?fc.4T7 ♦ 40. Jahrgang
Seilage öes Vorwärts
Freitag, 7. September 1023
Während das Herz ycmg DeutstkflarS»? in Mitgefühl für das so furchtbar betroffene Volk der Japaner schlägt und während doch gleich- zeitig auch die Neroon unseres Volkes von den immer bedrohlicher und immer unerträglicher werdenden wirtschaftlichen Zuständen lag und Nacht strapaziert werden» überfällt uns die Kunde von einem abermaligen gräßlichen Eisenbahnunglück, das sich diesmal unweit Hannover zugetrogen hat. Abermalig, weil nur erst ein Monat seit dem furchtbaren Eisenbahnunglück bei Kreiensen vergangen ist, das noch immer der Aufklärung harrt. Das neu« Ksenbahn- Unglück stellt sich, wie wir bereits meldeten» als außerordentlich schwer heraus. Wir sind es gewohnt, ohne viel Nachfcenfeir von unseren Eisenbahnbeamten ein Höchstmaß van Pflichttreu« und Gewisien- hastiykeit zu verlangen. Hunderttausende von Menschenleben sind tag- lich in die Hände der Männer aus der Maschine und der Männer im Stellwerk gelegt. Und wer sich heute einem Eisenbahnzug anver- traut, der tut es immer in dem ganz ruhigen Gefühl, daß ihm bei der Zuverlässigkeit der Beamten und dem tadellosen Funktionieren der ausgezeichneten Apparate nichts passieren könne. Und nun innerhalb ganz k urzer Zeit in Deutschland zwei Eisenbahakatastrophen mit Entsetzen erregenden Folgen, die in unendlich viel Familien Trauer und Not gebracht haben. Es ist ganz selbswerständlich, daß auch dieses neue Eisen- bahnunglück das Vertrauen m die Zuverlässigkeit unserer Beamten nicht wird erschüttern können, aber ebenso selbstverständlich ist e« auch, daß das Sicherheitsgesühl, mit dem man sich bisher der Eisenbahn anvertraut hat, im Echwin- den ist. Besonders die Bevölkerung von Groß-Verlin wird«ms diesem Anlaß zu der Frage berechtigt seien Sind die gesamten Einrichtungen der Berliner Stadt-, Ring- und Vorortbahnen trotz der zweifellos vorhandenen starken Abnutzung des Wegen, und Ma- schinemnaterials noch immer so auf der Höhe, daß die Sicherheit für die Fahrgäste unbedingt gewährleistet wird? Sind die Züge, besonders die über die Stadtbahn und die mit Fernzügen auf einem Gleis fahrenden bei Tag und Nacht so gesichert, daß sich ihnen die Berliner Bevölkerung in Mer Ruhe nach wie vor anvertrauen kann? Darum abgesehen, bedarf das neu« Unglück bei Hemnover einer ichfein»igen weitgehenden Aufklärung, damit nicht die wachgeworden« Unruhe weiter um sich greift. Die Tote« unü Schwerverletzten. Di« amtliche Mitteilung über das Unglück lautet: Am g. September 1923 nachts 3,58 Uhr stieß in Kilometer 14.5 der Strecke Hannover — Wunstorf vor Block Lohnde der D 10 Berlin— Köln(ab Berlin Schlesischer Bahnhof 10 Uhr abends) auf den vor dem Blocksignal haltenden V 138 Dresden— Bentheim(Holland ) (ab Dresden 7,13 abends) auf. Vom D 138 sind die drei letzten Wagen stark, vom D 10 Lokomotive und Packwagen leicht beschädigt. 