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7. Heilage öes vorwärts
Donnerstag, 51. Januar 1�24
Die Gülöenkammer im Roten haus.
Das Rachaus in de? Königstraße beherbergt seit ewig«? Zeit «ine Stätte, an der täglich Silber und Gold zusammenkommt. Manch- mal ist es ein dünnes schmales Rinnsal, manchmal aber auch ein stark fließender Bach, der sich in diese Stätte neuen kommunalen Wirkens ergießt. Es ist die städtische Gold- und Sil der- a n k a u f s st e l l e, die ihr Heim in zwei Räumen des Erdgeschosses hat und sie täglich von S— 12, Sonnabends hingegen nur von 9— 11 dem Publikum geöffnet hält. Die Einrichtung soll dazu dienen, den in Not geratenen Vcvölkerungsschichten, die freiwillig oder gezwungen sich ihres Wertbesitzes entäußern wollen, ein« Stätte zu schaffen, wo ihnen ohne die Besorgnis der Uebervorteilung durch amtlich geprüfte Schätzer— es sind zwei ijerren tätig— der wirkliche Preis angesagt wird. Wer also goldene oder silberne Gegenstände verkaufen will, der möge sich mit einer gültigen Legitimation versehen sPaß. Miet- vertrag) und den Weg zur Ankaufsstelle im roten. Hans getrost an- treten. Hier bekomint er zunächst eine Nummer. Wenn sie aus- gerufen wird, tritt der Berrefsende an den Tisch, wo ihm eine der Helferinnen zunächst gegen eine genaue Quittung die Sachen ab- nimmt. Sie wandern dann in dos andere Zimmer, wo die vereideten Schätzer amtieren, die die Sachen genau und sorgfältig prüfen und den Wert angeben. Nunmehr kommt die Helferin mit den Sachen und der Wertangabe zurück und der Berkäuscr braucht sich jetzt erst entscheiden, ob er seine Sachen für den angegebenen Preis hergeben will. Mag er es nicht, so bekomint er sie anstandslos wieder zurück. Gibt er sie her, so bekommt er ein« Anweisung aus die Stodthaupt- kasie, die den Betrag wertbeständig auszahlt. Das scheint ein bißchen umständlich zu sein, und es wäre wohl ganz gut, wenn dos Geld gleich an Ort und Stelle ausgezahlt werden könnte. Was wird gebracht! Was wird nun in diese modern« Güldenkammer gebracht? 5hm, alle erdenklichen Dinge, angefangen von silbernen allen Fünsüg. Pfennig, imd Einmarkstücken Talern. Fünsmoristücken ansländischen Silber- und Goldmünzen. Medaillen, Ringen, zerbrochen«, silbernen Tee- und Suppenlöffeln Ailigranarbeilen und Schmuckstücken, fort bis zu ganz schweren goldenen Ringen, Armbändern, Ketten, Uhren, Schmucksachen, zum Teil mit Steinen und Perlen verziert. Da über den Werl , d. h. den Gold- oder Silberfeingehalt eines Gegenstandes, der Stempel, mit dem er versehen sein muß, Auskunst gibt, so mag das cm dieser Stelle einmal mitgeteilt und erklärt werden.„Fein" ijl der technische Ausdruck für rein. Gold muß wegen sein« großen Weichheit mit anderen Metallen verarbeitet werden, die«a fester und haltbarer machen, also mit Silber oder Kupf«. Die Feststellung des Feingehalts deutet an, wieviel Teile Reingold auf 1000 Gesamt- teil« enthalten sind. Früher rechnete man bei Gold nach Karat und bei Silber nach Lot, und auf alten Gegenständen, besonders auf Silber findet man auch diese Bezeichnungen noch heute. Di« Karoteinheit betrug 24, die Loteinheit 16. hat also heute ein aller zerbrochener filbern« Lössel die Bezeichnung 12 Lot. so bedenlet das. daß et 12 von 16 Teilen Reinsilber enthält, d. h. also nach der modernen Rechnung 780 von 1000 Teilen oder zu