Nr. 42t ♦ 40. �ahrgakg
1. Heilage öes vorwärts
Soüntag, 4. September t02Z
wenn öie Arbeit beenöet ist.
Wenn nach Arbeitsschluß aus den Fabriitoren die Massen der Arbeiter und Angestellten hinausdrängen und sich die Straßen ent- lang eine schier endlose Schlange müder Menschen im Arbeitskleide vorwärts wälzt, entrollt sich dem tiefer blickenden Beobachter der gewaltige Film vom Proletariat, aus schönen und krassen, erfreu- lichen und unerquicklichen Bildstreifen zusammengesetzt, von der Not der Zeit mitkündend. Arbeitsschluß. Es ist kurz vor drei. Nochmittags. Aus dem Riesengebäude mit der Backsteinsäulenfront tönt noch der Lärm der Maschinen, das Klirren und Rattern des Eisens auf die Straße hinaus. Da durch- uäust das weite Gebäude ein schrilles, langanhaltendes Klingeln— Arbeitsende! Es ist drei Uhr. Da legt sich das Hasten im Werk, verstummt das Dröhnen und Rattern, holten die Röder und Riemen an und wird es still. Es geht m die Garderobe und in die Wasch- räume, wird der Staub und Schmutz, der sich auf die müden Körper gelagert hat, abgewaschen und das Arbeitszeug mit dem Straßen- anzug ausgewechselt. Und nun geht es mit einem Aufatmen dem Tor zu, wird noch schnell die Kontrollkarte vom Schalter ge- nommen und an der Kontrolluhr abgestempelt und— ist man nun frei! Das heißt— wenn nicht der Pförtner einen noch im Hin- ausgehen herausgreift und auffordert, ihm zur Stichprobe in den Pförtnerraum zu folgen. Um Diebstähl«, die natürlich in einem großen Werke vorkommen, zu verhindern, sind diese Stichproben an- geordnet, die auf den Beobachter einen nicht erfreulichen, im Gegen- teil unerquicklichen Eindruck machen, besonders wenn er aus den Mienen der Untersuchten die verhaltene Empörung über dieses menschenunwürdige Verfahren, das stark an die Be- Handlung der Kcepman-Boys in den südafrikanischen Diamanten. gruben erinnert, abliest. Di« Untersuchung geht so vor sich, daß der Pförtner willkürlich aus den Bielen diesen oder jenen zu sich winkt und in die Pförtnerloge ruft; dort muß der Hineinzitierte die Arme ausbreiten, während der betreffende Torbeamte den vor ihm Stehenden von oben bis unten genau abtastet, und das mitgebrachte Päckchen, das meist irgendwelche Arbeitskleidungsgegenstände oder Kaffeeflasche imd ähnliches enthält, auf seinen Inhalt prüft. Dann — wenn nichts Auffälliges oder Verdächtiges bei ihm geffinden ist— ist er entlassen und darf sich nun endgültig„frei* nennen. öen Toren. Schon geraume Zeit vor dem Arbeitsschluß sieht man vor den Toren— manches Werk hat deren verschiedene, für Männer, für Frauen, für Arbeiter, für kaufmännische Angestellte, und gemischte Ausgänge— Wartende stehen: grauen und namentlich Kinder. Be- sonders zahlreich sind die Wartenden, und dann besonders zahlreich die Frauen, wenn es eine Lohnauszahlung oder einen Vor- schuß am Tage im Werk gegeben hat. An solchen Tagen finden sich, wenn der Vorschuß schon in den Morgenstunden ausgezahlt worden ist, die Frauen schon um die Mittagszeit vor den Toren ein. um das Geld, das ihnen dann die Männer in der Mittagspaus« hinunterbringen, sofort in Empfang zu nehmen und es sofort, bevor es sich weiter entwerten kann, in Lebensmitteln und sonstigen not- wendigen Dingen anzulegen. Hier und da fallen unter den Warten- den auch Männer auf, dürftig gekleidet, obqeinagert und sichtlich unterernährt: Arbeltslose, deren Frauen oder Bräute n o ch im Werk tätig sind und wenigstens noch etwas verdienen.