Kr. 455 ❖ 40. Jahrgang
Heilage öes Vorwärts
Sonnabenö, 20. September 1025
Ulfe für hungernde Volksgenossen! Ein Aufruf des Preutzifchen Staatsminifteriums.
Mitbürger! Weite Kreise unseres Volkes darben und entbehren. Die furcht- baren Nachwehen des Weltkrieges und der Ruhrbesetzung, Währungs- verfall und Teuerung, lasten schwer auf uns. Di« immer schneller zunehmende Verschlechterung des Ernährungszustandes unseres Volkes erfordert außergewöhnliche Maßnahmen. Zu dem bisherigen staatlichen Vorgehen auf dem Gebiete der Ernährungswirtschaft muß jetzt, zu Beginn der kalten Jahreszeit, im gesamten Staats- bereich eine großzügige volksspeijungsaktion hinzutreten. Oberster Gnmdsah muß fein, unter allen Umständen jedem wirklich Darbenden nnd Dedürftigen, den Aermsteu des Volkes und den Angehörigen des zngrundegehendea Mittelstandes zum mindesten köglich eine warme Mahlzeit zuzuführen. Diese Absicht muß sofort in die Tat umgesetzt werden. Der Preußische Staat wird all« seine technischen Hilfsmittel mobilisieren und einsetzen, um in türzesder Zeit die Massenspeisungen in allen Städten und Gemeinden, in denen es erforderlich ist, durch die tom- Fnunalen Behörden und sonstigen gemeinnützigen Institutionen durchzuführen. Zur Ergänzung der öffentlichen Mittel werden groß« Spenden der leistungsfähigen Kreise der Bevölkerung, in Stadt und Land an Geld und Lebensmitteln gebraucht. Jeder, dessen Herd noch warm, dessen Vorratskammer noch gefüllt ist, jeder, der die Seinen noch täglich sättigen kann, sollte dankbar sich dieser Bevorzugung bewußt sein und die zwingend« Pflicht anerkennen, an die abzugeben, deren Gesundheit und Arbeitskraft vom Hunger untergraben wird. Er ermögliche es, insbesondere Kinder, Greif« und werdende Mütter vor Enikräftung und Zermürbung zu schützen.
Wir rufen die Devölkerung Preußens in Stadt und Land auf, eine freiwillige Volksspeisungsabgabe auf sich zu nehmen. Gebt schnell und gebt reichlich. Rur wer dem Hungernden sein Brot bricht, hat auch das Recht, im warmen Zimmer am gedeckten Tische sich zu sättigen. Das preußische Volk, in Opferwllligkeil und brüderlicher Solidarität von jeher bewährt, wird, des find wir sicher, willig unserem Ruf folgen. -» Die Leitung der Volksspeisungsaktion liegt in den Händen des Herrn preußischen Landwirtschastsministers als Staatskommissar für Volksernährung. Geldspenden können sofort an die staatlichen Kassen(Regierungshaupttossen und Kreiskasten) auf das Konto„V o l k s s p e i s u n g"' eingezahlt werden. Di« Ge- meinden sind ersucht worden, bei ihnen Kasten ein gleiches Konto ein- zurichten. Es können also bei den kommunalen Kasten und etwaigen weiteren, von den Gemeinden noch zu bezeichnenden Annahmestellen Zahlungen geleistet werden. Ferner nimmt die Preußisch« Staats- dank in Berlin (Konto„Volskspcisung") Spenden entgegen. Di« zur Annahm« von Lebensmittelspenden berede tigten Stellen werden in jedem Regierungsbezirk sofort von dem Regierungspräsidenten öffentlich bekanntgegeben werden. Lebmsmittelspenden für die Berliner Volksspeisung sind«inzu- liefern bei der Zentralküche der Volksspeisung, Wörther Straße 4S. Geldspenden werden in Verlin bei sämtlichen städtischen Kasten, mit Ausnahme» der Steuerkassen, bei sämtlichen städtischen Spar- fassen mit ihren Zweigstellen und bei den Girolafsen auf Konto „Volksspeisimg" entgegengenommen.
