Nr. 65 ♦ 41. Iahrgaag
Seilage des vorwärts
Zrektag, S.Zebruar 1424
Die Nacktübungen von Schulkindern. Der deutschnationale Borstotz gegen Stadtschulrat Panlsen mißlungen!
In der Berliner Stadtverordnetenoersamm- lung haben gestern die De u t sch n a t i o n a len mit ihrem An- trag wegen der Nacktübungen von Schulkindern sich »in« Niederlage geholt, die sie durch ihr lärmendes Verhalten nicht zu bemänteln oermochten. Genosse Dr. W e y l, der die denselben Gegenstand behandelnde Anfrage der sozioldemokrati- schen Fraktion begründet« und als erster Redner zu Worte kam, begann sogleich mit einer scharfen Attacke. Er kennzeichnet« die von den Deutschnationalen zur Schau getrogene Entrüstung über die Nocktübungen als ein heuchlerisches Manöver, das nur der Wahlmach« dienen solle. Unser Redner zog die Grenzen, innerhalb deren man sich mit diesen Ucbungen einverstanden er- klären kaum Aus der Rede, mit der Stadtverordneter Rektor Troll den Antrag der Deutschnationalen begründete, ersah man, baß die Gelegenheit benützt worden sollte,«inen General- angriff gegen die Berliner Schulverwoltung und besonders gegen Stadtschulrat Paulsen zu vor- suchen. Genosse Paulsen antwortete in seiner schlichten Art. zeigte aber diesen.Freunden" der SchuOe und der Jugend deutlich genug, was von ihnen zu halten ist. Die Schuloerwaltung hat in der ganzen Angelegenheit durchaus ihre Pflicht ge- tan. und gerade ihr ist es zu danken, daß überhaupt das Pro- vinzialfchulkollegium davon erfuhr und dann die weitere Unter- suchung in die Ffand nehmen konnte. Den Deutschnotionalen stimmten die Redner der anderen bürgerlichen Parteien mehr oder minder zu, wobei einige sich in Schmähungen gegen Lehrer Koch gütlich taten. Skandal provozierten besonders Knüppel-Kunze, der sich einen Anwurf gegen Stadträtin Genossin Wehl erlaubte, und im Schlußwort die Deutschnational« Frau K a u s l e r. Zuletzt schufen die Deutschnationalen durch ungerechtfertigte Bemängelung der Geschäftesührung des Dorstehers einen Anlaß, die Versammlung beschlußunfähig zu machen. So konnten sie wenigstens diese eine Genugtuung mit nach Haus« nehmen, aber sie hatten dadurch die Abstimmung über den Rest des Erwerbslosenantroge» wieder unmöglich gemacht. » Die gestrige Sitzung eröffnete der Borsteher Genosse Haß kurz nach 5 Uhr mit einem Nachruf für Franz Krüger . den uns so früh entrissenen Genosien. In warmen Worten würdigte er die Persönlichkeit und den Charakter des Entschlafenen, seinen raschen Aufstieg als Politiker, seine Verdienste um dos Gemein- wohl, die 1922 zu seiner Kandidatur für den Vorsteherposten führten. Seit zwei Jahren hat ihn die schwere Erkrankung, die nunmehr mit seinem Hinscheiden ihren Abschluß fand, der Versammlung fern- gehalten, die seinen vorzeitigen Tod beklagt und sein Andenken w Ehren halten wird.— Die Anwesenden hatten den Nachruf stehend angehört. Eine große Zahl von Dringlichkeitsanträgen kam zur Verlesung. Angenommen wurde e-n solcher des Zentrums, der baldigste Herausgabe der im Juni 1923 für die Festsetzung der Grundmiete für Dienstwohnungen angekündigten Richtlinien fordert. und einer der Wirtschastsporteiler. der eine Berufungsinstanz für die Austragung von Streitigkeiten über die Veranlagung von Räumen zur Vergnügungssteuer verlangt. Zur Verhandlung stand zunächst die Anfrage der DVP. betreffend Unregelmäßigkeiten in Süchenbekrieben städtischer Kranken cmfialiea. Es wird Bericht insbesondere darüber gewünscht, inwieweit Auf» s i ch i? b e a m t e beteiligt oder darüber unterrichtet waren. Nachdem Streiter namens der Interpellanten vornehmlich auf die unter dem Personal der Krankenhäuser herrschende Erregung hin- gewiesen, führte der Stadtmedizinolrat R a b n o w die leider immer noch nicht oanz ausgerotteten Mißstände auf den Diebstahl an Vo?- räten zurück gegen den die Verwaltung fortgesetzt ankämpfe. Ge- nasse Tesch'ke legt« dar. daß diese Unregelmäßigkeiten nicht von heut« und gestern stammen, sondern Jahre zurückliegen. Speziell