drei Bierreln besteht er aus reinem Silber und zu ein Viertel aus fremden Zusätzen. Ein derartiger Gegenstand ist also hochwertig. Angenommen, ein silderner 12 Lot gestempelter Lössel wiegt insgesamt 40 Gramm, so sind davon 30 Gramm Fcinsilber, das nach dem entsprechenden Tageskurs bezahlt werden muß. Die alten Goldstemvelungen weisen einen 8- bzw. 14- bzw. 18- bzw. 22karätig«n Goldgehalt nach, wäh- rend die moderne Stempelung in derselben Reihenfolg« und Wer- tung 333 bzws 585 bzw. 750 bzw. 800 aufweist, d. h. in dem be- «reffenden Gegenstand sind 333 oder 585 Teile reines Gold enthalten. Ein alter 14kar. gestempelter Trauring weist einen Goldgehall von 14 von 24 Gesamlteilen auf, was noch moderner Rechnung 585 von 1000 Teilen entsprechen würde. Eine Klappdeckeluhr, die den Stempel 333 trägt, besieht also uur aus einem Drittel Feinaold und zwei Dritteln Kops« od« ähnlichen Zusähen. Eine mit 750 gestempelt« Uhr besteht aber aus drei Viertel Feingold und nur einem Viertel Zusatz. Das feinste prachtvollste Gold war das österreichisch« Dukaten» ao'i) dos zu 950 Testen aus reinem Gold bestand, und die Juwe- Vetc kauften sich früher ganz einfach solche Dukaten und fertigten daraus ihr« Dukaien-Trauringe. Die HeutiT Bezeichnung nach dem soaenan««, metrischen System, d. h. nach Tausendteilen, macht auch
für den Laien das Erkennen des wahren Wertes eines Gegen- standes leicht. Dos ist besonders bei Trauringen wichtig, deren innerer Reif angeben muß, welchen Soldgehalt der Ring hat. Weist der Ring diese Zahl nicht aus, so darf der Laie annehmen, daß der Ring nur vergoldet ist. Je höher die Zahl, desto bess« der Gold- geholt, desto wertvoller der Ring. Goldene Uhren müssen außer der Zahl auch das Goldzeichen, einen feinen Kreis und darin eine Krone, aufweisen. Dublee, Talmi, Tombak. Dublee heißt nicht etwa, wie manchmal vermutet wird, dopvelt stark, sondern einfach Plattierung. Es gibt Silber- und Golodublee, Gegenstäude, die aus unechtem Metall bestehen und mit dünnen Gold- od« Silb«plältchen belegt und mit dem unechten Gegenstand so ena verbunden sind, daß sie— wenigstens für den Laien—«in untrennbares Ganzes bilden. Dublee-Uhren,-Ring«, -Manschettenknöpfe bedeuten also Ding«, die aussehen wie echt, es ab« nicht sind. Immerhin dauert die Täuschung ziemlich lange, so lange nämlich, bis die Plattierung abgenutzt ist, und das kann immerbin viele Jahr« dauern. Dies« Gegenständ« sind aber nicht wertbeständig und können allerdings niemais»«kauft oder vttsetzt werden. Talmigold ist überhaupt kein Gold, sondern ein Messing aus Kupf« und Zinn von goldähnlicher Farbe und wird mit einem Hauch Gold überzogen. Vor Jahrzehnten war auch das Tombak sehr bekannt. Es enthält nicht einmal einen hauch Sold, sondern be- steht nur aus Kupf« und Zinn , ein« Legierung, die allerdings gold- ähnliche Farbe erhäll. Doch kehren wir nach dies« belehrenden Unterbrechung wieder zu unserer Güldenkamin« im Rathaiis zurück. Da ist z. B. ein H«r, der drei dicke breite Ring« ablief««. Di« Dinger sehen unsäglich plump und protzig aus und stammen aus der schönen Friedcnszeit, in der es keine„Neureichen", wohl aber Schwerverdien« gab. Eine schwer« goldene Panzeruhrkette kommt dazu: sie sieht aus, als ob sie berufen war, den dicken Bauch des Trägers nur ja recht sich« und fest an das geliebt« Diesseits zu