13 Reisende sind tot, 8 schwer und 11 ieicht oerletzt. Die Auf- räumungsarbeiten werden am Nachmittag beendet fein. Di« Toten sind nach der Leichenhall« des Döhrener Friedhofs in Hannover übergeführt worden. Die Berichten befinden sich im städtischen Krankenhaus Nr. 1 in Hannover . Die Schuldfrage ist noch nicht ge- klärt. Unker den Toten sind ermittelt: 1. Kaufmann Haas präh, Berlin , Berubarger Straße 32: 2. Kaufmann Heinrich Strauß. Frcmksurt a. M.. Gollusauloge S; 3. Kaufm-mn Kupsermann. Magdeburg : 4. Kutscher Ztarnz Sfanef, Wien Z. Dianagasie 8; 5. Sausmann Erich Bolle. Berlin w. 10. Tiergartenstr. 29: S. Zollassistent Arth kubitsch, Meppen ; 7. der Holländer 3.<£. 3. van Kempen , C eichen; 8. Ober- kanonier Fritz Schumann. Zwickau : 10. Sansmann Hugo kehlen. BerNn: 11. der Holländer Sl. LSbel.«rnheim, SNnoel. beck 59: 12. ein Angestellter des Berkehrsbnndes aus Hannover , dessen Name noch nicht sestgesielll ist., Unter den nicht festgestellten Toten befinden sich sechs weiblich« Leichen, darunter die von zwei Holländerinnen. Ein Kaufmann Erich
Boll«, Berlin , Tiergartenftr. 29, der unter den Toten aufgeführt worden war, ist wohlbehalten in Berlin . Schwer verletzt sind: 1. Kraftfahrer Friedrich Schulz, Münster -Westsalen, Kraftfahrerabteilung 6; 2. Reifend«? Jakob Artmann, Düsseldorf , Himmelgeisterstraße 104; 3. Kaufmann Walter M e l ch i ng, Magdeburg , Breiter Weg 250; 4. Friedrich Johann L ü b o t, Leyden-Holland; 5. Jan A r k i m a, Leißling bei Weißenfels : 6. Hugo Fiedler, Handlungsgehilfe, Müster-West- falen, Weidenbeutel 3; 7. Gerhardt Knappers, Rotterdam . Melching, Lübot, Arkima und Knappers sind sehr schwer verletzt. 8. Franz S u e r r a, Tschechoflowafei. öericht eines Augenzeugen. Ein Augenzeuge berichtet von dem Unglück folgendes: »Wir saßen im vorletzten Wagen des Amsterdamer Schnell- zuges, als das Unglück passierte. Unser Zug, der offenbar dos Durchfahrtssignal noch nicht erhalten hatte, fuhr ganz langsam, als ! Mötzlich ein furchtbarer Krach erfolgte. Das Abteil, in dem ich aß, war das letzte des Durchgangswagens, der von dem nach- olgenden Wagen senkrecht in die Höh« gehoben wurde. Als ich zur Besinnung kam, macht« ich eine Tur auf und und schrie um Hilf«. Man stellte mir ein« Leiter an den Wagen, und so wurde ich gerettet. Der Anblick, der sich mir bot, war furchtbar. Aus meinem Wagen wurde nach vierstündiger Arbeit«in Mitreisender, der im ersten Abteil g<mz unten lag, fast unverletzt befreit. Er war mit seinen Nerven vollständig zusammen- gebrochen." In ähnlicher Weise schilderten andere Mitreisend« den Borgang des Unglücks. Ueber die Schuldfroge an dem Eisenbahnunglück bei Hannover verlautet noch nichts Genaues. Der Präsident der Reichs- eisenbahndirektion Hannooer war heute mittag selbst am Orte des Unglücks, um die weitere Untersuchung in die Hand zu nehmen.