Das Ketziner Heimatmuseum. Und zum Schluß In dem truchlkndcn Kranz: SU�in, Kofcuc und Bchlcfanz.<Th. Fontane .) Wer von Werder aus au den Diluvialhügeln, Haak- und Wachtel- berg, vorbei über Phöben, Schmergow zu wandert, der stößt auf die Chaussee, die zur K e tz i n e r Fähre führt. Ketzin , dos Fontane in feinem Gedicht„Havelland " erwähnt, ist nicht nur durch feine Ziegeleien und seine Zuckerfabrik bekannt geworden, sondern den Vertretern der Wissenschaft hat es wertvolles Material geliefert, ins- besondere denen der Geologie, Paläontologie und Prähistorie. Letz- tcrer l)at Ketzin ganz besonders wertvolles Material geliefert, denn hier wurden jahrelang in den Haveltonen die 5)ornartefaktc, fein be- arbeitete Werkzeuge aus dem Geweih des Elchs oder Rothirsches, 5mrpunen, Fischfprere, Angelhaken usw. jener Fischer, und Jäger- voller, die einst hier wohnten, gefunden und denen man auch die Wildgruben bei Fernewerder zuschreibt. Borgeschichtlich spricht man von den ältesten Menschenspurcn in der Mark und setzt sie in die A n c y l u s z e i t(etwa 8000 v. Chr.,' nach einer Schnecke Ancylus fluviatilis benannt, welche als Leitfossil für diese Zeit gilt; die Ostsee war in dieser Periode ein Binnensee, durch Landhebungcn vom nördlichen Eismeer und der Nordsee ge- trennt). Lange Zeit hat man diese Gegenstände nicht beachtet und erst spät ihren wissenschaftlichen Wert erkannt. Einer von denen, die sich hierin betätigten, genannte Ding« der Nachwelt zu erhalten, ist Herr Pastor Schmidt in Ketzin . Aber er sammelte nicht nur, sondern machte auch die gesammelten Gegenstände der All- gcmeinheit wieder zuaänglich durch Schassung des Ketziner Hei- in a t m u f e u m s. Und wer nach Ketzin kam als Wanderer und nicht nur wanderte, um des Wanderns willen, sondern sich auch einmal mit der Frage:„Wie ist alles entstanden und warum ist es so?", beschäftigt«, der ging zu Postor Schmidt ins Heimatmuseum. Und heute, da soll das alles verschwinden, nur weil angeblich keine Räume dazu vorhanden sind, soll eine der besten Sammlungen praktischen Anschauung?- und Unterrichtsmaterials der Not der Zeit geopfert werden. Gewiß, die Arbeiterklasse ist heute durch den Kampf um das Materielle, durch die Sorge um das tag- 'iche Brot derartig in Anspruch genommen,, daß sie für derartige Fragen wenig oder gar kein Interesse hat. Und die wenigen, die
heute in der Arbeiterschaft vorwärts streben, sind mit Arbeit derartig überlastet, daß ihnen keine Zeit bleibt, sich mit Museumsfragcn zu beschäftigen. Aber dann sollte man zum mindesten, wenn man über derartige Fragen entscheidet, Leute hinzuziehen, die von den Dingen «ine Ähnung haben, die ihr Lebenswert daran setzen, derartige Dinge der Nachwelt zu erhalten. Wollen wir uns zunächst über den Zweck eines Heimatmuseums klar werden, dem sich ein Gang durch das Ketziner Museum an- schließen soll.