Zwischen den städtischen Körperschaften scheint sich ein scharfer seine wichtigsten Verkehrsanlagen in Berlin durch Betriebsgemein- giftrat auf Grund eines sozialdemokratischen Antrans auf, von der Konflikt zu entwickeln. Die Deutschnationalen haben schaft mit den städtischen und auch den privaten Verkehrsunterneh-| Kündigung der Straßenbahner Abstand zu nehmen. Eine eventuelle einen Dringlichkeitsantrag eingereicht, der für die Straßenbahn wie mungen zu einem den ganzen Berliner Verkehr bedienenden einheit Berkehrseinschränkung soll nach Meinung der Verkehrsdeputation für die übrigen Werte die sofortige Bildung von gemischtwirtschaftlichen Unternehmen auszugeftalten. Für eine solche Lösung, erst Ende nächster Woche geprüft werden, wenn die Entwicklung lichen Betrieben, d. h. auf gut deutsch die Auslieferung der Werke für die ruhig die Form einer Aktiengesellschaft gewählt der Bahn sich genauer übersehen läßt. Zunächst ist der Magistra an das Privatfapital verlangt. Als Vorspann dient eine fünftlich fie eine Lösung wäre, die einen wirtschaftlichen und verkehrs zuschieben. Der Tarif ist von heute ab auf 150 000 m. erhöht. werden könnte, wird die Sozialdemokratie jederzeit eintreten, weil aufgefordert worden, fämtliche Kündigungen um 14 Tage hinan gesteigerte Entrüftung über die Eigenmächtigkeit des Magistrats". technischen Sinn hat. Dem Ceschrei fleiner Parteidemagogen, die Nach dem Beschluß der Verkehrsdeputation auf Stillegung der glauben, einer unwissenden Bevölkerung jetzt einreden zu fönnen, Straßenbahn hat der Magistrat, wie bekannt, einen mit Sachver- die Kommunalisierung fei an allem Elend schuld, werden ständigen durchgearbeiteten Plan zur Einschränkung des Verkehrs wir mit allen Mitteln Widerstand leisten. Die Herrschaften sollen beraten und die Bildung einer städtischen Gesellschaft für die sich nicht über unseren Abwehrwillen täuschen, sie werden ihr Ziel Straßenbahn vorgesehen. nicht erreichen.

Wir sind, wie der Vorwärts" mehrmals dargelegt hat, aus einer ganzen Reihe von fachlichen Gründen der Meinung, daß die wirtschaftliche Entwicklung diese scharfen Maßnahmen, wenn nicht überflüssig, so doch mindestens weniger dringend gemacht hat. Die Sozialdemokratie hat in der Berkehrsdeputation durchgesetzt, daß der Magistrat aufgefordert wurde, die Kündigungen der Straßen­bahner zunächst um 14 Tage hinauszuschieben, und wir erwarten dringend, daß der Magistrat in seiner heutigen Sigung diesem Beschluß beitritt und fein Projekt über die Bildung einer Straßenbahngesellschaft sofort der Verkehrsdeputation zuleitet. Trotz dem muß gegenüber den bürgerlichen Parteien betont werden, daß wir bei den meisten ihrer Bertreter ihr Geschrei über die Selbständig keit des Magistrats für reine Heuchelei halten. In dem furchtbaren Zusammenbruch, der vor einiger Zeit erfolgte, war die Stadtverordnetenversammlung durch eigene Schuld aus geschaltet, und wie man auch zu den Beschlüssen des Magistrats stehen mag, wenigstens fann man nicht leugnen, daß er sofort zu handeln versucht hat und daß er sich dabei von dem Gedanken leiten ließ, den Verkehr wenigstens so weit als es der Stadt nur irgend möglich ist, aufrechtzuerhalten. Würde sich der Mart­zusammenbruch im gleichen Tempo weiter entwickelt haben und wäre die Veränderung mit der Tarifpolitik der Reichsbahn nicht gekommen, dann würde heute wahrscheinlich kein anderer Ausweg übrig bleiben. Da die Stadtverordnetenversammlung die Beratungen über die Re­organisation monatelang bereits hingeschleppt hat, so wäre es unverantwortlich gewesen, offenen Auges weiter die Dinge sich ent­wickeln zu lassen. Wir können deshalb diesmal in das rein de ma= gogische Geschrei nicht einstimmen, um so mehr als die bürger­lichen Parteien so lange nichts gegen die Eigenmächtig­feit des Magistrats einzuwenden hatten, als fie hofften, daß es sich um eine Gesellschaftsbildung mit privatem Kapital handeln würde. Erst als sie merkten, daß der Magistrat nebenbei bemerkt in voller Uebereinstimmung mit den auf diesem Gebiet doch durchaus gut bürgerlich eingestellten Sachverständigen diese Hals- über- Kopf- Auslieferung an das Brivatkapital nicht mitmachte, meil er als Bermalter des städtischen Bermögens genug Verantwortlichkeitsgefühl besaß, änderte sich die Tonart und der ganze Chorus begann zu brüllen. Je mehr die Herrschaften im übrigen für Mussolini - Methoden schwär men, desto mehr entrüsten sie sich, wenn die Not und die vom Magistrat nicht verschuldete Ausschaltung der Stadtverordnetender­fammlung außerordentliche Maßnahmen veranlaßte.