im Virchow-Krontenhause Hab« man es mit Unehrlich- keit der Vorgesetzten des Aufsichtspersonals zu tun gehabt: dort war es soweit, daß der Betriebsrat der Arbeit- nehmer der Direktion die Flucht in die Oeffentlichkeit ankündigte, wenn sie gegen die zur Korruption gesteigerten Unregelmäßigkeiten nicht Front mache. Dennoch sei seitens der Direktion nichts ge- schehen. Selbst die Aufsichtsbeamten hätten sich jahrelang an den unerlaubten Mahlzeiten, die aus der Kost für die Kranken stammten und diesen so entzogen wurden, beteiligt. In einem Diszip'inar- verfahren gegen eine angestellte Wirtschastsgehilfin sei festgestellt, daß diese wochenlang dem Krankenhause nicht aemeldete Personen ver- pflegt Hobe, auch der reich gedeckte Frühstückstisch für die oberen Instanzen war mit aus der Krankenkost versorgt: dos untere Personal habe davon nichts erhalten. In dem erwähnten Verfahren sei fest- gestellt, daß sogar ein Stadtbaumeister dort jahrelang ein Zimmer erhalten Hab« und aus der Kranken- kost verpflegt worden fei, ohne zu bezahlen. Das sei doch Korruption! Der Magistrat müsse endlich energisch durch- greifen und dos jetzig« Aufsichtspersonal durch vertrauenswürdigeres ersetzen. Sodann wandte sich die Versammlung der Anfrage der Sozialdemokraten vom 29. Januar zu, was an den Behauptungen des Abg. Kimbel vom 24. 3 cm aar im preußischen Landtage wahr sei. daß in der Berliner Schulverwaltung unter der Leitung des kommu- nistischen Schulrats Paulsen Rackttänze geübt würden.— Vom 22. Januar datierte der Antrag der Deutschnationalen , den aleichen Gegenstand betreffeitt»: er verlangt Verhinderung dieser Racktübungen und Einschreiten gegen die für diese Entgleisung Verantwortlichen. Gen. Dr Weyl begründete die Anfrage. Er erinnerte daran, daß der Stadtverordnete Kimbel sDnat.) als Landtagsmitglied bei der Beratung über verschieden« Fragen des Gemeindewahlrechts die Vornohme von Neuwahlen auch in Berlin am 4. Mai befür- wartet und dabei auf Dinge in der städtischen Schuloerwaltung hin- gewiesen hat.„die zum Himmel schreien", daß er vom„kommu- nistischen" Stadtschulrat Paulsen und von den„skandalösen Nackt- tanzen" in Berliner Gemeindeschulen gesprochen hat. Natürlich machten sich.Nackttänze' für die reaktionäre Wahlpropaganda am passendsten. E» handle sich um hahnebüchene Uebertreibungen �Widerspruch und Lachen rechts): Herrn Kimbel fei es nur um Wohlmache zu hm gewesen.(Große Unruhe rechts.) Mit rhythmisch-gymnastischen Uebungen könne man freilich die Volks- seele nicht zum Kochen bringen, um sv«her aber, zumal die Zen- trumsanhänger, um deren Stimme man werbe. wem> man über „Nackttänze 6— 14iähriger Schulkinder" sich sittlich entrüste. Was sich abgespielt Hab«, habe in Eammelschulen stattgesunden, gegen die dl« Reaktion Sturm laufe. In der bürger- lich orientierten Bezirksversammlung„Tiergarten" habe am Mitt- woch eine Resolution gegen wenig« Stimmen Annahme gefunden. wonach Anstoß an den Uebungen in der Gemeindeschule Waldenser Straße nicht zu nehmen sei.(Stürmischer Widerspruch rechts; Koch ruft: Die Bürgerlichen waren nicht im Saal!) Dann hätte ja die Versammlung beschlußunfähig sein müssen! Rektor Troll(Dnat.): Man muß fragen: Ist denn so etwas In Berlin überhaupt möglich? Die„Arbeitsgemeinschaft", später« Jugendqruppe der Junglehrer des Bundes entschiedener Schul- reformer propagiert« die Nacktgymnastik, zuerst unter dem Lehrer- personal: später wurden auch Schulkinder zugezogen, deren Eltern damit einverstanden waren. Di» Schuldeputation verhielt sich zu- nächst passiv: Kimbel konnte wohl annehmen, daß die Schulverwal- tung mit diesen Uebunqen einverstanden war. In dem Programm der Jugendgrupp« ist Fortführung dieser Nocktübungen vorgesehen: weiter soll Vortrag gehalten werden über Geschlechtsorgane. Schwangerschaft usw.: es fehlt nur noch der Hinweis auf Demon- strationen.(Großer Lärm links: Stodwerordneter Schumacher (Komm.) ruft zweimal: Der Mann ist ein Schwein- i 9« l I und wird zweimal zur Ordnung gerufen.) Diese Uebungen in die Schulen zu verlegen und von Schulkindern vornehmen zu lassen, ist einer der übelsten pädagogischen Mißgriffe. Von rhythmisch- gymnastischen Uebungen weiß der Lehrplan nichts::: wohl aber findet sich in einem Buche des Herrn Paulsen ein Pasius über Körper-