- Aus ihren Gesichtern und dem gedrückten Ausdruck ihrer Mienen, mit dem sie die Frauen empfangen, hebt sich deutlich das Leid und die innere Qual über ihre Lage ab. Die ersten swd schon aus den Toren her- aus: nun wird es dichter dort bis zum Strom, der sich aus dem Fabrikrachen hinauswälzt. Die einzelnen Tore zeigen Unterschiede: wenn auch blasse und ausgemergelte Gesichter, so stnd es doch sehnige, straffgespannte Körper, manchmal verwegene und trotzige Gestalten, die den Arbeiterausgang verlassen, die Jungen mit Zigaretten, die sie sich vor dem Tore anzünden, die Aelteren meist mit Pfeifchen, aber auch sehr viele, die nicht rauchen. Vor dem Tore stehen«in paar dichte Gruppen, die ein« um einen fliegenden Zigarettenhändler, bei dem sie ein paar billig« Glimmstengel sich erstehen, die ander« um einen Flugblattverteiler. Ich kann noch ein Flugblatt erwischen: Unterzeichnet ist es von der Freien Arbeiterunion, den Anarcho- Syndikalisten! Im Flugblatt wütendste Hetze, Aufruf zum General- streik, Schimpfkanonade auf alle, von den Faschisten an bis zu den Kommunisten: dazwischen Sätze, die bittere Körnchen Wahrheit ent-
halten, aber dann wieder von Sätzen gefolgt werden wie„Bereitet euch vor für die Erfassung der Lebensmittel im großen Maßstab«.... Streikt gegen jede Regierung---- Organisiert die Lebensmittelversorgung für euch selbst---- Erwartet nichts von den neuerwählten Volksvertretern---- Die großen Speicher und Vorratsmagazin« müssen mit Beschlag belegt und die vorhandenen Lebensmittel ge- recht unter alle Arbeitenden verteilt werden____" usw. Man nimmt die Flugzettel, liest sie, lächelt hier und flucht dort, erkennt hier die blutige Phrase und läßt sich dort fortreißen. Nebenan steht ein Händler mit Gummisohlen, die eifrig gekauft werden. Um die Ecke herum geht es zum Ausgang der kaufmännischen Angestellten. Hier sieht es anders aus: der größte Teil mit pein- licher Sorgfältigkeit angezogen, sauber und korrekt: sieht man ge- nauer hin, erkennt man die gewendeten Anzüge, die geflickten Schuhe und hinter den vielen scharfen Brillengläsern die von der Not ab- gestumpften Augen. Stehkragenprolctariat! Sie haben sich in «inen äußeren Schein gehüllt, der aber jetzt schon allzu durchsichtig ist. Die Zeit packte auch sie am Kragen. Und sie wissen es nur zu gut, daß ste zu uns gehören und sie nur, wenn sie mit dem Ar- beiter gehen, Schutz und Unterstützunq finden: sie sind allmählich so- lidarisch geworden: das allgemeine Wirtschaftselend hat sie denken gelehrt. Zwischen diesem nur äußerlichen Mittelstand und sichtlich auch reichlichem Bureaukrasismus ein paar unerfreulicherweise hyper- elegant gekleidete Jünglinge mit Shimmyschuhen und Taillenröcken und wesensverwandte