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Der Groß- Machnower Weinberg.

Bom Potsdamer Borortbahnhof fahren wir mit den 3offener Zügen bis Rangsdorf . Wir wandern füdwärts bis zum Bahn­übergang, An der Wegteilung halbrechts zum Langen Berg. der mit Kiefernwald bestanden ist. Am Beginn des Waldes halb­Fußsteig über, der durch die vom Zülowgraben durchfloffene Niederung führt. Jenseits der Niederung ragt links der gleichfalls

Keine Kündigungen der Straßenbahner. lints von der Straße ab durch den Wald. Der Weg geht in einen Bon heute ab 150 000- Mark- Tarif.

In der städtischen Verkehrsdeputation fam es gestern, wie bewaldete 3a belsberg auf. Bald haben wir das Nordende von bereits in einem Teil der gestrigen Abendausgabe mitgeteilt, zu Groß- Machnow erreicht, das größte Dorf des Teltow . Schon heftigen Auseinandersehungen. Die Deputation fühlte sich durch den bei der Gründung im 13. Jahrhundert durch die deutschen Kolo­Magistrat zurückgesezt, de: den Plan der Verkehrsstillegung und nisten erhielt Groß- Machnow die größte Fläche Ackerland von allen Abdrosselung in allen Einzelheiten mit Sachverständigen ausge- Teltowdörfern. Der Name soll auf das slawische Wort arbeitet hatte, ohne die Verkehrsdeputation oder auch nur den Ver- machan Rebel zurückzuführen sein; er ist bezeichnend für die waltungsrat zu hören. Es wurde deswegen einstimmig ein Be- feuchte, an Ausdünstungen des Bodens reiche Gegend. schluß gefaßt, der den Magistrat auffordert, teine endgültigen Ent­schließungen über das weitere Schicksal der Straßenbahn zu treffen, ohne seine Pläne der Berkehrsdeputation vorgelegt zu haben. Ein zweiter Passus, der eine Beschlußfassung über die notwendig ge­wordene Erhöhung des Tarifes angesichts des Verhaltens des Ma­giftrats verweigert, wurde abgelehnt. Daraufhin verließ die Rechte

Wetteraussichten für Sonntag.

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In der Sache wäre die Auslieferung dieses wichtigen Berkehrsunter- Zu Beginn der Woche zog ein ausgedehntes Tiefdruckgebiet nehmens an das Privatfapital ein ungeheures Verbrechen über Mittel- und Nordeuropa und brachte am Montag und Dienstag an der Bevölkerung. Die Schwierigkeiten, in denen sich die in Deutschland weitverbreitete Regenfälle, die stellenweise von Straßenbahn befindet, teilt sie mit allen Unternehmungen, Gewittern begleitet waren. Die Temperaturen stiegen mittags mögen sie städtisch oder privat fein, in ganz Deutschland . Sie fönnen meist über 20 Grad, in Süddeutschland am Dienstag, sogar auf Die Regenmenge war aber fast überall nicht sehr be­durch Privatisierung nicht behoben werden. Diese 27 Grad. Angriffe und Forderungen werden von dem rücksichtslofen Partei- trächtlich, allein in Oberbayern wurden stellenweise über 15 mm. fanatismus rechter Schreier diftiert, dem sich die ein- gemessen. Am Mittwoch hatte sich das Tief nordostwärts ent­fernt, aber bereits in der Nacht zu Donnerstag erreichte ein fichtigeren mehr kommunalpolitisch eingestellten Mitglieder der Sturmwirbel die deutsche Nordseeküste und breitete sich sehr bürgerlichen Fraktionen aus Parteidisziplin fügen müssen, trotzdem rasch wiederum über Mittel- und Nordeuropa aus. Auch dieser viele von ihnen genau wissen, worum es sich handelt. Die Sozial- Wirbel brachte nur wenig Regen, aber stürmische Westwinde, die demokratie wird diesen Angriff auf das städtische Eigentum mit in den Obstgärten vielen Schaden anrichteten. allen Mitteln abzuwehren wissen. Einer Bergesellschaftung der deutschland infolge der verregneten Blütezeit ohnehin schon geringe Baumbehang wurde großenteils unreif herabgeschüttelt. Straßenbahn oder einer Beteiligung privaten Kapitals fönnte nur für die Ernte der Frühkartoffeln und Halmfrüchte war das Wetter dann zugestimmt werden, wenn aus dieser Beteiligung eine wirt aber sehr gut geeignet. Der Wirbel ist jetzt schwächer geworden liche wirtschaftliche und verfehrspolitische För und liegt über Südskandinavien. Für die nächsten Tage ist derung zu erhoffen wäre. Immer wieder müssen wir das Reich daher bei uns mit veränderlichem, etwas kühlerem, darauf aufmerksam machen, daß das Reich die Verpflichtung hat, jedoch meist trockenem Wetter zu rechnen.