ketten. Hinterher kommt ein Mütterchen, das eine alte silbern« Uhr bringt. Zlengstlich starr! sie die freundlich« Helferin an. Als ihr der Preis genannt wird, hellt sich ihr Gesicht auf. Es ist mehr, als sie gehofft hat. Andere wieder. sind höchst unzufrieden, denn sie haben geglaubt, schweres gediegenes Gold in Händen zu haben und nun «werft es sich in den Händen der Schätz« keineswegs als echtes Gold. Manch« tiefe Seufzer folgt hier dem für imm« entschwindenden Gut, manch« Trän«, die letzte von tausend heimlich gemeinten, fällt aus ein liebes, erinnerungsschweres Stück. Das ab« ist das schöne — dieser Stä'te. daß kein hartherzig« Käufer hin!« dem Schrägen steht, der überlegt, wie er die weiche Stimmung des unglücklichen Verkäufers ausnutzt, sondern es find warme mitfühlende Frauen und Mädchen, die sich der Zagenden und Verzagten annehmen, ihnen raten und helfen, sie in Notfällen sogar an richtige Fürsorgestellen weitermeise n. » Di« Stedt behält zunächst die erworbenen Schätze, die ja nicht ihren Wert verlieren. Es gibt Tage, an denen 30—40 Personen kommen und 12000— 15000 Goldmark ausgezahlt werden. Es kommen also respektable Summen zusammen und man kann ange- sichte dieser Summen und dieser Tatsachen ein leises Gefühl der Ber- wunderung darüb« nichts unterdrücken, daß der Stadtkämmev« nicht schon vor Jahren, als der große Gold-, Silber- und Werteegenstände- Ausverkauf auch der B«lin«r Bevölkerung durch die vielen wilden Goldankaufsstellen einsetzte, nicht auf den Gedanken gekommen ist, eine solche gemeinnützige Verkaufsstätte«inzurichten.
20 Billiarden Eisenbahnscheiue gestohlen. Ein Diebstahl aus der Geldfcheinvernichtungsstell« der Reichs- «isenbahn beschäftigt die Kriminatposizei. Verhaftet wurden«in Ueberwachungsbeamter Willi S. und ein früherer Schlosser G. Die i Geldscheine, die von den verschiedenen Stellen ausgerufen und aus dem Berkehr gezogen wttden, werden einer Vernichtungsstell« üb«- geben, wie sie sich die Eisenbahnverwallung für ihre Schein« aus dem Bahrehos Lichtenberg eingerichtet hat. Hier werden die aus dem Verkehr kommenden Geldschein« der Reichpeisenbahn unt« besonderen Vorsichtsmaßregeln gesammelt und unter Aufsicht von Ueber- «achungsbeamten und Oberbeamten vernichtet. Die Ermittlungen
«gaben, daß S. mit 3 Paketen, dl« zusammen für 20 Billiarden 20-Billionen-Schein« enthielten, undurchsichtige Manipulationen aus geführt und sich zu diesem Zweck mit dem Schlosser G. in Pe dindung gesetzt hat, der ihm dabei behilflich gewelen sein soll. BV leugnen noch zunächst.__ Gesetzliche Untermiete. Die neue Regelung ab R. Februar. Das Städtische Zentralamt für Wohnungsmieten teil: n Nachdem d« preußische Minist« für Dolkswohlfahrt durch feine? ordnungen vom 12., 17. und 28. Januar die Zuschlag« zur Grünt miete für ganz Preußen einheitlich geregelt hat, hatten die&■: meinden nur noch die Möglichkeit, Hundertsätze für die ge setzliche Untermiete festzusetzen. D« Magistrat hat si-t daher in sein« gestrigen Sitzung im wesentlichen auch nur mit diese Regelung befaßt. Di« gesetzliche Miete für untervermietete Räu n. berechnet sich ab Februar in d« Weise, daß zunächst die Miete feit zustellen ist. die der Unteroermieter unter Zugrundelegung der gesetzlichen Miete stellt, für den leeren Raum zu zahlen hm Zu diesen Mieten tritt ein Zuschlag, iter nicht nur wie