— Ein Museum dient der Konservierung, d. h. der Erhaltung und Aufbewahrungsmöglichkeit von Altertümern. Aber damit ist der Zweck eines Museums nicht erreicht, sondern das Wich- tigste ist nun, daß die Sammlung weiten Bolkskreisen zugänglich ge- macht wird, denn dos dort Ausgestellte wirkt ja, vorausgesetzt na- iürlich, daß die einzelnen Gebiete übersichtlich angeordnet und mög- lichst ohne Führer jedermann verständlich sind, viel besser als An- schauungs- und Lehrmaterial, wie Wort und Schrift es können. Ein Heimatmuseum wie Ketzin hat nun die Aufgabe, die besonderen Verhältnisse des Ortes und seiner Umgebung in Geschichte, Natur- beschreibunz usw, zu berücksichtigen. Eine dieser Sonderheiten Ketzins war schon eingangs genannt. Vorgeschichtlich sind aber noch andere bedeutende Funde vorhanden, die leider nicht alle in- folg« Platzmangels ausgestellt sind: Steinzeitliche Keramik, slawische Skelettgräber, alles Dinge, die andere Museen ziemlich spärlich auf- weisen. Dann hat genanntes Museum für die Geologie, d. h. die Lehre von der Erdbildung und der Erdmasse, Wichtigkeit. Die Bohrmasse aus dem Phöbener Profil der ehemaligen Dietrichschen Ziegelei gibt uns einen Einblick in den Aufbau der Erdschichten un- serer Heimat. Erst in der Phöbener Tongrube haben wir Aufschluß erhalten, wieviel Eiszeiten und Zwischeneiszeiten über die Mark dahingegangen sind. Der Satz des Gelehrten Pauck wurde bestätigt: Es hat mehrere Eiszeiten gegeben.— Die Paläontoloaie liefert uns hier ein« Seltenheit von Resten vorgeschichtlicher Tiere: den Abguß eines Riesenhirschgeweihes aus dem zweiten Jnterplazial (Zwilcheneiszeit). Das Original stammt aus der Dietrichschen Ton- grübe und wurde der Geologischen Landesanstilt in Berlin überwiesen. Staunend steht jeder Besucher des Ketziner Museums vor diesem gewaltigen Kopfschmuck, der etwa 3,80 Meter in der Auslag« mißt. Welcher Körper von ungeheurer Größe muß dazu gehört haben, dieses Geweih zu tragen. Nicht lang« hat diese Merkwürdig-
keit im Tierreich dem Kampf ums Dasein trotzen können und ist früh- zeitig wieder zugrunde gegangen.— Erwähnenswert ist noch die Vogelfamm'.ung, die einig« selten gewordene Exemplare der mär- tischen Vogelroelt beherbergt. Alles aber zeugt von Liebe zur Sache wir haben hier das Lebenswerk eines Mannes vor uns, dem es daran liegt, der Nachwelt ein Stück Vergangenheit zu erholten. Soll das nun alles aufhören, weil angeblich die Raumftags nicht gelöst werden kann? Stößt man sich daran, weil es ein Diener der Kirche ist, der dies« Arbeit leistet? Diese letzte Frage darf nicht entscheidend sein, sondern hier handelt es sich einfach darum, soll das Ketziner Museum erhalten werden oder nicht. An alle interessierten Kreise wird der Ruf gerichtet, sich für die Erhaltung des Museums mit allen Mitteln einzusetzen: besonders er- geht an den Magistrat in Ketzin die dringend« Mahnung, der Raum- frage näher zu treten und sich für die Unterbringung des Museums zu interessieren. Die Zeiten sind schwer, das Materielle beherrscht die Tagesereignisse und droht alles andere zu ersticken. Aber gerade deshalb gilt es zu zeigen, daß, wenn es heißt der Wissenschaft zu dienen, wir auch offene Arme haben und unseren Ruf bis Kulturvolk zu wahren wissen._ Gatteomorüprozeß Rackow Der Arauenmord im Grunewald. Unter der schweren Anschuldigung des Mordes an seiner eigenen Frau hatte sich der Maschinenarbeiter Paul Rackow vor dem Schwurgericht des Landgerichts III , dessen Vorsitz Land- gerichtsdirektor Brennhausen führt, zu verantworten. Die dem Angeklagten zur Last gelegt« Straftat ist in ihren Einzecheiten außer- ordentlich grausig. Am Tage vor Weihnachten 1922 wurde im Grunewald, zwischen Reimbahn und Untergrundbahnhof Stadion, die Leiche der 1881 ge- borenen Ehefrau Rockow aus der Wietaudstr. 