Weiblikeit. Auch hier wieder Wartende: Mütter mit Kindern und ziemlich viele, die sich nachher zu Pärchen zusammenfinden. Der allgemeine äußerliche Eindruck cm beiden Toren ist gut: er zeigt sauberes Menschentum, ziemliche Ruhe in der allgemeinen Nervenkrise: dazwischen aber auch verhaltene Glut unter der Asche, Grimm und Verbissenheit, Trotz und aufflackernden Fa- natismus. Aber heute am Lohntage beherrscht sie anderes: der Kampf um das primitivst« Sein. Man drängt sich am Konsum, wo es billigere Lebensmittel gibt, man strömt in die Läden, um sich zu versorgen, man etlt nach Haus«, um«inzuteilen und zu rechnen. Gespräche. In mehreren Gesprächen mit Arbeitern verblaßte der äußere gute Schein. Wie sieht es mit der Arbeit aus: Im Hauptwerk kurz- arbeit, nur drei Tage in der Woche, in den anderen Werken das dro- hende Gespenst der Kurzarbeit. Was soll man da machen? Das Geld reicht so nicht: Nebenarbeit an den arbeitslosen Tagen finden, heißt Unmögliches oerlangen. Es gibt schon zuviel Arbeitslos«: so steht es trübe aus. Da bleibt nur das eine, daß die Frau mit- verdienen muß. Sic muß eben sich iraendwo auch eine Arbeit suchen und ihren Berdienst mit dein ihres Mannes zusammenwerfen, damit sie mit den Kindern halbwegs leben können. Wie sie leben? Einmal in der Woche gibt es Fleisch, Sonntags. Die nächsten Tage sind fleischlos, angerichtet in der Sauce vom Sonntag. Am Ende der Woche gibt es Gemüse mit etwas Fett oder Rindertalg an- gemacht. Für das Kind täglich einen Viertelliter Milch! Daß das keine Ernährung für Schwerarbeiter ist, dürfte jedem einleuchten. Bitter beschwert man sich darüber, daß man diese» in anderen Kreisen nicht einsehen kann.„Früher", sagte mir ein Arbeiter, „verdiente ich mir mit einem Stundenlohn das Fleisch für meine Familie: heute muß ich dafür einen halben Tag arbeiten! So ist es mit allem! Der Lohn reicht gerade für die Ernährung; Anschaf- fungen— etwa Hemden. Anzug, Schuhzeug, Bettwäsckn— dürfen sich die meisten nicht mehr leisten. Alles das drückt den Arbeiter, wirft ihn aus einer Nervenkrise in die andere, läßt ihn schließlich unüberlegt und ungerecht denken und allzuschnell, durch Hetze und Tendenz verleitet, urteilen. Bitter beklagt man sich in den Arbeiter- kreisen über die Steuersabokage des kapitaNsmus..„Ihm hat man die Steuern gestundet, trotz aller Drohungen, und dem Kleinen zieht man sie ab! Die Werke wollen die Steuern sabotieren: darum gibt es Kurzarbeit, darum immer neue Entlassungen, darum das Ge- schrei der Industrie von ihrer Plieit«! Trotz dieser angeblichen Pleite gedeihen die Werke.' « Der Dollar steigt. Mehr wie er noch steigen die Lebensmittel. Die Geldknappheit macht sich wieder drohend bemerkbar. Die In- dustrie versucht immer wieder Steuersabotage. Der Kapitalismus weiß sich und seine Riesengcwinne durch Kurzarbeit und Entlassun- gen sicherzustellen.— Und noch scheint das Bild vor den Fabrik-
toren ruhig und gelassen. Unter der Asche aber glimmt Feuer, von Kommunisten und Anarchosyndikalisten wachgehalten und geschürt. Es ist an der Zeit, dafür zu sorgen, daß es nicht ausbricht.