kultur, der den Boden für dies« Auswüchse abgegeben hat. Ver- ontwortlich ist die Schulveiwaltung. Mit einem gelehrten historisch- philosophischen Exkurs kam der Redner zum Schluß und zur düsteren Prophezeiung: Frnis Gcrmaniael(Das Ende Deutschlands !) Stadtschulrat Paulsen, der hieraus das Wort nahm, tonnte zunächst gegenüber dem Lärm der Rechten kaum auskommen, als er die Berechtigung und die Vorzüge der rhythmischen Gymnastik besprach und ankündigt«, daß auch der Turnunterricht demnächst in dieser Richtung«in« Erweiterung erfahren werde. Der Lehrer Adolf Koch sei mit seinen engeren Freunden darin zu weit gegangen, daß er die Uebungen von den Teilnehmer nackt vornehmen ließ. Der zuständige Zkreisschulrat habe die betreffenden Kurse, da sie nicht an- gemeldet waren, sofort verboten; ein Grund zum Einschrei- ten der Schuloerwaltung habe aber absolut nicht vorgelegen. Am 22./23. Januar sei dem Provinzialschultolle- gium von dem Kreisschulrat Bericht erstattet worden, welches am 26. Januar Koch beurlaubte. Was die Berliner Schuloerwaltung in der Sache verfehlt habe, sei ihm unerfindlich.(Stürmische Rufe rechts: Waren Sie dabei?) Als Antwort verlas Paulsen seinen Bericht an dos Provinzialschulkollegium, indes der wüste Lärm rechts fortdauerte. In der Besprechung der Anfrage und des Antrages kam zu- nächst der Urheber des Krakeels, Herr Kimbel(Dnat.) zum Wort. Er zog gelindere Saiten auf als im Landtag. Seine langatmigen gegen den Stadtschulrat Paulsen gerichteten Ausführungen schloß er mit dem Appell, daß man nicht noch das letzt«, was wir noch haben, die Kinder,„verderben" solle. Genosi« Dr. Weyl rechnete mit Troll und Kimbel gründlich ab. woraus ein Teil der Deutschnaiionalen und anscheinend auch Mit- glieder des Zentrums durch Derlasien des Saales reagierten. Den Deutschnatianaleu hielt er vor, wie wenig sie Ursache zur Moralheuchelei hätten: er wies hin auf die Genüsse, denen sich in der„lond- wirtschaftlichen Woche" ihre Gesinnungsgenosien in Berlin hinzu- geben pflegten, er deutete auf das Treiben in den Seebädern, wo die Nacktkultur„wie sie sie auffasien", zu Haufe sei, er legte besoN- deren Nachdruck auf die Tatsache, daß gerade der konservative Landrat v. Stubenrauch gegen dieselbe heuchle- rische Prüderie die Freibäder in Wannse« ge- schaffen habe, und zeigte dann, daß solang« noch ein Boelitz Unterrichtsminister sei und solang« noch im Landtag und im Rat- hause eine bürgerlich« Mehrheit bestehe, die Möglichkeit wirklicher pädadogischer Reformen noch nicht gegeben sei— sei diese Möglichkeit erst da, so werde die Frage, ob Lendenschurz oder nicht, sehr an Bedeutung verlieren. Die Schuloerwaltung habe selbst die Aui- gäbe, Kurse für Körperkultur in den Schulen einzuführen, sie aber auch in die richttgen Bahnen zu leiten. Am Pranger stehe nicht die Schuloerwaltung, sondern diejenigen, die vom Standpunkt sexueller Lüsternheit an die Beurteilung der Sache herantreten.— Specht (D. Dp.) warf Paulsen vor, daß er viel zu viel Dersiichsschulen ins Leben ruf«, daß er bei der Auswahl der Lehrkörper die Junglehrer zu sehr bevorzuge und es an der hinreichenden Schulau ssicht fehlen laste. Etadtschulrat Paulsen war erfreut, daß die Deutsche Volks- parte! jetzt prinzipiell die Dersiichsschulen zugestanden habe. Nicht er sei der Agitator für solche Versuchsschnlen. aber er sei dafür, den- jenigen, die sich für die Gründung solcher interessieren und dafür zu wirken, Raum zu geben. Am Mittwoch habe der Magistrat beschlosteu, in Att-Bersin zwei versuch»- schulen in» Leben zv rufen. Den Vorwurf gegen den Magisttat bezüglich des Dr. Suckow b«. zeichnete Paulsen als haltlos, und daß Verlin sich bereits einer Kölke» giolleitung der Gemeindeschulen erfreue, besttitt er.