bishcc für die Ueberlasiung und Abnutzung von Einrichtunasgegenständen, Wäsche, Gardinen, Geschirr usw. gezahlt wird, sondern auch setz. die Säuberung der Mielräuine und Reinigung der Bettwäseh« und Gardinen mit umsaßt. Der Zuschlag wird nach d« auf den leeren Raum entfallenden Friodensnüete berechnet und ist in Goldmart zu zahlen. Er darf folgende Hundertsätze nicht Üb«steigen: bei«in- fach möblierten Zimmern und Wohnungen 60 v. h„ bei bürgerlich möblierten Zimmern und Wohnungen SO. o. h., bei elegant möblierten Zimmern und Wohnungen 220 v. h., für die Lieferung von Morgenkaffee, Heizung. Beleuchtung usw.. für Bedienung, Bad und Telephonbenutzung und dergl. sind die ortsüblichen Preis« zu zahlen. Hat beispielsweise die Miete für einen leeren Wohnraum in Friedenszeit 20 M. betragen, so beträgt der Anteil der gesetzlichen Miete, den d« Untervermieter jetzt zu zahlen hat, 26 Prdz. von 20 M.— 5,20 M. Bei einem bürgerlich möblierten Zimmer würde zu diesen 5,20 M. noch ein Zuschlag von 80 Proz.— 16 M hinzutreten. Der Inhaber dieses möblierten Zimm«s hat also am 1. Februar 21,20 M. für den Monat Februar zu bezahlen. Darauf hinzuweifen ist noch, daß entsprechend dem neuest«! Erlaß des Volkswohlfahrtsministers vom 28. Januar für G«- schäfts- und Jndustriehäuser die Umlag« der Löhn« der Hausangestellten auf die Inhaber der gewerblich zu Bureau-, Gc- schäfts- oder ähnlichen Zwecken benutzten Räum« betbehalten worden isl. Dafür wird in diesen Häusern der V«waltungskostenzuschloz um 2 v. H. gekürzt, also auf 3 v. H. festgesetzt. Zur Klarstellung ist die gesamte Mietenreyelung für Berlin in einer Sonderausgabe des Gemeindeblattes, das am 31. Januar erscheint, zusammengefaßt worden. Die Neuregelung trill mit dem 1. Februar 1924 in Kreit. Die Müllbefeitigungsgcbühr. Die für Februar zu zahlend« Müllbeselligungsgebühr be trägt für 1000 Mark des G«bäudesteuernutzungsw«tes«ine Goldmork. Der Gebäudestouernutzungswert ist aus der im No- vemb« 1923 zugestellten Veranlagung ersichtlich.— Di« hiernach für den ganzen Monat Februar 1924 berechneten Beträge sind in der Zeil vom 1. bis 7. Februar 1924 zu zahlen. Bei Zahlung in Pa- piermark ist d« Geldbetrog nach dem seweiligen Satz für Reichs- steuern und Zölle umzurechne». Jedoch gilt für alle Zahlungen in der Zeit vom 1. bis 7. Februar 1924 d« am 1. Februar 1924 geltende Umrechnungsfatz. Zahlung an alle Steuerkosien. mit Aus- i nähme der drei Kassen des Bezirk» Mitte, an die Kasie des Stadt-... fuhrparkes, B«lin C. 2, Burgste. 1, aus das Postscheckkonto 43 724( und Girokonto 410 bei der Girozentrale d« Stadt B «lin zugunsten des Stadtfuhrporkes Bankschecks können nur angenommen werden, wenn sie auf Rentenmark lauten. Durch Post eingeschickte Bontschecks werden sonst auf Kosten des Einsenders an ihn zurückgeschickt. Fäl- ligteit: 7. Februar 1924. Nach Ablauf dieses Termins tritt auf Kosten des Gebührenpflichtigen dos Mahn- bzw. Zwangseinziebunasv«- fahren ein. Besondere Beran'agung und Abholung der Gebühren findet nicht statt. Die Veranlagung ist bei jeder Zahlung vorzulegen. Der Fusammenbruck ües fler�testreiks. Die Borstönd« und Geschäftsführer des Verbandes der Ortskrankenkassen Berlins und des Verbandes der Betriebstrantenkassen Berlins nahmen gestern in
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Der Bürger. von LeokharS Krank.
Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen statte ihm vorgeschlagen, er solle mit ihm zusammen einen Bund der Empörer gründen. Seidel hatte geantwortet, dazu sei er nicht dumm acnug. Und der Rektor hatte Seidel geantwortet, einem derart unbescheidenen Menschen, der aus Unzufriedenheit leichtfertig fein Glück verscherzt habe, noch einmal eine Stelle zu verschafsen, müsse er prinzipiell ablehnen. Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner in der Buchhaltung beschäftigt gewesen. Aber auch in diesem protzen Bankhause waren die Wegc zu den zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre lang und führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen unüberstcigbar hohen Mauern durch. Seidel halte bald erkannt, daß hier alle Angestellten nicht nur unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos auch siink wie die Kreisel waren: daß es chohmeiers hier überhaupt nicht gab- und daß niemand Bankangestellter werden und bleiben durfte, der Bankier werden wollte. Der schwindsüchtige Bneftrager und seine Frau waren gestorben, die vier jüngeren Geschwister in das Waisenhaus morben. Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das Hof. zimmer. in dem Seidel fein ganzes Leben vom Tage der Ge. burt an in immer gleicher Armut»eroracht hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen Möbel so lange in der Holzlage einzustellen, bis er einen Altwarenhändler fand. der auch den armseligsten Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt. Den nach Begleichung der letzten Viertelsahrsmiete und der S Hülben be'm Xoloniälmorenhändler und Bäcker von dein Erlöse der Wohnungseinrichtung ubnggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der Tasche, das Herz kalt vor Energie und zielbewußter Willenskraft, von Webmut. Feigheit und schwäch. liehen Ueberlegungen nicht gehemmt, verließ Leo Seidel um acht Uhr früh für immer seiner Jugend stinkenden Hof. in dem nie etwas schön gewesen war, außer einem Büschel Löwenzahn, der. kümmerlich..nd zäh, jedes Jahr in der ge- pflasterten Ecke geblüht hatte. Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten ge-
führt; es war. jenseits von Gefühlsüberschwang, ein gehör- sam arbeitender Muskel und wurde vom Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren Willens machte. Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich das Ob- dachslosenheim, stand er blank auf der Straße, völlig auf sich selbst gestellt. Herabgesunkener Morgeimebel, der mir die Dächer der zwei nächsten Häuser links und rechts von Seidel freiließ. hatte die Straße, die wenigen Passanten und alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in grau. Und er erklärte ssch selbst, weshalb für ihn Grund zum Jammern nicht vorhanden sei: Er habe Zell , sei jung imd gesund und bereit, riicksichts- los seinen« Ziele entgegenzugehen. Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei ab- zustecken, sondierte er vorstellungskrästig die Idee eines Fri- seurgehilfen, der darauf spekuliert, in das Geschäft einer Fri- scurswitwe einzutreten mtt dem Ziele, die Witwe zu heiraten und Gescbästsinhaber zu werden: einen jungen Handlungs- gchilfen ließ er mit der reizlosen Tochter des Clzefs zum Standesamt gehen und ihn in einem dunklen, duftge�chwän- gerten Laden ein warmes Drogistenglück bis zum Tode ge- nießen. Unbelasteten Gemütes folgerte Seidel, daß auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen Grenzen erarbeiten