Nr. 27 ♦ 41. Jahrgang
Seilage öes vorwärts
dormerstog, 17. Januar 1924
9er Schutz vor Setriebsunfällen. Was geschieht und zur Unfallverhütung noch geschehen mutz.
Menschenopfer sind abgeschafft! Lang« liegen jene barbarischen Zeiten hinter uns, in denen Menschen unter Beobachtung allerlei religiöser Bräuche irgendwelchen zweifelhaften Göttern geopfert wurden. Wir brauchen die„heiligen" Handlungen nicht mehr. Sang- und klanglos nimmt das Dapitalislüsche Zeitalter die Menschenopfer entgegen. Man spricht dann von einem Unfall, vielleicht auch von einem Opfer der Arbeit, und die meisten gehen mit einem Achselzucken über das traurig« Ereignis hinweg. Im Jahre 1919 verunglückten in Deutschland insgesamt S7S 000 Menschen. Das heißt, daß bei 300 Arbeitstagen zu je 8 Stunden gleich 144 000 Arbeits- Minuten in jeder Minute vier Menschen in Deuffchland verunglückten. Das ist eine so erschreckend hohe Zahl, daß daraus die Pflicht er- wächst, zu untersuchen, ob wirklich alles geschehen ist. was zur Unfallverhütung geschehen kann. Auf Grund dieser Ergebnisi« muß dann mit aller Kraft an der Beseitigung von Fehlern gearbeitet werden. Menschen- und Maschinenschutz. Es gibt ja bereits eine ganze Reih« gut erdachter Bestimmungen, die den Aienschen im Betriebe vor den Gefahren der Arbeit schützen sollen. Wenn alle diese Bestimmungen wirNick beachtet werden. wird die Unsallgefahr sicherlich schon wesentlich herabgemindert. Der Widerstand gegen die Schutzvorrichtungen an Maschinen tonnt« erst nach jahrlangem Kampfe beseitigt werden, und noch heute ist in manchen Betrieben nach dieser Richtung hin noch viel auszusetzen. Aber auch dort, wo der Betrieb allen gesetzlichen Anforderungen zur Verhütung von Unfällen nachkam, ereigneten sich Unfälle, und das zeigt, daß mit dem INafchinenfchuh allein die Unsallgefahr noch nicht genügend bekämpft ist. So hat man denn dem Menschen und seinem Verhalten bei Unfällen größer« Aufmerksamkeit geschenkt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß zwei Drittel der Unsälle durch irgendein versagen der menschlichen.Fähigkeiten oder auch dadurch, daß Menschen nicht ihren natürlichen Anlagen entsprechend verwendet wurden, entstanden sind. Schlechte Ernährung. Ermüdung bei der Arbeit, unhygienifche Mahnungen und ArbeitsslSlten. unrichlige Lebensweise haben ein gerütteltes Matz von Schuld an der hoben Unfallziffer. Nach einer Statistik häufen sich am Arbeitstage die Un. fäll« gegen die Mittags- und Abendstunobn. Immer dann, wenn der Körper und Geist ermüden, wächst die Wahrscheinlichkeit des Unfalls. Wenn festgestellt wurde, daß an den Montagen und Sonn- obende« sich die meisten Unfälle ereignen, also am sechsten Arbeits- dafür, daß de? Mensch am Sonnabend, also am sechsten Arbeits- tag« von der Arbeit an den vergangenen fünf Tagen stets ermüdet ist, so daß die Aufmerksamkeit wesentlich herabgemindert wurde, und daß der Mensch am Montag sich erst w-ieder in den Betrieb hineinfinden muß. Es gibt viel« Menschen, die den Sonntag durchaus nicht„unsolide" verbracht haben, und denen es dennoch schwer fällt, am Mcatag flott zu arbeiten. Die Nerven sind an einem Ruhetag r.och nicht zur Ruhe gekommen, die Arbeitsspannung ist noch nicht abocklungen und mitten in der Entspannung werden sie dann zu neuer Arbeitsleistung