De? neue SetrZebsptan üer Straßenbahn. Betriebsumstellunsi lediglich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Die neue Straßenbahngesellschaft entwickelte gestern nachmittag in einer Sitzung, in der auffallenderweis« der Lerkehrsdezernent Baurat Adler nicht anwe- send war, ihr neues in der Stadtverordnetenversammlung und auch sonst bereits stark angefeindetes Verkehrsprogramm. Direktor L ü d t t e stellte fest, daß das Unternehmen täglich einen Fehlbetrag von 90 Milliarden Hab«. Man hoffe, in Zukunft den Etat balancieren zu können, wenn auch im Anfang die Stadt noch werde Zuschüsse leisten muffen. Dann behandelte Prof. Dr. Giese, der bekannt« Berkehrs- techniker, da« Berliner Bertehrsproblem von der wirt. schasttichen und der technischen Seit«. Einleitend betonte er, daß ein verarmtes Land sich mtht irgendeinen Verkehrs- luxus gestatten könne, daß vielmehr Wirtschaftspolitik und Verkehrs- Politik Hand in Hand gehen muffen. Im Berliner Svezialsall müsse man sogar der Wirtschaftspolitik auf Kosten eines bequemen Ber- kehrs den Borzug geben. Berlin besitz« im Augenblick ein viel zu ausgedehntes Straßenbahnnetz, denn aus jeden ge- fahrenen Wagenkilometer könne man nur vier Fahrgäste rechnen, während schon im Frieden 4,2 Personen aus jeden Verkehrskilometer gerechnet werden mußten. Es sei notwendig, jetzt den Berkehr so zu gestalten, daß pro Kilometer mindestens 5 Fahr- g ä st e befördert werden müssen. Auf die vertehrstechnische Seite der Frag« eingehend, stellte der Vortragende fest daß man mit dem System der Parallellinien durch einzelne Srraßen restlos aufgeräumt habe. Man hob« das Prinzip, nur wenig Linien in Betrieb zu lasten, dafür aber ein« dicht« Zugfolge zu schaffen. Jeder Außenbezirk sei durch ein« Linie mit der Innen- stadr verbunden. Dieses System der wenigen Linien habe freilich den Nachteil, daß man nicht wie früher von jedem Verkehrsschnitt-
punkt nach jedem gewünschten Ziel gelangen könne. Um hier den Ausgleich zu schaffen, habe die Gesellschaft sich entschlossen, den Umsteigeverkehr einzurichten. Die Z u g f o l g e auf allen Linien soll IS Mi- nuten, nur auf Linie 1(Stadtring) 7!� Minuten betragen. In den Außenbezirken werden an die Hauptlinien Einmannwagen an- geschloffen. In den Vororten mit schwachem Verkehr soll die Zug- folge 30 Minuten, in Eöpenick eventuell 60 Minuten betragen. Ziel des Berkehrsplanes ist es, täglich 100 000 Kiiomete.» zu fahren und dabei 500 000 Personen zu betör-, oern. Neben dem Umsteigefahrschein wird auch ein eins a'ch c r Fahrschein für eine Linie ausgegeben, der 10 Proz. billiger ist als der Zweiliniensahrschein. Di« Monatskarten werden beibehalten. In Zukunft verkehren folgende Linien: 1(Stadtring), unveränderte Linienführung: 3(Großer Ring). Bereinigung der jetzigen Ringlinren 3 und L: 4(Ostwestring). Linienführung wie jetzt: 7(Westring) in der früheren Form; 13(Gotzkowskystraße— Schlesischer Bahnhof): 28 Tegel — Britz ); 82(Reinickendorf— Charlotten- straße); 41(Reinickendorf — BaerwcMtraße); 44(Friedenau— GÖr- litzer Bahnhof): 47(Niederschönhausen — Britz ); 54(Kuvfergraben— Westend ); 57(Schönhauser Allee — Emser Platz); 80(Weißense«— Schoneberg ): 64(Sophie-Charlotte-Platz— Hohenschönhausen); 69 (Friedenau— Lichtenberg); 