15]

Kilian.

Roman von Jakob Bührer .

Ich rede zur Sache!" schrie Kilian, just jetzt rede ich davon. Damit fing mein Irrfinn doch an in jener Nacht. Ich stand auf der Kirchenfeldbrücke, rechts wußte ich das Münster , links der Bundespalast, und da unten stand das Haus, in das Marutschta heute nacht um elf Uhr gehen wollte, um Aushilfs­dienste zu leisten. Und ein Gedanke raste durch meinen Kopf: Mit allem fann man in der Schweiz zu etwas fommen, nur nicht mit Arbeit! Und ich schämte mich der Schweiz , schämte mich des weißroten Kreuzes, das manchmal auf dem Bundes­ haus flattert, schämte mich des Kreuzes, das über den Kirchen steht und dessen, der daran gehangen haben soll, damit er die Menschen bessere. Und sie sind so! Diese Gesellschaft ist so! Doch da fühlte ich, daß ich selber Gesellschaft war, daß ich just an Marutschta eine Verantwortung hatte, daß sie in diesem Falle mein Nächster sei. Und ich ging hin, und bot mich ihr an. Wollte sie heiraten. Dirne hin oder her. Aber sie war zu vornehm in ihrem Herzen. Sie wollte mich nicht ins Un­glück reiten. Wollte mein Opfer nicht. Verschmähte auch mein Geld. So eine war die Marutschka! Da stand ich denn da mit meiner Berantwortung, und da ging die Waffe los. Wie, meiß ich heute noch nicht. So, und nun macht mit mir, was Ihr wollt!"

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Erschöpft sant Kilian auf die Bank.

Der in Nord­

Auf der Mittenwalder Chaussee wandern wir weiter. Das Gelände ist äußerst abwechslungsreich. Bergfuppen wechseln mit Talebenen ab, fleine Waldbestände schieben sich allenthalben in die Acer - und Wiesenflächen ein. Vor uns ragt eine bewaldete Höhe auf, es ist der Groß- Machnower Weinberg. Bei Kilo­meterstein 3,3 zweigt nach rechts ein Fahrweg ab, der uns zu dem Südhang des Groß- Macynower Weinbergs bringt. lleber die Ge schichte seiner Entstehung erzählen die Ablagerungen, die ihn auf­bauen. Er gehört zu den sogenannten Staumoränen. Als der Rand des eiszeitlichen Inlandeises an dieser Stelle längere Zeit still lag, preßte er den Untergrund hoch empor und staute ihn zu Wällen an, die dann noch mit sandigen und tiesigen Ablagerungen der Schmelzwässer oder mit dem unter dem Gife hergeschafften Gr­steinsschutt überkleidet wurden. Die Schmelzwasser flossen südlich zum Baruther Urstromtal ab. In diesen Abflußläufen sind häufig Teile der Hochfläche stehen geblieben, die wie Infeln aus der Niederung aufragen. So sehen wir im Süden des Weinbergs die Insel Telz, nach dem an ihrem Südhang gelegenen, vom Weinberg auch nicht sichtbaren Dorf Telz benannt. Von der Höhe des Weinbergs haben wir eine prächtige Aussicht bis nach Rossen. Im Osten liegt Mittenwalde . Der Groß- Machnower Wein­berg beherbergt eine ganze Anzahl in der Mart Brandenburg nur fehr selten vorkommender Pflanzen. Es ist ein sogenannter pon= tischer Hügel, nach Pontus , dem alten Namen für Kleinasien benannt. Als nach dem Ende der Eiszeit die Steppenzeit für unsere Gegend anbrach, wanderten viele Pflanzen aus den Steppen­gebieten Südosteuropas hier ein. Nachdem der Wald dann mehr und mehr die Pflanzenfinder der Steppe verdrängte fuchten sie ihre Zuflucht an solchen Stellen, die möglichst den Verhältnissen ihrer Heimat angepaßt waren. Auf trockenen und warmen Dert­lichkeiten, wie sie die nach Süden gelegenen Hänge und Berge waren, fanden sie ihr Fortkommen. Auch Pflanzen anderer Her= funft, denen solche Dertlichkeiten aufagten, haben sich hier anges siedelt.