aufgepeitscht. Daraus ergeben sich feesifche und körperliche Unstimmigkeiten, die schließlich zu einer Mehrung der Unfälle führen. Die Beliebtheit des„blauen Montags" in der „guten alten" Zeit mag hier wohl ihren tieferen Grund haben. Auch im Frühjahr und herbst, wenn die Ralur sich auf den Sommer bzw. Winter umstellt, häufen sich die Unfälle. Zahlreich« Menichen leiden sehr unter diesem Wechsel der Jahreszeiten, auch in ihnen geht wie in der Natur«ine Art Revolution vor sich, die sich eben- falls in einer venninderten Aufmerksamkeit oft in sehr gesteigerter Nervosität bemerkbar macht. Dies« Erkenntnisse, dl« in langen Be- vbachtungen in technisch gut durchgebildeten Betrieben gewonnen wurden, muffen nun für die Unfallverhütung verwendet werden. Nnfälle unü Wirtschaft. Es müffen neue Wege beschritten werden, um des Menschen rmd auch um der Wirtschast willen. Wenn sich im Jahre l919 nicht toenmer als 35 936 Unsälle ereigneten, die zu dauernder Erwerbs- un ähigkeil führten, so ist das allein schon eine Zahl, die zeigt, daß hier neben körperlichen und seelischen Werten auch große Wirtschaft- «che werte vernichtet wurden. Man kann getrost behaupten, daß ein Vetrftb, der eine hohe Unsallzisser ausweist, auch technisch nicht
aus der höhe ist. Ein« eingehende Untersuchung ließe alsbald un- zulässig« Kraft- und S'ossverschwendung zutage treten. Man hat den wirtschaftlichen Verlust, der durch die Unfall« im Jahr« 1919 entstanden ist, auf fast 3 Milliarden Goldmari geschätzt. Genauere Werde erhielte man, wenn jeder Betrieb gezwungen wäre, ein Uufallkooto anzulegen. Unfallverhütung ist nicht nur eine soziale, sondern auch eine wir schaftliche Maßnahme ersten Ranges. Sie sollte daher auch in den Betriebswiffenschaften einen größeren Raum als bisher einnehmen. Zu der gewissenhaften Durchführung der be- reits bestehenden gesetzlichen Bestimmungen zur Unfallverhütung— auf die zu achten eine der vornehmsten Aufgaben der Betriebsräte sein sollte— müssen weitere Maßregeln treten. Zu diesen gehört vor allen Dingen, daß der richtige Maua au den richtigen Platz ' gestellt wird, hier können die psycholechnischen Untersuchungen von großem Nutzen sein. Es ist geradezu ein Verbrechen, Menschen mit gefährlichen Arbeiten zu betreuen, bei denen sie selbst und durch ihr Versagen auch noch ihr« Mitmenschen gefährdet werden. Ber den psycholechnischen Prüfungen der Straßenbahn sind unter 100 An- Wärtern, die sich zur Ausbildung als Fahrer gemeldet hotten, nur 20— 30 als geeignet befunden worden. Es stellte sich dann später heraus, daß von den Geprüf en rund 45 Proz. weniger Unfälle ver- schuldet wurden als bei den ungeprüften Fahrern. Zu dieser psycho- technischen Prüfung, die in einigen Großbetrieben lediglich zur Untersuchung der Lehrlinge eingeführt ist, sollten dann rein betriebstechnische Maßnahmen komme». Ein großer Teil der Unfälle könnte vermieden werden, wenn man die Werksangehörigen planmäßig mit den möglichen Unfällen vertraut mochte und die Äbwehrmaßnohmen so einübte, daß das Hirn im Augenblick der Gefahr kein« Hemmung erlitte. Eine weitere technische Maßnahme bestände darin, Maschinen und Geräte so auszubilden, daß Im Augenblick der Gefahr die richtigen hondbewegunqen automatisch vom bedrohten Menschen aus- geführt werden. Die Durchführung dieser Grundsäße