Abendausgabe
Nr. 64 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 32
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
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Donnerstag 7. Februar 1924
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Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutfchlands
Lloyd Georges Enthüllungen.
Gibt es einen geheimen Rheinpakt?- Abstreitungen aus New- York und Paris .
An dem Tag, an dem Wilson mit großer Feierlich| des franzöfifchen Militärs auf deutschem Boden nicht will. Um teit bestattet wurde, hat Lloyd George durch seine Enthüllun gen in der New York World" die Erinnerung an jene tragifchen Stunden wadhgerufen, in denen der verstorbene Präsi bent unter dem Drud französischer Einflüffe fein Programm
Derriet.
Es handelt sich um die Tage vom 20. bis 22. April 1919. Die Bertreter der Siegerstaaten waren seit geraumer Zeit in Baris versammelt, um das Dokument vorzubereiten, das später der deutschen Delegation in Versailles als Friedensvertrg überreicht wurde. Die Franzosen , von Clemenceau und Tardieu geführt; hatten Englands Wünsche in bezug auf die deutschen Kolonien, Schiffe und Rabel , auf bie Aus schaltung der deutschen Konkurrenz aus der Weltwirtschaft in weitgehendem Maße erfüllt, drängten nun aber desto stärker nach Befriedigung ihrer Wünsche, die sich auf eine möglichst hohe Reparationsfumme, eine möglichst weitgehende territoriale Schwächung Deutschlands und vor allem auf die Schaffung einer militärischen Rheingrenze bezogen.
feine politische Existenz zu retten, muß er sich gegen den Vorwurf verteidigen, er trage an dem unhaltbaren Zustand Europas , der durch das Öffenlassen der Rheinlandfrage geschaffen wurde, Mitschuld. Das ist der beste Beweis dafür, mie man heute in England über diese Dinge denkt. Jezt sind die Sachverständigen in Berlin ver fammelt, um eine endgültige Lösung der Reparations frage in die Wege zu leiten. Sie ist mit der Rhein - und Ruhrfrage aufs engste verknüpft. In England ist eine Ar beiterregierung am Ruder, die jede militaristische Gewaltpolitif grundsäglich verwirft. In Frankreich fündigt sich ein innerpolitischer Umschwung an, als dessen Folge Benesch die Berständigung mit Deutschland prophezeit. Reichlich optimistisch, denn die wirkliche Verständigung mit Deutschland tonn nicht eher fommen, als bis der letzte französische Soldat die dem Deutschen Reich im Versailler Vertrag gegebenen Grenzen, wieder heimwärts gewandt, überschritten haben wird. Aber am 10. Januar 1925 enden die vertragsmäßigen fünf Jahre, nach denen die nördliche Zone geräumt werden soll. Die Fristen haben noch nicht zu laufen begonnen," sagt Poincaré . Was wird sein Nachfolger fagen?
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Die Antwort auf diese Frage wird viel interessanter sein, als der Streit um Lloyd Georges Enthüllungen, so interessant auch dieser ist.
Der Präsident Wilson konnte diesen Wünschen nicht will fahren, wenn er nicht seinem Programm der internationalen Demokratie, der Selbstbestimmung der Völker und der Behandlung des geschlagenen Gegners nach Grundsäßen der Berechtigkeit untreu werden wollte. Er ist ihm dennoch untreu geworden. Hat nun Lloyd George recht mit seiner Be hauptung, Clemenceau habe seine durch innerpolitische Ber hältnisse erzwungene zweitägige Abwesenheit von Paris dazu benutzt, dem Präsidenten ein förmliches Geheimab. fo in men über den Rhein abzulisten, so wäre der geschichtliche Ruf Wiljons erst recht vollkommen vernichtet. Denn niemand hatte fauter gepredigt als er, daß es in der internationalen Bolitit fortab teinerlei Geheimdiplominifterium des Aeußeren folgende Note: matie geben dürfe. Und nun soll er selber ein GeheimabFommen geschloffer haben, durch das er sechs Millionen Deutsche lints des Rheins für unabsehbare Zeit in frembe militaristische Stlaterei vertaufte?
Es gibt kein Geheimabkommen.