Wir wandern zu dem oftwärts gelegenen Städtchen Mitten­ walde , in dessen Mauern der Prediger und Kirchenliederdichter Paul Gerhardt wirfte. Diele Stadt ist die einzige des Teltop, die noch mittelalterliche Refte birgt. Schon im 13. und 14. Jahr­hundert war sie ein wichtiger Platz und Mitglied märkischer Städtebünde. Von hier können wir entweder die Kleinbahn nach Neukölln, Hermannstraße, benußen( Bahnhof nördlich der Stadt) oder wir fahren mit einer anderen Kleinbahn( Bahnhof öflich der Stadt) nach Königswusterhausen und von hier mit der Görliher Borortbahn( zur Stadtbahn in Niederschöneweide umsteigen) nech Berlin zurück.( Weglänge 12 Kilometer.)

Ein Kubikmeter Gas 350 000 m. Mit Rücksicht auf das neue Lohrabkommen im Bergbau sind auch die Preise für das Gas nicht unerheblich heraufgefekt worden. In der gestrigen Deputations­fizung wurde der Preis für ein Rubitmeter Gas auf 350.000 m. festgesetzt.

er in dieser fremden, unter einem tiefen Regenhimmel mert-| großes Stück Brot in die Tasse fiel, und der aufpringende würdig düster dreinblickenden Stadt und suchte ein Zimmer. Kaffee einen häßlichen Fleck in das blanke Tischtuch setzte, sagte Aber die Menschen waren von einer unerlaubten Fremdheit. fie: Eh, eh, eh!" hob die Brotschale weg, unter der ein ebenso Wahrscheinlich, weil er ihre Sprache nicht fonnte.

Einmal wollte er sagen: Erlauben Sie, ich bin doch schließ­lich ein Schweizer ! Aber wen fümmerte das? Die Zimmer waren vermietet oder für Kilian zu teuer; fertig!

Noch zwei Adressen blieben ihm von den vielen, die er fich in einer Zeitung angefreuzt hatte. Wenn ihm auch hier so schroff die Türe vor die Nase gesetzt wurde, dann wollte er direkt nach Frankreich , in die Fremdenlegion oder auf eine Farm nach Amerita. Nach den Aufregungen der letzten Tage und der ungeschlafenen Nacht war er am Ende seiner Kraft. Am liebsten wäre er mitten auf der Straße auf sein Köfferlein gesessen und hätte zu meinen angefangen.

Da berührte ihn jemand am Arm und sagte: Mein Herr, suchen Sie ein Zimmer?"

Kilian wagte nicht aufzusehen. Er dachte, ein Engel stünde vor ihm. Es war aber eine alte Frau mit einem Hör­rohr und in einem Heilsarmeehut.

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Das Zimmer gefiel Kilian über die Maßen. Und nach­dem sie schnell handelseinig geworden, fonnte Kilian seine Freude nicht mehr zurückhalten! Sie wurden mir von Gott gesandt."

gelber Fled zum Vorschein kam, und lachte:" Sehen Sie, das ist mir gestern auch passiert," und ficherte wie ein Spizbube, daß fie die Sache unter dem Brotblech versteckt habe. Ueber solcher Fröhlichkeit aber stürzte Kilians Herz der alten Frau zu Füßen, ehe er sichs versah.

Er fragte fie, ob sie denn eine Deutsche sei, daß sie diese Sprache fo gut beherrsche. Es ergab sich aber, daß sie eine Welsche war, daß sie studiert hatte, das Gefundarlehrerpatent und den Doftortitel besaß, daß sie aber infolge ihres früh aus­gebrochenen Gehörleidens den Lehrberuf nur ganz furze Zeit hatte ausüben können. Sie hatte sich dann auf den Journa lismus geworfen und angefangen, sich mit Politik zu beschäf­tigen. Ihre Auffäße hätten zuerst Anklang gefunden, dann Aufsehen erregt, und schließlich seien sie von sämtlichen bürger­lichen Blättern als zu revolutionär zurückgewiesen worden.