49 aufgefunden. Es entstand sofort der V erdecht, daß hier ein Verbrechen vorliege, denn die Leiche war im Gesicht durch mehrere Messerstiche stark oerstüm- melt. Der Verdacht lenkt« sich auch sofort auf den Ehemann, der von seiner Frau geschieden, aber seit einigen Wochen wieder von dieser in ihre Wohnung aufgenommen worden war. Rackow, zur Rede gestellt, wollte von dem Verbleib seiner Frau nichts wissen und behauptete, sie wäre am Morgen des 23. Dezember wie ge- wohnlich zur Arbeit gegangen und nicht wiedergekommen. Er be- rief sich auch darauf, daß er im Laufe des Tages mehrfach Nach- forschungen nach dem Verbleib seiner Frau angestellt hätte und des- wegen auch schon auf der Polizeiwache gewesen sei. Durch die wiederholten volizeilichen Vernehmungen in die Enge getrieben, gab Rackow schließlich zu, seine Frau getötet zu haben. Er be- stritt aber einen Mord und erzählt«, daß er abends in den Grüne- watd gegangen sei, um«inen Weihnachtsbaum zu hole». Seine Frau sei mitgekommen und habe ein Küchenmesser zum Abschneiden des Baumes mitgenommen, während er selbst zugab, einen Revolver in die Tasche gesteckt zu haben. Roch der Behauptimg des Angeklagten bätten sie im Grunewald, wie schon häufig. Streit bekommen: die Frau habe ihm mit dem Küchenmesser gedroht und er habe es ihr schließlich in seinem Zorn entwunden, ihr mehrere Stiche ins Ge- ficht versetzt und sie dann erwürgt. Die Anklage steht jedoch auf dem Standpunkt, daß es sich um«inen wohlüberlegten, kalt- blütig ausgeführten Mord handelt. Bei seiner verantwortlichen Vernehmung äußerte sich der An- geklagte über die Vorgänge vor der Tat sehr ausführlich. Er habe im Walds mit seiner Frau Streit bekommen und auf sie mit dem Revolver geschossen oder st« geschlagen. Was geschehen ist, wisse er nicht mehr. Auch am nächsten Tage will der Angeklagte nicht ge- wüßt haben, daß seine Frau tot sei. Ich ahnte �nur, sagte er, daß chi etwas missiert sei.— Vors.: Nämlich, daß Sie sie umgebracht haben.— Angekl.: Das nicht.— Staatsanwaltschaftsrat P ar i f i u s verweist darauf, daß der Angeklagte früher über die Tat«ine ein- gehende Schilderung gegeben hat, so daß es unerklärlich sei, daß er sich heute an nichts mehr erinnere. Der Angeklagte erwidert, daß er damals ganz zusammengebrochen sei und auf der Polizei alles, was man ihm vorgehalten hätte, zugegeben habe. Einiges habe er aus Angst dazu erfunden.— Die Zeugin Frau Klein, die Schwester der Ermordeten, stellt dem Angeklagten e i n sehrschlechtesZeugnis aus. Ihre Schwester habe viel durch ihn leiden müssen und der Angeklagte habe seiner Frau mehrfach ge- droht, er werde sie um die Ecke bringen. Verschiedentlich habe er sie nachts ausgesperrt und auch mißhandelt. Schon in den ersten fahren der Ehe habe Rackow zweimal versucht. seine Frau und sie, die Zeugin, durch Aufdrehen der Gas- Hähne zu vergiften.— Ein heiterer Ton kam in die ernst« Verhandlung bei der Vernehmung der geschiedenen Frei- f r a u v. Coburg , die sich als Zeugin dafür gemeldet hatte, daß
Das verbrechen öer Elise Geitler.
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Novelle von Hermann Keffer.