Paris , 7. Februar.( Havas.) Bezüglich der von Llonb George der Rem Dorf Borld" gegebenen Erklärung veröffentlicht tas
Was hat Lloyd George veranlaßt, feine Enthüllung gerade jezt zu machen? Es war der Umstand, daß die Ber- lichung des Gelbbuchs zu verlangen, das die Schriftstücke tand, in dem die fritischen Tage vom 20. bis 22. April behandelt werden. Diefer Beröffentlichung wollte er unter allen Umständen zuvorkommen. Erst wenn sie erfolgt sein wird, wird sich entscheiden lassen, ob er mehr von fachlichen oder mehr von persönlichen Beweggründen geleitet war, ob er einen Stoß gegen die französische Rheinpolitik führen oder feine eigene Haltung vorbeugend verteidigen wollte.
Auf jeden Fall hat er in ein Welpennest gegriffen. Denn sowohl Frankreich wie auch die Anhänger Wilsons haben geradezu ein Lebensintereffe daran, daß Lloyd Georges Be hauptung sich vor der Welt als falsch erweist. Oberst house imb Tardieu find dadurch gegen Lloyd George in eine Linie gebracht. Nur unwiderlegliche Beweise sind imstande, diese Einheitsfront der Ableugnung zu zertrümmern. Die nächste Zeit muß zeigen, ob Lloyd George solche Beweise besitzt. Aber wie immer diefer Streit entschieden werden mag, io beleuchtet er doch ganz unzweideutig das fanatisch- zähe Beftreben der regierenden Kreise Frankreichs , unter allen Umständen am Rhein festzuhalten. Mag das Geheimabkommen mit Wilson cristieren oder nicht, zweifellos eritiert das längst veröffentlichte und nie abgeleugnete fran Rösische Geheimabtomen mit dem ruffischen 3aren vom Februar 1917, worin sich der 3ar verpflichtete, gegen unbegrenzte territoriale Gegenleistungen im deutschen Osten den Franzo en die Rheingrenze zuzugestehen. Und ebenio unbestreitbar ist leider, daß Frankreich mit Wilson viel von dem erreicht hat, was es mit dem 3aren erstrebt hatte. Um jedes Mißverständnis auszuschließen, sei gleich bemertt: Frankreich hat nie die Absicht gehabt, die Rheinlande zu annettieren. Die französische Regierung fann mit demfelben guten Gewissen jede annegionistische Absicht gegenüber ben Rheinlanden bestreiten, mit dem seinerzeit die deutsche Regierung die gleiche Absicht gegenüber Belgien bestritten hat. Man will nicht annettieren", das hieße ja, bie Bewohner der annettierten Gebiete zu gleichberechtigten Bürgern des annettierenden Staates machen, man will nur Halte, was du hast!" sagt Boincaré- die belegten Gebietem Ii tärisch, wirtschaftlich und politisch fest in der Hand behalten". Das ist das verlogene Kompromiß, gu dem sich der Imperialismus heutzutage mit der Demofratie herbeilaffen muß, wobei diese noch viel schlimmer fährt, als wenn die Gewalt offen in Worten und Taten ist. Denn dieses Kompromiß macht die unglücklichen Bewohner des umstrittenen Landes zum bloßen Objekt einer militärischen Schußpolitik und vollkommen rechtlos.
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Lloyd George , so recht oder so unrecht er haben mag, legt ben Finger in die blutende Wunde Europas . Und wie immer er ver fünf Jahren gestanden haben meg, heute macht er fich zum Wortführer einer großen Mehrheit des eng fischen Bolts und Parlaments, bie das Verbleiben
Der Rhein ,, die Grenze der Freiheit". Paris , 7. Februar. ( WIB.) In der gestrigen Nachmittagsfigung der Kammer, die zu diesem Zweck auf furze Zeit unterbrochen wurde, sprach Poincaré einige Worte zum Gedächtnis des ehe maligen Präsidenten Wilsor, dem er nachrühmte, daß er sich zum Dolmetscher der Empfindungen des französischen Boltes ge macht habe, als er erklärte, daß das Recht fostbarer sei als der Frieden. In Frankreich werde man nie vergessen, daß er den Rhein als die Grenze der Freiheit be. zeichnet habe.
Oberst House gegen Lloyd George .
Washington , 7 Februar.( TU.) Oberst House, der bekannt. lich der Vertrauensmann des verstorbenen Präsidenten Wilson war, erklärte Journalisten auf die Frage, was er von der Behauptung Lloyd Georges, wonach zwischen Wilson und Clemenceau ein Ge heimvertrag abgeschlossen wurde, halte, unter anderem folgendes:" Ich möchte dieses Dokument gerne zu Gesicht bekommen, vielleicht wird sich dann herausstellen, daß es gar kein Bertrag ist und die Erklärungen von Lloyd George haltlos find."