könnte. Er trennte sieb von dem Ziele des Friseurgehilfen, vom Drogisten, und wandte sich seiner Laufbahn zu. die zwar noch kleiner imd unsicherer als die eines Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten i ud Menschen habe, durch die er durchschlüpfen zu können hoffe, worauf die Laufbahn in Form einer Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten oller Art ansteigen und in der Berliner Börse enden werde. Dann breitete sich das Leben aus: Jedes Wort des Finanziers Leo Seidel bat Gewicht: eine von ihm verweigerte Unterschritt »erurteebt Be'temmung»nd Kataskropben in de» Bankhäusern Seidels Augen lehlosien sieb bald. Cr flüsterte:„Aus eigener Krattl Keiner meiner M-tschüler wird sich mit mir vergleichen können: sie alle werden binter mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden." Er befand sich aui dem Weg« zu dem Platz, wo die Schaubudengerüste aufgestellt wurden für den am folgenden Tage beginnende» großen Lohrinarkt. Er dachte, gegen die stier beschäftigten verkommenen Existenzen werde ein gewissen. hafter Mensch ganz besonders scharf abstechen und. über sie
hinweg, bei einem Schaubuden- oder Karusiellbesitzer schnell zu einer Dertrauensstellung felangcn können Außerdem sei er hier nicht, wie d« Droschkengaul, zwischen zwei Deichseln gespannt, da allerleiMöglichkeiten, auszubrechen, sich ergeben würden. Seine kantige, gewallig breite Stint bildete zusammen mit dem sehr spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges Dreieefi Das Dreieck war mit allen Sommersprosien dicht besetzt. Aber auch in bczug auf seine Strebcrei hatte er in der Schule den Spitznahmen„Sprosse" bekommen.„Bon Sprosse zu Sprosse Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette hinter dem Ohr. rissen Pflastersteine heraus, hockten, in Morgen- nebet gehüllt, auf den Gerüsten, nagelten, schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fiigte sich wie immer meinander. Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewisienhaftig' keit sicher mehr zu erreichen als in einem Magistratsburean, dachte Seidel und fing vor dem grünen Wagen den Schiffs- schaukelbesitzer ab. zog den Hut.„Derzeihung, ich möchte fra- gen, ob Sie noch eine Hilfskraft bei Ihrem Unternehmen brauchen." Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen Herrn an, die saubere Wäsche.„Ich verstehe nicht recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte zur Bedienung von vier Schiffen... Aber Sie? Was wollen Sie?" „Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen... Was ist das: Adjunkte? „So heißen die Burschen bei den Schifssschaukeln.. Zwei sind vorgestern eingesteckt worden. Acht Wochen Ge- föngnis! Hatten wieder geklaut. Ab« schon bevor sie bei mir waren", setzte er schnell hinzu. „Demnach können Sie mich also brauchen?" Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe: „Freundchen... haben Sie Papiere? Waren Sie schon ein- mal bei so was?... Zuerst müssen Sie mir einmal nach- weiten, daß Sie nicht von der Polizei gesucht werden... Und vor allem möchte ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht werden." Da reicbte Seidel den« Manne sein Abitunentenzsugnis und das Entlasiunaszeugnis vom Stadtmagistrat, das den Vermerk über Seidcss Tüchtigkeit, Fleiß und Gewisienhaftig« keit enthielt. Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während seiner vierzigjährigen Jahrmarktstätigkett schon alle möglichen Existenzen untergekommen.(Fortsetzung folgt.)