verlangt aber, daß die Unfallverhütunq geradezu als«in Teil der Arbeit selbst betrachtet wird. Dies« Maßnahmen werden aber erst dann von Erfolg gekrönt sein, wenn dem Arbeiter eine ausreichende Eni» lohnung, die ihm gute Ernährung und menschenwürdiges Dasein sichert, gewährleistet wird. Sicherheitspropaganüa. Endlich wird noch eine systematffche Un'alloerhütungspropaganda. I die man besser als„Sicherheitspropagaada" bezeichnen sollte, emp- fohlen. Diese Propaganda soll sich an das Gefühl und an den Eigen- nutz der Menschen rnenden. Es ist«ine alte Erfahrung, daß eine rein oerstandesmäßige Anleitung zu irgendwelchen Dingen die > meisten Menschen nicht zu fesseln vermag. Daher sollen solche Pia- kat«, Klebemarken schlogwor'arttg den Menschen aufrütteln und ihn . an sein« Sicherheit bei der Arbeit denken lassen. Man hat mit einer solchen großzügig und richtig durchgeführten Propaganda in einiacn amerikanischen und englischen Städten gut« Erfolge in der Ber- Minderung der Unfallzfffern erzielt. * In den vorstehenden Sätzen fft in großen Zügen ein Ueberblick über ein äußerst wichtiges und dennoch viel zu wenig beachtetes Gebiet gegeben worden. Engstirnige Unternehmer haben den Men- schen stets als billiges Ausbemungsobjekt betrachtet. Ein Mensch war schnell- ersetzt, eine Maschine, und Schutzvorrichtungen kosteten Geld. Daß aber der Mensch das Wertvollst« im ganzen Wirtschofts- getrieb« ist, daß gerade er am sorglichsten behandelt werden müßt«, das haben immer nur wenige begriffen. Gerade unsere Tag« zeigen wieder das beschämende Schauspiel, daß sich klug und mächtig dünkend« Unternehmer darin hervortun, den Lebensunterhalt der Arbeiter zu vermindern. Sie machen damit nicht nur all« Sicher- hei'smaßnahmen und die geplante, an sich sehr schöne Unfalloer- hütungspropaganda illusorisch, sondern sie graben der deutschen Industrie ihr eigenes Grab: Ausgepowerte Menschen können auf die Dauer keine Qualitätsarbeit leisten. Gute Gedanken zur Berbeffe- rung der menschlichen Arbeit und Arbeitsbedingungen hat es immer gegeben, aber sie nützen nichts, wenn ihre Durchführung in kurz- sichtiger oder böswilliger Weis« verhindert wird.
Eine Ehrenrettung Serlins. Rückgang de« Nachtlebens und der Luxusstätteu. Gegenüber vielfach im Inland« und Auslande verbreiteten Be- richten über Luxus und Schlemmerei in den Berliner Lokalen ist es— nach dem Amtlichen Preußischen Pressedienst— von Wichtigkeit, festzustellen, daß in den letzten Monaten der Aufwand in den Gaststätten w einem derartigen Maße zurückgegan- gen ist. daß jetzt von Schlemmerei nicht die Red« sein kann. Am besten wird dies illustriert durch die zurzeit bestehend« riesenhafte Arbeitslosigkeit im Gast wirtsgewerbe. In der Zeit vom 1. April 1922 bis zum 1. Aprtl 1923 waren in Berlin durchschnittlich 25 000— 28 000 Arbeitnehmer im Gastwirt s- »ewerbe beschäftigt, die heut« aus etwa 13 000 zusammengeschmolzen sind. Auch der Konsum in den Gaststätten ist überaus stark zu- rückgegangen. Di« Brauereien setzen zurzeit noch nicht die hälft« der Biermengen ab wie im November v. I.; und der Wein- umsatz ist in noch weit stärkerem Maße zurückgegangen. Don diesem Rückgänge sind alle Zweige des Gastwirts- gewerbes betroffen. Namhafte Hotels mußten geschloffen werden, große Bierrestaurams sind wegen