Englische Pressestimmen.
London , 7. Februar. ( WTB.) Daily Herald", das Blatt der Arbeiterpartei, schreibt zu den Enthüllungen Lloyd Georges, Wilson habe durch sein Nachgeben und im besonderen durch seine Zuftim. mung, daß Pensionen in die von Deutschland zu zahlentenEntschädigungen eingeschlossen sein sollen, sowohl den vernünftigen Frieden verloren, den er so überzeugend aus Washington geprebigt habe, als auch den Ruf eines Mannes von unbeugfamen Grundsäßen.
Daily Chronicle" teilt mit, daß Lloyd George tie Absicht habe, bie gesamte Frage in einem Artikel zu behandeln, der am übernächsten Sonnabend im„ Daily Chronicle" erscheinen werde.
Die französische Regierung behält sich vor, auf die Behauptungen Blond Georges zu antworten, wenn sie im Befis des genauen Bortlauts ist. Für den Augenblid beschränkt fie fich auf die Erklärung, baß sie nicht erst den Tod des Präsidenten Wilson abgewartet hat, um die Zustimmung der britischen Regierung zur Veröffent. ( namentlichen) Abstimmung in der Kammer über den von Herriot bezüglich der Ausarbeitung der Bestimmungen des Friedensvertragsgestellten Antrag, den zweiten Teil des Artikels 1 der Steuergesetze, über die Sicherheit Frankreichs und den Garantiepaft ent- die Sen Grund des Ermächtigungsgesetzes darstellt, von der Be= hat. Um 24. Dezember v. 3. wurden St. Auclaire( dem Botschafter rotung auszuschließen, ist es gestern zu lärmenden Kundin London . Red. d.„ B.") die diesbezüglichen Weisungen erteilt gebungen gefommen. Die Geschäftsordnung schreibt vor, daß in London . Red. d.„ B.") die diesbezüglichen Beisungen erteilt. der vor dem 8 Januar die nötigen Schritte unternommen hat. Die für die öffentliche Abstimmung auf der Tribüne eine Stunde Zeit franzöfifche Regierung fennt fein Geheimabtom gelaffen wird. Als das Ergebnis der Abstimmung 253 gegen 16 Stimmen bekannt wurde, wurde von der Linken erklärt, JaB men, auf tas sich die Unterstellung Lloyd Georges beziehen tönnte. das Quorum nicht erreicht sei. Man schrie deshalb lärmend Es ist ein Geheimabtommen zwischen Clemenceau unt Demission! Demission! Wilson abgeschlossen worden, und wenn Unterredungen zwischen ihnen während der Abwesenheit Lloyd Georges ftattfanden, fo ift diefer bei seiner Rückkehr davon unterrichtet worden und hat am 22. April 1919 feine Zustimmung erteilt.
Weiter veröffentlicht das Auswärtige Amt eine Feststellung, wonach es ihm zur Kenntnis gebracht worden ist, daß die frun zöfifche Regierung beabsichtige, ein Gelbbuch mit gewiffen Schriftstü den vorzubereiten, die mit der Abfaffung der Artikel 428 bis 431 des Versailler Vertrags im Zusammenhang stehen. Die britische Regierung wurde um ihre 3 ftimmung zu dieser Veröffent Cichung ersucht. Das Auswärtige Amt entschied sich dahin, daß es ein Gebot der Höflichkeit sei, vor der Antwort an die französische Regierung Lloyd George von dem Vorschlage wegen seiner engen Berbindung mit den Friedensverhandlungen in Kenntnis zu fegen. Es wurde daher am 25. Januar ein Brief an ben Setretär Lloyd Georges gerichtet, mit der Anfrage, ob Lloyd George etwas gegen die Ber öffentlichung der Schriftftüde einzuwenden habe. Das Auswärtige Amt fügt feiner Mitteilung hinzu, daß feine Ant wort eingelaufen sei und daß das erste Zeichen dafür. daß Lloyd George den Brief erhalten habe, die gemeldete Unterredung sei.
Eine Erklärung Tardieus.