— Der Kommunist Se l l h e i m erblickt« in der Perhqndlting den Beweis, wie weit die bürgerliche Kapitalistenmoral"sch o n in den Morast geraten sei. Der ganze Vorstoß der Deulschnottg- nalen sei nichts als ödeste Wahlmache: die Fraktion lehnt den An- trag ab. Um �10 Uhr lehnte die Versammlung mit 93 gegen KS Stirn- men einen Schlußantrag ab. Richard Kunze erging sich in einem groben Ausfall gegen die Stadttättn Weyl, woram die Angegriffene sofort scharf replizierte. Gegen 10 Uhr ttot endlich der Schluß der Erörterung ein. Nach einem Schlußwort von Frau Kausler(Dnat.) protestiert« Lüdick«(Dnat.) gegen das Der- halten des Vorstehers, der den Ausdruck. Moralheuchelei" nicht ge- rügt habe. Vorsteher Haß erklärte, nach Einsicht des Stenogramm? Anlaß zu einer Rüg« nicht gehabt zu haben. Die Rechte verließ hierauf zum Protest den Saal, und kurzerhand schloß der Vorsteher nach 10 Uhr die Sitzung, da die Beschlußfähigkeit nicht mehr fest» stand.
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Der Dürger.
von Lconharö Krank. Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt darüber nach, wo er eine breitere Basis für seinen spekulativen Geist finden könnte. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem mächtigen Backsteinbau zurück: dem Zirkus, der den ganzen Winter über in der Stadt blieb und während der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen hatte. Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen einigen Budenbesitzaim und dem Zirkusunternehmcr bestanden, und schlug diesem vor, Familienbilletts zu ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die Jahresmesse in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der Zirkusplakate ein von einem guten Künstler zu entwerfendes modernes Plakat kleben lassen. Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts wissen. Die Billettidee hatte er selbst gehabt und war schon dabei, sie auszuführen. Aber es gelang Seidel, einige für feine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit Zirkuskünstlern zu machen. Bald darauf behauptete Wolf Sinsheimer, er habe Leo Seidel, im Pelz, den Zylinder aus dem Kopfe, im Vorräume des Berliner Wintergartens gcseben. in Gesellschaft von eleganten Damen und Larietökünstlern. Und so konnten einige Jahre später seine früheren Kol» legen vom Stadtmagistrat und die Schulkameraden, von denen die meisten zu dieser Zeit schon jung verheiratete Männer waren, nicht allzu sehr darüber verwundert sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht lange Impresario geblieben war, als kaufmännischer Direktor des riesigen Wanderzirkus in die �Heimatstadt zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im eigenen Wagen fuhr. Zu jener Zeit war Herr Hvhmeier eben bis zum breiteren Löschblattbügel vorgerückt und wollte sich verheiraten. Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und hatte nur eine Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt. Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen» und dann im Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem Er» folge tätig gewesen und deshalb noch einmal in das ihm ver-
traute Fach zurückgekehrt war, an der Börse sehr gewinnrcich mit Baumwolle spekuliert. Er war seit Jahren Abonnent volkswirtschaftlicher, dank- und börsentechnischer Zeitschriften. Er studierte die Preisschwankungen des Marktes nicht wie der Großindustrielle oder Börsianer, die. das Risiko zu vermindern, sich mit ihren Abschlüssen von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten orientieren: er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden Kurven der Export- und Jmportziffern aller Länder, verfolgte genau die hieraus sich ergebenden inner- und außenpolitischen Spannungen, täuschte sich selten über den Zeitpunkt hereinbrechender Wirtschafts- krisen—«ine Fähigkeit, die ihn nicht nur vor Berlusten ge- schützt, sondern ihm seine bisher größten Gewinne eingebrachr hatte— und wartete, in jeder Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die Situation, die es ihm gestatten würde, unter mög- lichster Ausschaltung des Risikos die Hand auf das ganz große Geschäft zu legen. Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu haben, die Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen. 3. „Sie sind fa in der Brodstraße.' Der Portter setzte sich wieder auf das Dänkchen. „Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?" „Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt eins. Kommt von einem Geschäftsgang zurück, liest die einge- laufene Post, da trifft ihn der Schlag... Auch ein Unglück für die Familie!' Jürgen überwand feine Scheu, ein Haus zu betreten, in dem ein Toter lag, stieg die Treppe binauf, vorbei an dein farbigen Trcppenhausfenstsr, auf dem Wilhelm Tell im Aus- ,all stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen von den blonden Locken. Im Vorzimmer kämpfte Gulaschdust mit Medizingeruch. „Herr Adolf kommt gleich." sagte das Dienstmädchen und drehte eine schwach und rot brennende Birne an im Salon. Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar schwer, füllten ihn. Zahllose Nippesgegenttände posierlen, miauten, sangen, tanzten Menuett auf allen erdenklicher Plätzchen und Kanten. Jürgen wand sich bis zu einem Stichle durch, deffen hohe Lehne, gebildet durch zwei vielfach ge» fchwungene, schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer Wasser» rose abschloß, in der ein Frosch saß. das Krönchen ans dem Kopfe.
Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände, begann schließlich zu zählen: vier meterhohe Petroleumlampen— Geschenke, die niemals gebrannt hatten—, eine große Anzahl nie benutzter Tee», Kaffee» und Likörservice, entdeckte nach» träglich noch zwei hohe, glänzende Gestelle, die er erst auch für Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte: Nach- bildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken Birnen. Aepfel, Trauben, aus farbigem Tuche, lagen. An der Wand hing, zwischen dem Dackel, der, das weiße Zipfeltuch um de» Kopf, an Zahnweh leidet, und dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt, ein kleiner Elefant, der den Rüssel hin lind her schleuderte. Das Ziffernblatt auf seiner Stirn stellte Afrika dar. Unvermittelt schlug der Gedanke ein. daß vielleicht im Zimmer nebenan der Tote liege. Um sich abzulenken, nahm Jürgen den Bronzelöwen in die Hand. der. schleichend zu- sammengekauert, Tatzen auf dem Rande, die Zunge dürstend in die Aschenschale steckte. Stand auf, sah umher, drehte am Schalter. Mit dem Berlöschen der Birne schwankten olle Möbel, wie betrunken, au� Jürgen zu und versanken in de? Finsternis. Er fand den Schalter nicht wieder. Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im Salon liegen, schneeweiß aufgebahrt und mit genau derselben Kopf- Haltung wie die seines Baters. Schnell drehte er sich einige Male um sich selbst, bemüht, die Leiche des Vaters nicl.l! im Rücken zu haben, und streckte die Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker aus. Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen Jürgens Kops: Adolf hatte eintreten wollen.„Na, sag mal. sitzt du im Dunkeln!... Lina! Donnerwetter, Lina!" Sie kam ge- sprungen. Jürgen wollte aufklären. „Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn nicht der ganze Lüster angeknipst, wenn Besuch da ist!... Bringen Sie Tokaier." Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig schritt er auch noch in die anderen drei Ecken: Immer mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und am gewaltigen Lüster. Die tanstiid Gegenständ« standen tot im weißen Lichte.„So, nun mache dir's bequem." Jürgen setzte sich wieder auf den hochlchnigen Schwanen» stuhl und sprach, das Tokaierglas proftend erhoben, verlegen sein Beileid aus über den entsetzlichen Unglücksfall, der Adolf betroffen Hab«. (Fortsetzung folgt.)