öieöermanner. Die Kategorie dieser lieben Menschen hat es zwar immer g«- geben, diese braven Bürger, di« bei jeder passenden und noch hau- figer unpassenden Gelegenheit sich an die Brust schlugen und mit verzückt zum Himmel gerichteten Äugen deklamierten:„Gott sei mir armen Sünder gnädig!" Die anderen aber, die Naiven und Leicht- gläubigen starrten auf solch« Worte wie auf ein Wunder und wer- taten diese Heuchler wie Helden mit dem Heiligenschein um das Haupt. Heute aber ist die Zahl der Biedermänner ganz bedeutend ge- wachsen. Du kommst zum Beispiel in einen Laden und fragst zag- Haft, zögernd, furchtsam nach den Preisen dieser und jener Waren. Der Verkäufer sieht dich so an, als wenn der Kummer der ganzen Welt auf ihn lastete und sagt treuherzig und traurig zugleich:„Ach, wissen Sie, es ist schrecklich. Wenn nur erst andere Zeiten kämen. Aber was soll ich tun, ich muß diese wahnsinnigen Preise Verlan- gen, denn ich muß ja auch leben!" Dann nennt er dir die Preise, du erschrickst, aber du kaufst, weil du überzeugt bist, an einen besonders soliden Kaufmann geraten zu sein. Und dann erfährst du Nachtrag- lich durch einen Zufall, daß du dieselb« Ware bei anderen Kaufleuten— niemand kann ja, um etwas zu kaufen, durch halb Berlin galoppleren— billiger und besser erhalten hättest. Oder du brauchst notwendig einen Handwerker für irgendeine nicht mehr auf- zuschiebend« Reparatur in deiner Wohnung. Der Handwerksmeister kommt, kalkuliert, kraut sich den Kopf und erklärt schließlich:„Ja, ich schäme mich direkt, den Preis zu nennen, aber ich muß ja so viel verlangen. Die hohen Löhne der Arbeiter machen uns ja noch alle Caput!" Du glaubst und traust solchen öligen und scheinheiligen Worten, betraust den Meister mit der Ausführung der Arbeiten und stellst nachher fest, daß er sich über Gebühr hat bezahlen lassen. Die Zeiten und die Preise werden immer wilder, und die Zahl dieser Biedermänner wächst. Hütet euch vor ihnen,
viel Gerichtslärm um olle Kamellen. Slrafobjekt: Zwei Brök« und eine Tüte Bonbons. Ein Strafverfahren wegen Diebstahls, dessen Objekt zwei Brots und eine Tüte Bonbon« war, beschäftigte die Gerichte seit fünf Iahren und kam gestem vor der Feriensttafkammer des Landgerichts l zur endglllttgen Entscheidung. Im September 1913 hatte der Schlosser Kurt L iß als Fahnen- flüchtiger mit zwei anderen Leuten einen Einbruch in eine Bäckerei verübt. Die Diebe hatten nur die beiden Brote und die Tute Bonbons vorgefunden und auch diese Beut« war ihnen, da sie sofort nach der Tat ergriffen wurden, noch abgenommen worden. Während die beiden Mittäter schon vor Iahren abgeurteilt worden waren und ihre Strafe längst abgesessen hatten, war Liß nach seiner Freilassung verschwunden. Es war gegen ihn Haftbefehl und Steckbrief erlassen worden, und es war im Laufe der Zeit ein dicker Aktenband von mehreren hundert Seiten entstan? den. Dreimal mußte der Hauptverhandlungs. termin vertagt werden. Gestern beantragte der Staatsanwalt neun Monate Gefängnis. Rechtsanwalt Müller-Strohmeyer war der Meinung, daß Mundraub, im ungünstigsten Falle Notdiebstahl in Frage komme und daß iiberdies die Amnestie von 1918 in Gel- tung komme. Das Gericht trug diesen Ausführungen insofern Rechnung, als es Mundraub annahm und das Verfahren einstellte. Man ersieht auch aus dieser Lappalie, wie dringend nötig eine Reform unserer Strafrcchtspflcge ist. Eine solche Kleinigkeit wird lieber jahrelang umhergeschleppl, bevor man sie durch einen barm herzigen Machtspruch rasch zur Erledigung bringt.
Eine nenc Bild-Briefmarke. Die Reichsdruckerei hat dieser Tage neu« 19 00st-Mark-Marken herausgebracht, die in Kupferdruck und m olivgrüner Farbe das Bild des Kölner Doms tragen, oben über dem Bilde steht die Wortzahl„19 999 Mark" und unten in deutscher Fraktur die Worte„Deutsches Reich ". Der schnelle Ausverkauf, der dieser Mark« vorangegangenen Wartburg -Marke beweist, daß derartige Briefmarken als Sammelobjekte großem Interesse begegnen.