Paris , 7. Fetruar,( Eca.) Tardieu, der seinerzeit on der von Lloyd George in seinem Interview erwähnten Konferenz teilgenommen hat, lößt der französischen Presse eine Mitteilung über die Erklärungen Blond Georges in der New York Wertb" zu gehen. Diese Erklärung besagt u. a.:„ Das Dokument Lloyd Georges ist die Frucht einer im Delirium befindlichen Einbildungskreft. niemals gab es eine geheime Abmachung zwischen Clemenceau und Wilson. Man wird die eingehende Darstellung dieser Tage und offizielle Dokumente in meinem Buch„ Der Frieden" finden. Einen Plan, der fcit zurei Wochen in den Händen der englischen wie der amerit misden Delegation sich befand und der, infolge der Abwesenheit Lloyd Georges von Wilson 36 Stunden früher als von Biond George gutgeheißen wurde, eine geheime Abmachung nennen, ist eine ungeschickte oder böswillige Handlung vielleicht auch beides. Wenn Wilson noch lebte, so würde sein Dementi fich demjenigen anschließen, das ich hier dem früheren Premierminister gebe. Die Caranien, die wir für Frontreich am Rhein erhalten, haben wir erst nach Monaten schweren Kampfes erhalten aber es ist unser Etcla, daß wir sie in lonaler Weise gegenüber ollen un feren Alliierten erhalten haben."
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Stellung nehmen, wenn die Gegner des Gefeßes den Mut gefunden Ministerpräsident Poincaré erwiderte, die Regierung werde hätten, ihre Meinung auf der Tribüne öffentlich durch Stimmabgabe zu befunden.
heit 316 sein müffe, er stelle fest, daß das Quorum wohl er Der Kammeroorsigende erfärt, daß die absolute mehrreicht(?) fei, denn zu den 269 Abgeordneten, die abgestimmt hästen, müßten die 50 Deputierten gezählt werden, die den Antrag Herriot unterschrieben hätten. Es hätten also 319 Abgeordnete an der Abstimmung teilgenommen.(?!) Die Sigung wurde darauf auf heute nachmittag vertagt.
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Namentliche Abstimmungen sind in der französischen Kammer äußerst selten. Sie tommen eigentlich nur vor bei der jähr lichen Neuwahl des Präsidiums. Sonst finden alle Abstimmungen entweder durch Handaufheben oder durch die Schachtelverwalter"
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( boitier) statt. Jeder französische Abgeordnete befigt, übrigens wie im Reichstag eine Visitenkartenschachtel mit weißen und blauen Rarten, aber, im Gegensatz zum Reichstag, braucht er nicht perfönlich anwesend zu sein; die Fraktionssekretäre stimmen an seiner Stelle ab, allerdings seinen Weisungen entsprechend. Bei den So. zialisten ist die Sache an sich einfach, weil dort eine strenge Frattions. disziplin herrscht. Bei den Radikalen und anderen bürgerlichen Bartelen ist die Frage schon komplizierter, weil sich die Meinungen innerhalb der Gruppen oft trennen. Gewöhnlich bestimmt der Ab. geordnete als„ Schachtelverwalter" einen gleichgesinnten Barteifreund. Aber es gibt eine fleine Gruppe von Radikalen, die den Sozialisten so nahe stehen, daß sie ihre Schachteln nicht ihren Parteifreunden, sondern Sozialisten anvertraut haben!
Dieses System hat sowohl seine Nachteile wie seine Vorteile. leberrumpelungsabstimmungen sind fast ausgeschlossen. Dagegen ist es etwas lächerlich, daß ein Abgeordneter, der sich auf Reisen in China befindet, oder im Gefängnis, oder gar im Irrenhaus( solche Fälle sind nämlich schon vorgefommen), an allen Abstimmungen teilnimmt! Des Recht zur Abstimmung ruht nur infolge Urlaubs. gewährung.
Namentliche Abstimmungen, die von 50 anwesenden Abgeord neten beantragt werden müssen, sind eben fast stets nur als gegen die Regierung gerichtete Ueberrumpelungsversuche gemeint. Sie tommen felten vor und gelingen noch feltener. Gestern scheint allerdings der Versuch nach dem Wortlaut der Geschäftsordnung gelungen zu sein. Die Lesart des Präsidenten ist ein„ Dreh" übelster Art, um Poincaré aus seiner Verlegenheit zu vetten.