Kilian, der staunend und immer ehrfürchtiger zugehört hatte, fragte: Und warum sind Sie nicht zu der Proletarier­presse gegangen?" Mademoiselle Naville wie die Dame hieß- zuckle die Achseln. Warum? Wenn Sie sich zu den Prole­tariern zählen, so wird Sie mein Grund verlegen; halten Sie Die Frau verior ihre milde Heiterfeit aus dem Gesicht sich jener Klasse fern, so werden Sie mich faum verstehen. und fragte: Sagen Sie das, weil ich bei der Heilsarmee bin?"| Nehmen Sie an, es sei aus Eigenliebe geschehen. Jedenfalls ,, Nein, aber in dem Augenblick, in dem Sie mich an- besorge ich seit bald zwanzig Jahren Strickarbeit für ein redeten, schoß es mir durch den Kopf: Es ist nichts mit dem Warenhaus, und seit ich bei der Heilsarmee Leutnant bin Christentum. Zweitausend Jahre besteht es, und noch können und das Dachzimmerchen vermiete, geht es mir sehr gut." die Menschen in Einsamkeit verelenden, ob sie gleich zu Die Geschworenen brauchten über eine Stunde, bis fie Hunderttausenden beieinander wohnen. Ich denke den Ge­ihren Spruch gefällt hatten. Er lautete auf Nichtschuldig. Wie danken, und Sie reden mich an und geben mir in Ihrem Dach unter der Hand bekannt wurde, kam dieses Urteil mit einer zimmer die freundlichste Heimat. Ist das nicht wunderbar?" einzigen Stimme Mehrheit zustande. Das stärkste Motiv zu ,, Nun," lächelte die Greisin, Ihnen von der Naje abzu­dem Freispruch sei gewesen: Der Jüngling ist nicht ganz bet lesen, daß Sie ein Zimmer suchen, war gerade fein Kunststück, Verstand. und da ich just einen Mieter nötig hatte, so sprach ich Sie an. Aber jetzt fetzen Sie sich etwas infstand und fommen Sie dann 3u mir herunter."

Die Ergriffenheit, mit der er am Schluß gesprochen, hatte Eindruck gemacht. Der Staatsanwalt beantragte fünf Jahre Buchthaus, der Verteidiger Freispruch.

Das Gericht mußte Kilian freisprechen. Er verlangte so­fort feine tausend Franken, da er Bern zu verlassen gedente. Er erhielt jedoch nur dreihundert. Der Rest gehe ihm zu, nach­dem der Verteidiger bezahlt sei.

Fünftes Kapitel.

Kilian schwamm plötzlich im Glück und erst recht, als er, eine Weile später, in einem unglaublich behaglichen Stübchen an einem zierlich gedeckten Kaffeetisch der alten Frau gegen Bor zwei Stunden war Kilian in Genf angekommen. Mit über fas. Seine anfängliche Scheu, sich in all dieser sohl­dem Nachtzug noch hatte er Bern verlassen. Vielleicht aus| anständigkeit ungeschickt zu benehmen, hatte sie mit ihrer be­Angst, sein Freispruch fönne nur ein Irrtum sein. Nun lief zwingenden Herzlichkeit rasch verjagt, und als ihm richtig ein

" Doktor und Warenhausstriderin!" jagte Kilian und starrte die Frau an. Nach einer Weile fuhr er fort: Ich hatte einmal eine Freundin, die war auch Revolutionärin, aber eines Tages trat fie aus der Partei aus. Sie sagte: Man hat mir das Rückgrat gebrochen. Und heiratete eine Raŋonchef. Nie­mand bleibt bei der Stange."

Die alte Frau nickte ein wenig und sagte leise: Es ist schwer, nicht Berräter zu werden,"

Kilian meinte: Als Bube bin ich oft über eine gefährliche Felswand geklettert. Ich hatte immer furchtbare Angst, und es war mir, als ob ich mich an einer grausamen Notwendig­feit, an einer Art Weltgeseh, vorbeischlängle. Als ob man es begaunere. So find die menschlichen Verhältnisse und Zu­ftände. Man muß sich an ihnen vorbeischlängeln, muß fie ( Fortsetzung folgt.) begaunern!"