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.Damit aber, über dem Lesen nämlich, vertrödelte Kilian auch des Tages viel Zeit, so viel, daß Madame Favre ein- mal den Ausspruch tat, wenn das so weitergehe, so mache ihr Geschäft unfehlbar Bankerott, denn es könne nicht zwei Männer erhalten, von denen einer seine Zeit versaufe, der andere über Büchern verdumme. Kilian antwortete darauf, wie auf so manche andere Anspielung in deck letzten Wochen, er sei gerne und sofort bereit, sich nach einem anderen Posten umzusehen: worauf sie zu weinen anfing:„Aber, mein lieber Bill, jetzt, da mir doch auch dein Kind gestorben ist..." Dieses Kind war im Dezember zur Welt gekommen. Eines Abends gegen sieben Uhr war Favre auf Kilians Zimmer gestürzt:„Du. komm schnell zu meiner Frau, es ist so weit.' „Ja, aber.. hatte Kilian erschreckt gesagt,„was geht denn das mich an?' „Sie meint halt, ste werde sterben, und da hätte sie dich gerne noch einmal gesehen!" „Nun gut," hatte Kilian gesagt. Auf dem Wege hatte Favre, der nüchtern war, wie nie, gejammert:„Wie mich die Frau erbarmt! So leiden zu müssen, jetzt schon zwei Stunden lang!" Als ste angekommen, war die Frau matt und schlaff in den Kissen gelegen und hatte ein wenig gelächelt. Aber gleich hatte ein Weh eingesetzt, und sie hatte zu wimmern ange- fangen, mit oerzerrten Zügen und in der Lust oder in das Leintuch verkrallten Fingern. Da hatte Kilian ihre eine Hand erfaßt und Favre war auf die andere Bettseite gerannt und hatte die andere Hand genommen. Kilian hatte geflüstert:„Komm, komm, ich will dir Kraft geben!" und Favre hatte gesagt:„Gib uns den Schmerz, Toinettel Schreie nur, schreie!" Nachdem das Weh vorübergegangen, hatte sie wieder zu lächeln versucht. Auch war sie ganz blaß und fein dagelegen und anzusehen, wie eine Halbgestorbens. Doch allzu schnell kam das Schreckliche wieder und stärker denn vorher. Sie warf ihren Leib empyr und schrie laut:„Nicht mehr, nicht mehr!" Ihre Augen waren weit aufgerissen, und die Sterne!
glanzschwarze Kugeln, die aus den Höhlen wollten. Kilian hatte die Zähne zusammenbeißen müssen, um nicht laut zu heulen, und Favre waren die Tränen eilig auf die Kissen ge- tropft. Dann war die Hebamme hereingekommen und hatte seelenruhig gesagt:„So ist's recht! Das sind schöne Wehen! Jetzt werden wir es gleich haben!" Es ging aber noch zwei Stunden! Und als das Kind geboren war, war es Kilian gewesen, als hätte man seine Seele wie ein Taschentuch in einen Topf siedendes Wasser ge- taucht, sie mit Soda ausgelaugt und nachher mit roten Wäsche- rinnenhänden übep einem Wellbrett mißhandelt und darauf ausgerungen. Was Wunder, wenn Farbe und Zeichnung aus dem ehemals so schönen Tüchlein verbleicht, wenn es ruiniert war... Favre hatte gestrahlt.„So, mein Freund, jetzt müssen wir aber eins trinken!" Beim Abschied hatte Fran Favre Kilian kaum die Hand geben mögen vor Schwäche, Sie hatte noch geflüstert:„Ist es ein schönes Kind?" „Oh, wunderschön!" hatte er geantwortet, aber in Wahr » heit hatte es ihn vor dem quieksenden, schleimigen Fleisch- klumpen geekelt. Ueberhaupt war er von dieser Geburt mit niederschmet- terndem Eindruck weggegangen. Es war, wie wenn der letzte Rest von Glaube an irgendeine Fügung und Vorsehung von ihm genommen wäre, und die Erkenntnis der Hilflosigkeit der Kreatur stand scharf vor ihm und wie sehr der Mensch auf sich selber und seine eigenen Einrichtungen angewiesen sei... Und dann, nach zwei Monaten, war das Kind— sein Kind!