schlechten Geschäftsganges einge- gangen. Die vor etwa 1— 2 Jahren stark vermehrten Likör- st u b e n gehen jetzt zum großen Teil wieder ein oder stellen sich in Restaurants oder Cafes um. Dabei mag bemerkt werden, daß das Abwandern der Gäste in Cafes, in denen man nichts zu essen und nur Getränke von geringem Geldwert zu sich zu nehmen pf.egt, ebenfalls eine Folgeerscheinung der allgemeinen Ärmitt ist. Kurz— der Niedergang des Gostwirtsgewerbes spiegelt die allgemeine Ber- armung wider, in der sich der weitaus größte Teil des deutschen Volkes befindet. Als ausgesprochen« Luxuslotale kommen in Berlin außer den großen internationalen Hotels nur ganz wenige in Franc. Auch in diesen Lokalen herrschte gerade in der letzten Zeil gähnende Leere. Soweit sich in den vergangenen Monaten dcch hier und dort unerfreuliche Ausschreitungen gezeigt haben, ist die Polizei mit ollen ihr zu Gebote stehenden Mitteln dagegen vorgegangen. So sind in der Zett vom 1. August bis zum 7. De.zember 1923 387 Schankwirtschaften der Polizei st un de nübertretung überführt worden. Bei 22 fft die Schließung, bei 181 die Herabsetzung der Polizeistunde und bei 184 polizeiliche Verwarnung erfolgt. In der gleichen Zeit sind in 53 Privatwohnungen Nachtbetrieb« festgestellt worden, wobei 42 Wohnungen beschlagnahntt und 11 Wohnungsinhaber verwarnt worden sind. 33 Veranstalter solcher Nachtbetriebe wurden dem Richter vorgeführt. Generell kann gesagt werden, daß im Gegensatz zu der allge- meinen Not und Verarmung sich nur ein ganz kleiner Kreis von ! begüterten Personen findet, die auch heute noch ein Luxusleben führen können und die von dieser Möglichkeit auch«inen höchst an- stößigen Gebrauch machen. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um die„neuen Reichen", die ihr Geld schnell und verhältnismäßig mühe- los errungen haben. Bei der überaus geringen Zahl der Luxusgaststätten, die dieser Kreis mit Borlisbe aufsucht, treten sie natürlich desto stärker in die Erscheinung und erwecken so ein durchaus falsches Bild von der Lebensführung der übergroßen Masse der Bevölkerung der Arbeitsstadt Berlin .
Juwelendiebstahl auS eine«„intimen" Tresor. Aus einem„sicheren" Gewahrsam wurden einer Dome Schmuck- fachen von hobem Werte gestohlen, und zwar eine Kette aus 128 echten Perlen,«in Paar runde goldene Damenohrring« mit einer japanischen Perle in der Mitte und einem Brillanten darüber.. und ein goldener Dmnenring. Die Perlenkette hat ein goldenes Schloß mit einem Smaragd und zwei Brillanten. Der Ring ist oben und unten mit drei und an der Seit« mit einem Brillanten besetzt. Die Dame hatte diesen ganzen kostbaren Schatz in einem zugeknoteten Taschentuch in den Busen gesteckt, um ihn ganz sicher zu behüten. Trotzdem wurde er ihr gestohlen, und zwar auf einem nächllichen Heimweg« von der Koiserin-Augusta-Alle« über die Schloßbnick« in Eharlottenburg noch dem Wilhelmplatz, von dort mit der Untergrundbahn bis zum Zoo, von hier mit der Straßenbahn bis zum Kofferplatz und endlich nach ihrer Wohn"iig am Südwestkorso. Sie setzt auf die Wiederbeschoffung«ine Ve- lohnung von 400 Goldmark aus. Der merkwürdiae nächtliche Zick- zackweg von der Kaiserin-Augusta-Allee nach dem Südwestkorso über den Wilhelmplatz scheint doch wohk nicht ganz ohne Einfluß auf den Verlust gewesen zu sein.
