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Nr. 165 41. Jahrgang

1. Heilage öes vorwärts

Sonntag, 6. �lprtt 1424

Rückblick unö /lbrechnung.

Dcr nachstehend« Beitraa stammt aus der F«d«r«in«r F r a u. die«s einmal versucht hat, das sehr alltägliche und doch so wichtig« Diema:Wo uns der Schuh drllckt!", das wir wieder- holt behandelt haben, auf feine Grundlagen und tieferen Ausammen. l�inge zuriillzusllhren. Die Zeit furchtbarster Not scheint für die Masse des Volkes vor. bei; wenn auch große Schichten immer noch sehr zu leiden haben; es ist jetzt an der Zeit nochmals zu fragen, was war der Haupt- grund zu allem Elend, das wir erlebten? Welche iPlag« aller Plagen, die unser Mark aussogen und uns elend machten, war eigentlich die unbarmherzigste? War es Wohnungsnot? Das Heer der neuen und alten Krankheitsformen: Gripp « und Hungertyphus. Die gesteigerte Tuberkulose? War es der Hunger? Das Frieren mit leerem Magen? War es Arbeitslosigkeit oder die Notwendigkeit des Personalabbaues? War es die unsagbar« Not der geistigen Arbeiter? War es der Mangel, den kinderreiche Ar- beiter litten? Unzählige Antworten folgen aus diesen Fragen; aber eigentlich ist nur eins zu erwidern: Schlimmer als die Not selbst, die unbarmherzig ihre Geißel schwang, war der Geist der In- t o l e r a n z, der dem Einzelnen unmöglich machte, sich ihren Folgen zu entziehen. Mut unö Verzweiflung. Wenn ein Mensch verarmt, in Not gerät, so kann er sich sagen: Es wird wieder einmal besser werden, jetzt strenge ich meinen Fleiß doppelt an. tue alles, was mir Arbeit und Brot bringt." Es gab Auslandsdeutsche, die ihrer zweiten Heimat beraubt, verarmt. ihres Reichtums verlustig doch trotz großer Stellungsnot sich und ihre Kinder ernährten: Sie grissen zu! Heute noch sehe ich den prächtigen, breitschultrigen Mann, der alles wagt«. Er wusch Gläser in Kantinen: versuchte alles, was menschenmöglich. Er kannte kein« Scheu vor irgendeiner Arbeit. Wie viele, unzählig viele Frauen haben sich tapser gehalten: sie lzaben gesagt:Wenn mein Mann auch gefallen, meine Kinder bring« ich durch!" Da steht man tagsüber im kleinen Geschäft oder geht als Reinmachefrau und nachrs näht man womöglich und macht zwischendurch noch alle Arbeit im Hause und für die Kinder. Nein, kein wirklich Tapferer fürchtet die Not, denn sie ist immer so unerträglich, daß sich ein Ausweg finden läßt durch besonderen Fleiß, durch besondere Arbeit, sie zu überwinden, aber was hat diesen Fleiß, diesen Geist des Mutes bei uns bis zur Verzweiflung ge- t r i« be n und zur Ueberbürdung des Notstandes, die dumpfe Trauer gefügt, nicht einmal ein« Minute der Ruhe zu haben? Der egozentrische Geist, der unser« Beamten und Aemter be- herrscht. Dieser ausgeprägte Ordnungssinn, dem es wichttger ist, daß eine Eintragung binnen drei Togen geschieht, als daß das eigen« Vol' leine bis aufs äußerste angespannten Kräfte schont. Und da es nicht nur ein Amt, sondern viele gab. hatte jede Frau zwischen der Sorge ums täglich« Brot noch die Lost, stundeu- lang ihre Zeit uud ihre Kraft im Stehen bei der Steuer, den Brotkommissicnen. den Wohnungsämtern, der Polizei und den Srankenkasseu zu verbrauchen. Und diese Bestimmungen treffen ja nie die Frauen, die so glücklich sind, sich Angestellte haltui zu können, gerade diejenncn. die die soziale Gesinnung und das En.gegen- kommen de- sozialen Einrichtung am meisten oeduti: halten, ge- «osien keine Rücksicht. Und wieviel hat von dieser Frauenkraft mehr als aller Hunger, alles Frieren die letzten Kräfte nceruöt. das oft stundenlauge Stehen bei Brotkommissionen, sobald ein Fehler statt aus größzügigem Wege mit möglichste? Engherzigkeit «handelt wurde? Oder wenn die Notwendigkeit. Raum oder Per- sanol zu sparen, die Polizei- und anderen Aemter immer wieder um halbe Stunden weiter vom Wohnort des einzelnen rückten? End- los sind die Klagen der Frauen in diesem Punkt, erschreckend stand oft diese stumm« Qual in allzublassen Gesichtern; aber wer nahm Rücksicht? Frühere Zeiten erlaubten den Hungernden wenigstens ungestört in ihren kalten Betten zu liegen, an einer Brotrinde kauend, und es kam doch der Frühling! Bei uns starben mehr «» Aufregung und verbrauchten Kräften als an Hunger und Frost! Der Heist der Nückstchtslostgkeit. Aber«s will niemand glauben. Denn nicht allein die Aemter und ihre absolut unsoziale Einstellung trifft hier ein Borwurf: Es