— blödsinnigerweise gestorben!—— Hilflos und rettungslos. Einmal war er mit Frau Favre auf dem Friedhof am Grab gewesen. Es war ein kalter Tag ohne Glanz und Puls- schlag. Kilian war dagestanden mit einem dummen dumpfen Weh im Herzen. Als sich Frau Favre niederbeugte, um einem armen Geranienstöcklein ein paar welke Blätter abzulesen, war plötzlich ein Stöhnen seinem Mund entwischt.-- Ueberrascht sah Frau Favre zu ihm empor, und als sie sein Elend sah, fing sie laut zu schluchzen an.„Die arme, arme Nounou!" jammerte sie. Aber Kilian ward. angewidert von dem Geheul. Was ging ihn der Wurm an! Dem war wohl!— Der wußte nichts von der Ungeheuerlichkeit des Daseins, von den starren Naturgesetzen, denen man hilflos
und rettungslos ausgesetzt war!— Nicht einmal die Alte, nicht einmal die Mutter wußte etwas davon. Die schon gar nicht!— Mit der... mit der gab es keine Gemeinschaft. Verärgert verlieh er den Friedhof. — Ja ja, diese Madame Favre! Seit Geburt und Tod des Kindes vorüber war und die Frühlingswinde wieder über den See rösselten, erwachte in ihr nach und nach Wunsch und Begier wieder aufs neue. Aber das ging doch nicht mehr, jetzt, wo er eine andere liebte! Darum versuchte Kilian oft und oft, Tomette auf andere Gedanken zu bringen, versuchte mit ihr über Dinge zu reden, die in der Zeitung standen, über das, was in Genf und der Schweiz und der Welt vorging. Aber wenn es kein Mord oder Eisenbahnunglück war, interessierte es die Frau kaum, und sie sagte nur von Zeit zu Zeit:„Jawohl" tind „Ganz recht", oder dann„Rede nur weiter Bill, du hast eine so schöne Stimme." Und wenn er dann wütend wurde und fragte:„Sag einmal, meine Liebe, dir ist es im Grunde ganz gleichgültig, ob Genf zu Frankreich oder Italien gehört, ob Rußland vom Zaren regiert wird, oder ob dort die Bolsche- wisten um ein neues Zeitalter ringen," dann konnte sie sehr ruhig eine Nadel einfädeln und sagen:„Aber gewiß, Bill, das interessiert mich auch ein wenig." Und wenn er dann ausbrach, wie ein kleiner Bulkan:„Aber Kinder in die Welt setzen, dag kannst du!" da durfte sie lachend einwenden:„Du bist originell, Bill! Hat dies irgend etwas miteinander zu tun?" Er aber griff dann an den Kopf und stöhnte:„O, diese Weiber, diese Weiber," und ging von ihr. Um so haltloser stürmten Kilians Gedanken der Fremden zu. Der Millionärstochter, die Stand und Ehre und alles in den Wind geschlagen hatte, um sich einem großen Mensch» heitsziele zu widmen. Wer aber einmal, wie Kilian, des Lebens enge Gebundenheit erkannt, wer begriffen, wie sehr alles nur darauf ankam, sich wie an einem Abgrund an der Gesetzmäßigkeit vorbeizuschlängeln, wer Geburt und Tod mit wachen Sinnen durchgekostet und durchgedacht hatte, dem war ein Weibchen, das ewig nur seiner Sinnlichkeit und seiner eigenen kleinen Person lebte, auf die Dauer in der Seele zu» wider. Der verlangte nach einer Geliebten, an deren Hand man aus Augenblick und Gegenwart in eine ferne Zukunft, in eine erlösende Allgemeinheit gehen konnte. Eine Frau solcher Art war die Fremde, mußte sie sein! Wenn er ihr doch nur endlich wieder näher käme..« (Fortsetzung folgt.)