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Oer Bürger.
von Leonharü Krank. 1. Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: „Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt. geh ich hinein und kaufe die Broschüre... Ehrenwort?" „Ehrenwort!" sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick zuckte fortwährend von der Borfchürc zum Ziffernblatt. Der Zeiger stand knapp vor Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei lind war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte cintrelen......... Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück.„Was wird inein Vater sagen, wenn ich sie kaufe?... Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie kausen will und dazu den Mut nicht habe?.-. Oder würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden ginge?" Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las den Titel, sab. wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, während«r sich„Feigling! Elender Feigsino-" schimpfte, daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand neben ihm. Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: Ich kann auch jetzt noch hinein Aber so- fort!... hat der Buchhändler eben gelächelt? Ueber mich? Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg. in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen schlugen... „Solange er unter der Tür steht, kann ich sa nicht hinein. Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Loden zurück. „Jetzt!... Wenn ich den Mut setzt nicht aufbringe, irird das Leben auch in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar. Da erschien bei der Kirchs ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz. Sohn eines Uninersitätsprofessors/ Jetzt natürlich kann ich nicht hinein, dachte Jllrgeneund ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Lonne an. Die gestärkten Röcke
strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpcnrondell vorüber. Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mäd- chen im Knieröckchen so feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort Halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte. Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter und sah. Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg. der sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut im Blick. offenen Mundes den Reichtum bestaunte. Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen von einem bisher nie empfundenen Gefühle, zu Karl Lenz sagte:„Man muß Empörer werden." „Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?" Der Junge blickte feine schwarzen, skrofulösen Beine an, beschämt empor zu Jürgen, in dem. unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder versank. Verwirrt ging er. während Karl Lenz in den Konditorladen eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf. Es war drückend still im Hause Unbeweglich saß Jürgen m seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe. Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und die Tante sagt: „Nein, so«inen unielbständigen Jungen, wie du einer bist, gibt's nicht mehr. Ein Unglück für deinen Vater!" Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Ver- achtung weiter avetstn, stellte ihnen entgegen:„Ich habe doch gestern zum Vroiessar gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben." Fragt die Tante iehr erstaunt:„Was. das hast du gc- wagt?" Und Jürgen läßt sich sowrt vom Professor, der geaut- wortct hatte:„Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten, straf-
lichen Ansicht?", bei der Tante in Schutz nehmen:„Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen Ansichten." Sagt die Tante erfreut zum Vater:„Da ist er ja gar keine Schande für die Familie." Und der Vater sagt:„Entschuldige, daß ich dich ein „Schmähliches Etwas" genannt habe... Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig behandeln. Unbegreiflich!" Jürgen lächelte bescheiden. Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Dater, der krank im Lehnsessel saß. zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte:„Ich werde ihn in den Staats« dienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder so etwas ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft. unvernünftig und lebensuntüchtig ist er." Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern gedehmütigt seitwärts und hob die Brauen» daß die Stirn Fasten bekam. „Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele," sagte Herr Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht funkelten.„Auch die Seele deiner Frau bast du so lange mit dem Lineal gemessen, bis dieses leidens- fähige Gemüt einging wie ein krankes Vögelchen," dachte er und' sagte es nicht. Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab.„Wie geht's ihm? Wie ist mein Bruder?" „Unvernünftig, meine Liebe!" Herr Philippi wollte fort- stelzen. Sie erwischte ihn noch am Aermel.„Daß dieser bedeutende Mann so einen Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner. Heute sagte der Vater zu ihm: Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste für dich... Und das ist auch meine Meinung." Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens, betrachtete, als zähl« er sie. schweigend die mit der Brennschere iorgfältig gedrehten, an Stirn und Schlä'en platt angedrückten, schwarzen zwölf Fragezeichen.„Dann er- ziehen wohl Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte?... Kann ich mit Jürgen sprechen?" ..Ja, ich erziehe ihn. Cr schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz:..Die Bedeutung der Tinte im Dienste des Kauf- wanns". Sprechen können Sie ihn jetzt nicht. Der Stunden- plan muß streng eingehalten werden."(Fortsetzung folgt.)