72(Alexanderplatz— Prenzlauer Promenade); 74 Kniprodestraße— Steglitz ); 76(Halens«— Frankfurter Allee ); 83(Mohlsdorf— Wendenschloß): 84(Friedrichghagcn— Alt- Glienicke), 87(Steglitz — Treptow ), 91(Wilmersdorf— Wilhelmsoue— Görlitzer Bahnhof mit anschließendem Einmannwa genbetrieb Wik- Wersdorf— Halensse— Westfälische Straße); 98(Neukölln , Teupitzer Straße— Siemensstadt); jeder zweit« Wagen bis Neukölln— Wilmers- darf), Linimsijhrung unverändert; 99(Mariendorf , Lichtenrader Chaussee— Badstraße): 120(Spandau— West-Henningsdorf ), Benzol- betrieb unverändert. Da? Unternehmen wird, nachdem zur Umstellung am Sonn- tag, den 9. d. M., der Betrieb geruht hat. am Moniag. den 10., den Betrieb nach Möglichkeit in dem vorgesehenen Umfange aufnehmen. Die ab Montag geltenden Fahrpreise werden in den nächsten Tagen bekanntgegeben. Protestkundgebung der Geschäftsraummieter. Anläßlich der außerordentlich gefährdeten Wirtschastslao«, die durch die Aushebung des Mieterschutzes für die Mieter von Geschäfts- und Jndustrielokalen hervorgerufen worden ist, l>atte der Schutz- verband der Arbeits- und Gefäiästsraummieter am gestrigen Don- nersteg Nachmittag eine Protestkundgebung verenstaliet. Der riesige Raum der Stadthalle in der Klvsterstraß« erwies sich als viel zu klein, um all« Erschienenen aufzunehmen. Das Referat hielt der Syndikus des Verbandes, Rechtsamwalt Hans A. Meyer. Der Redner schilderte vom juristischen Standpunkt aus das Ungeheuer- Ii che des am 4. August geschaffenen Gesetzes. Es erkenn« drei Gruppen von Gewerbetreibenden cm, von denen allerdings nur di« ersten beiden Gruppen, die in gewerblichen Räumen, oder aber in gemischten Häusern ihr Geschäft oder Fabrik haben» betroffen werden. Die dritte Gruppe seien Mieter, die nicht gewerblich tätig sind. Der folgende Redner, der Geschäftsführer des Schutzvsrbandes, Albert Meyer, schilderte dann vom kaufmännischen Standpunkt aus die Gefahr, die dieses neue Gesetz für die Berliner Gewerbeireibenden in sich berge. Es fei nur der Anfang zur Aufhebung des Mieterschutzes. Das Ministertmn für Dolkswohifahr: scheine nicht zu wissen» daß die Kaufmannschaft, von der man so enorme Opfer und Steuern verlange, durch diesen Erlaß m ihrer Existenz zerstört werde.(Stürmischer Beifall.) Zugunsten einer kleinen Gruppe van östlichen und westlichen Einwanderern(Galizisr, Russen und Holländer), die die Grundstücke zu Schleuderpreisen an sich gebracht, vernichte man zahllose Gewerbetreibende. Nach weiteren Ausführungen in ähnlichem Sinne wurde eine Entschließung ange- nommen, in der schärf st er Protest erhoben wird gegen die M i n i st« r i a l v e r f ü g u n g. Die Bersammlung wählte zur Durch- setzimq kieser Entschließung einen besonderen Ausschuß. Einäscheruagsgebühr 40 Mllionen Mark. Der Ausschuß für das Park- unv Beftattungswefen teilt mit: Infolge der weiteren Erhöbung der Löhne und Kokspreise ist die EinäfcherungSgebübr mit Wirkung vom 10. September 1923 ab auf 40 Millionen Mark festgesetzt worden. Jubiläen. ®« Malermeifter Otto Rockel kr und seine Ehefrou feiern heute dos ftell der goldenen Hochzeit: Genosse WM Beeslow und Freu ihre Gilbcrhochzeit.
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Kilian. Roman von Jakob Dührer.