An einem Sommertag kam es freilich dazu, daß in den Geschwistern die Erinnerungen an den Berligenfelder Fried- Hof schön und farbig aufleben konnten. Man feierte das hundertundfünfzigjährige Jubiläum der Berligenfelder Bauernschlacht. und der Vater war in seiner Paradeuniform mit den Kindern hinausgefahren, um das Schauspiel zu sehen. Außerhalb der Friedhofsmauer standen die Kinder mit ihm in dem hohen Wagen, von dem aus der Vorgong gut zu überschauen war, und erblickten auch bald inmitten der wehenden Bannerseide bekränzter Fahnen ein Häuflein. würdiger alter Leute, das vor dem Denkmal postiert war. Unter ihnen war auch ihre Elise, die unter den direkten Nach- kommen der Helden von Berligenfeld'hren Platz hatte und von einem jungen Prinzen des königlichen Hauses, wie olle die Alten, eine sllberne Medaille an die Brust gesteckt bekam, wobei sie eine demütige Verbeugung zu machen hatte. Es war ein großer Lärm von Reden, Kanonenschüssen und schmetternder Blechmusik. Die Blumen auf den Grabhügeln waren durch Hunderte von begeisterten Füßen zerstampft, als am Schlüsse, nachdem sich die Menge zerstreut hatte, der Oberst, von Elise geführt, mit den Kindern den Gottesacker betrat. Er wünschte das Grab ihrer Eltern zu sehen, und Elise ging gesenkten Hauptes voraus, wies dann nach einem schwarzen holzkreuz auf einem klsinen von Geranien um- friedeten Hügel, darin eine neue schwar.ze Tafel schräg:n die Erde gesteckt war. Und als der Oberst die Inschrift las, brach die alte Frau schluchzend zusammen und küßte ihm ein- übers anderemal dankend die Hand. Gertrud aber, die im halblangen Kleidchen dabei stand, wußte nicht, wie sie sich das Geschehnis zusammenreimen solle, und der Vater, der sonst kaum über Elise sprach, sagte, nachdem sie wieder allein waren:„Sie hat ein schweres Leben gehabt." Es begab sich nicht häufig, daß Gertrud in solchen Be- trachtungen über Elise verweilte. Sie ließ sich von ihr wie von einem anhänglichen Tier umhegen und dachte nicht weiter darüber nach, wie es einmal werden solle, wenn die Dienerin die Augen schlösse. Nach dem Tode des Vaters war davon die Rede gewesen. Elise in einer städtischen Nersor-
gungsanstalt unterzubringen, aber die hatte sich gegen das Gnadenbrot in der Gesellschaft neidischer und zänkischer Pfründner gewehrt; der Vormund aber ließ dann den Plan um so bereitwilliger fallen, als auch, wie er berichtete, ein anderer, heikler Grund, den er nicht nennen könne, das Vor- haben erschwere. Nun lebte die Alte seit bald fünf Jahren mit den Ge- schwistern in dem stillen Hause zusammen, umhielt sie mit einer Fürsorge, die jedes Vcrhätinis, wie es zwischen Dienst- boten und einer Herrschaft besteht, aufhob, wurde ins Ver- trauen gezogen, wann immer es etwas zu beraten gab, genoß das bescheidene Glück der Unentbehrlichkeit und fiel trotz mancher Laune nie zur Last. Gertrud sah sich um. Die Sonn« war höher gestiegen und zitterte in der klaren Luft, der Bach lärmte lauter, von den Häusern am Hügel stieg der Rauch kerzengerade empor, auf der Uhr des Kirchturms rückte der Zeiger auf die zehnte Stunde zu. jilus dem Wäldchen am Ufer drangen Stimmen und Das Geräusch von Sägen und hacken, holzknechte waren dort daran, an- geschwemmte Bäume aus dem Gestrüpp zu lösen, die das Hochwasser vom März an die Ufer getrieben lzatte. Dies war für die Berligenfelder eine Woche voll Aufruhr und Angst gewesen, denn der Bach, der im Hochsommer oft nur wie ein dünner schaumiger Streifen aus dem nahen Gebirge kam, war ausgetreten, und die Hütten am Fluß standen bis an die Fenstergesimse im grauen Wasser. Das Sohrfche Land- Haus, wo der Bach tief und verfchluchtet dahinftrömts, war zwar heil geblieben und nicht bedroht. Gleichwohl aber hatten die Geschwister, bis sich die Wasser wieder oerliefen, einen Gasthof in der Stadt bezogen: Gertrud konnte sich allabendlich in einem weiten, von glitzernden Kronleuchtern er- hellten Saal aufhalten und hatte auch dreimal getanzt. Das war jetzt vorbei. Alles war ruhig geworden, grün und hell und auch sonnig. Aber es geschah nichts in dieser hellgrünen Sonnigkeit. Drinnen im Haus erklang wieder die Geschäftigkeit Elisens und der von ihr befeuerten Magd. Sie machten sich an den Fenstern zu schaffen, die aus den Angeln gehoben und hinterm Haus abgewaschen wurden. Gertrud träumte sich in ihr Buch und in eine bewegte Erzählung von abenteuernden und liebenden Menschen hinein.
Es traf sich, daß am Nachmittag desselben Tages eins alte Freundin der Familie, von den Geschwistern kosend Tante geheißen, in Berligenfeld ihre Aufwartung machte und Gertrud bis zum Abend hinhiell. Tante Julie, ein armes adeliges Fräulein, eine Beamtentochter, die ledig geblieben war und sich mit Sprachstunden durchhalf, galt allenthalben als ein verschrobenes Menschenkind. Sie lebte, seitdem in ihrem eigenen versandeten Dasein nichts mehr zu erledigen war, für das Schicksal der anderen, und brachte denn auch in das weiße Haus und zu dem jungen Mädchen ihren großen Vorrat von Teilnahme und Besorgnis mit, den sie in ihrer umständlichen Art vor sich hinbreitete, wobei sie sich auf die Liebe zu Gertruds verstorbenen Eltern berief, die, verschönert und ins Große gesteigert, in allen ihren Ratschlägen, Be- lehrungen und Aufklärungen wiederkehrten. Elise sah bald, wie heute der vertrocknete Mund des alten Fräuleins eifrig auf das heiße und rote Gesicht Ger- trudens einsprach und wie das Mädchen zusehends ernster wurde. Was da oerhandelt wurde, vermochte sie, während sie hin und wieder nach der Gartenlaube Ausschau hielt, wohl zu ahnen. Erstreckte sich doch die Mitteilsamkeit des alten Fräuleins auch auf die alte Dienerin des Hauses, die ihrer Besorgtheit um Gertrud häufig Auskunft erteilen mußte und darum auch im Vertrauen erfuhr, daß das alte Fräulein dem müßigen Tag des„Kindes", wie sie sich ausdrückte, nicht ohne Einwände zusah und ihm eine Tätigkeit wünschte, da- mit der„Unrat von bösen Gedcmken, der in jungen und un- beschäftigten Mädchenköpfen von selber blühe, ohne daß er mit Wasser benetzt werde" nicht aufwachse. Das war die Ursache, warum auch heute das Fräulein wieder mit einem Vorschlag kam, den sie sich schon längst zurechtgelegt hatte und dem schlecht verhehlten Widerstreben des Mädchens dies- mal schonungslos anpries. Indes sich die warme Sonne immer tiefer auf den Waldrand herabfenkte und Gertrud gerade im Schatten der Uferbäume einen heiteren Zug von trabenden Reitern und Reiterinnen erblickte, die sich auf dem Rasenweg an der Seite der Straße hoch und vergnügt im Sattel hoben, malte ihr die alte Dame das Bild von einer eintönigen Flucht weißgetünchter Anstaltssäle, in denen Ger- trud, einen schwafirzen Stoffgürtel um ein grünes Umform- kleid, als Lehrerin vor kleinen Kindern stehen sollte. (Fortsetzung folgt.)