Da hörte er, wie sie zu jemand sagte:„Es tut mir lest), Madame, heute nicht, es gibt ein Gewitters „Wo denn?"' lachte eine fremde Stimme. „Und dann ist auch der Motor defekt," erklärte Frau Favre. Kilian trat vor das Bootshäuschen. Die Fremde mit dem blauen Hutschleier war da. Sie erblickte Kilian, tat einen Schritt auf ihn zu und frug: .Kann man wirklich nicht mit dem Motorboots hinaus?* „Aber warum denn nicht!" entgegnete Kilian, die Mütze in der Hand. �« „Aber Bill, sehen Sie denn nicht, es kommt doch ein Ge- witterl" sagte Frau Favre. „O, wegen dem.. „Und dann ist doch auch der Motor...." „I, das macht gar nichts; kommen Sie nur, mein Fräulein!" Frau Favre lief ein paar Schritte hinter den beiden drew, wollte noch irgend«twas einwenden, aber es fiel ihr nichts ein. Sie verwarf ein paarmal die Hände und blieb dann ziemlich unglücklich stehen. Kilian aber fuhr allein mit der schönen Fremden auf den See hinaus. Und sie waren noch nicht sehr weit draußen, so saßen sie schon dicht beieinander. Das sah Frau Favre deut- lich durch ihr Fernglas. Freilich rannen ihr gleich ein paar Tränen, fo daß sie nichts mehr erkennen konnte. Sie ließ das Glas verzweifelt sinken und(tönte:„Welch ein Schuft!" Als sie das Schifflein wieder suchte, fand sie es nicht mehr. Dieses aber flitzt« über di« ziemlich bewegte Seefläch« dahin, und der Motor stampfte mit fener beschwingten Leide«. schaft, welche dieser trefflichen Maschine innewohnt. Die Savoyerberge ragten in einen weißlichen Himmel, vor dem Rhoneloch gegen das Wallis lagerte«in schwarzes Wolken- ungeheuer, und gegen Ouchy schichteten sich Regenwände, dt« tief unten silberarau wie Fitchleiber blitzten, nach oben zu im Gelb einer angeschnittenen Zitron« aufleuchteten und denn in unbestimmtes Weißgrau sich verloren. Auf der Wasierfläch« wechselte das Licht beständig, und manchmal schien das Voot durch flüssiges Gold, manchmal durch mattes, im nächsten Augenblick erstarrendes Blei zu fahren. Die Dame hatte Kilian gebeten:„Würden Sie mir die Hondgrftfc für Motor und Steuer erklären?"
„Bitte!" Sie hatte sich an feine Seite gesetzt, tmd es hatte sich ge- zeigt, daß sie die Sache sofort los hatte. Als er sein Erstaunen äußerte, sagte sie:„Ich bin ftüher sehr viel Auwmobil ge- fahren." „Sehr viel ftüher kann das kaum gewesen sein," lächelte Kilian. „Warum?" „Weil die Dam? noch sehr jung ist.' Sie warf den Kopf ein wenig aus die Seite und zog die Brauen hoch. Dies hieß: eine billige Schmeichelei. Sie frug: „Sehr lange find Sie noch nicht Bootsknecht?* „Rein, warum?* „Weil der Herr noch sehr, sehr flrng ist.* Sie lachte. Er wurde rot. Aber sie sagte:„Rein, nein, es interessiert mich: Sind Sie schon lang« in Genf ? Und vorher, wo waren Sie?... Und vorher?* Sie führte das Steuer, regelte den Gang des Motors und tat Frage auf Frage. Er prüfte jede ihrer Bewegungen und gab Antwort. Er verwunderte sich nicht, und es schien ihm selbstverständsich, daß die vornehme Dame sich nach seinem Leben erkundigte. Rur , als sie die Frage tat:„Und Ihre Eltern? Wo sind sie?" stockte Kilian. „Run, wo ist Ihr Dater?" ermunterte sie. „Gestorben." „Wo?* „Im--- Zuchthaus!" „Genieren Sie sich nicht," sagte die Dame,„mein Vater ist zwar nicht im Zuchthaus gestorben, nie drin gewesen, aber... es war nicht feine Schuld. Was hat Ihr Vater denn Böses begangen?" „Eingebrochen." „Meiner war Millionär. Ich glaube, das ist schlimmer. — Ihre Mutter?" „Auch wt," sagte Kilian. „An was ist sie gestorben?" „Man sagt erfroren. Sie war an einem„Abendsitz, wo Schnaps getrunken wurde. Am Morgen fand man sie wt im Bach." .Sie haben Geschwister?" „Drei. Zwei sind an der Schwindsucht verendet. Der drifte ist in einer Anstalt." „Sie stammen ja aus einer netten Familie!" sagte die Dame unter zusammengebissenen Zähnen hervor.„Aber wenn Sie meinen, es sei ein ganz besonderes Unglück, als Kind armer Leute zur Welt zu kommen, so muß ich Ihnen sagen, daß man auch als Sprößling sehr begsiterter Estern
Verschiedenes erleben kann.— Mein Bater hat seine Mil- lionen mit der Herstellung imd dem Verkauf von Schnaps verdient. Denken Sie, das sei keine Schande?— Was für ein harmloser Sünder ist Ihr Vater, der vielleicht eine Tür? einsprengte und einige Banknoten einsteckte, gegenüber meinem, der sich davon bereichert, daß die Leute den Verstand versaufen!" Kilian starrte der Fremden verblüfft ins Gesicht. Sie fuhr erregt fort:„Oder denken Sie, es ist ein besonderes Glück, eine Mutter zu haben, die ihr Leben lang keinen Streich arbeitet und deren Existenzberechtigung darin besteht. etwas vorzustellen?— Es ist nicht getan mit der ewigen Schwarzmalerei der Armut!— Es ist nicht getan mit der Abstfmfftmg des sozialen Elendes. Es gibt etwas, das alle quält, reich und arm: der Hunger nach Menschen. Der Hunger nach wahrhaftigen, tauglichen— zur Liebe tauglichen Menschen! Glauben Sie das? Kilian war ganz verwirrt. Er stammelte:„ich... ich glaubte, daß die Reichen glücklich wären! Aber die Menschen wissen wohl zu wenig voneinander." „Da haben Sie recht," sagte die Fremde und sah Kilian freudig in die Augen.„Aus dem Hunger nach Menschen bin ich Anarchistin geworden!" „So, so? Seit wann?" frug Kilian, der sich gar nicht in der Gewalt hatte. „Seit zwei Iahren," entgegnete die Fremde und lachte. „Und vorher..." „Vorher?" Sie lachte wieder, dann sah sie ihn noch einmal mit einem tiefen Blick an und fuhr fort,„vorher war ich einige Zeit die Frau eines Großaktionärs und nachher di? eines Oberaenchtsvräsidenten. Als er eines Tages mit seinem Stichentscheid einen Zwanzigjährigen zu lechenslänglichem Zuchthaus verurteilte, bin ich ihm durchgebrannt." „Was Sie nicht sagen!" „Meine Eltern fanden es nun für rrchttg. mich zu vor- stoßen, und ich h-abe als Schreibmaschinenftäulein. Kontoristin, Bursauvorsteherin das herbe Schicksal der selbständig erwer- benden Frau durchgekostet. Ich habe Tag um Tag d,e mft nichts begründete Zurücksetzung der Frau erfahren. Ictuch- tiger«ine Frau im Berufe war, um so verhaßter machte sie sich bei den männlichen Kollegen. Sie war immer nur die Konkurrentin, die Vorwcgeflerin. die Feindin. Richt die Mitarbeiterin, die Helferin!— Und wenn man dte armen Schlucker sah. wie sie um ihren Lohn bangten, begriff man es wohl.— Es klappte nicht in dieser Wirtschaft! Man muhte Anarchistin werden und da..."_„,.,>» (Fortsetzung folgt.)