Aillü fr ÜJiZ

war auch der Geist der Rücksichtslosigkeit, der Geschäfte und Großbetriebe beherrschte. In den Lebensmittelgeschäften wurde weder aus Alte noch Schwache Rücksicht genommen zu einer Zeit, da Hochkonjunktur für diese Geschäfte herrscht«, als noch jede War« ihnen abgenommen wurde, als noch der deutsche Bauer dem deutscheu Städler die minderwertigsten Waren bieten konnte, nur weil keine Weltmorktkonkurrenz lhn daran hinderte, und man den Städtern vorsetzte, was sonst die Schweine futterten. Wie rücksichtlos benahmen sich manche Abteilungen der Gas- oder Elek- trizitätswerke, und dies nicht nur durch eigene Not erschreckt. Wie oft hätte dem Publikum, denstehenden" Hausfrauen eine Last erleichtert werden können, wenn in unerwarteten Verhält- nisten das Unerwartete sich ereignet haben würde, daß ein leerstehender Schalter von Beamlen Straß« A B bedient sich helfend dem Beamten Schalter C G angenommen hätte? Die Gasabnehmer und gleichzeitig rcchnungausstellenden Privatbeamten der Werke kamen in die Häuser, wann es ihnen paßte: die Haus- frau ahnt« also nicht, ob sie eine beiläufige Summe für Dienstag oder Freitag freihalten mußt«. Kam der Beamte der Werke plötz- lich einmal am Freitag nachmittag oder späten Mittag, so tonnte es sein, daß sie das entwertete Geld ausgegeben hatte und erst Sonnabend zur Bank konnte. Da man als Hausfrau aber noch etwas nebenbei zu tun hotte, konnte es vorkommen, daß mit dem langen Warten auf den Banken, die damals auch nicht genügend Geld hatten, man erst um 1 Uhr im Besitz des Geldes war, um 1 Uhr schließen jedoch die Kassen der Anstalten oder Elektrizitöts- werke. Montag war jedoch der vierte Tag, und obschon der Dollar noch gar nicht gestiegen sein mochte, war ein um das Biel- fache höherer Gas- oder Elektrizftätspreis sofort die drohende Folge. So kam zu aller natürlichen Aufregung noch die über Rücksichts-

losigteften. Bekannt, obschon nicht das letzt« Wort darüber gesprochen wurde, zum Himmel schreiend, aber aus tausend Gründen vor kein ösfenlliches Gericht gezerrt, ist das. was sich die zaristischen Wohnung»- ämter leisteten. Es kann in Berlin Hunderttausende geben, die ein gütiges Geschick von Elend bewahrt hat, die trotz aller Schrecken, durch Fleiß und Mut es dazu brachten, zu verdienen, den Sprüngen der Mark i nachzukommen, aber es wird in Berlin wohl kaum hundert, nein, nicht fünfzig Menschen geben, die durch die Uebergriffe Rücksichtslosigkeit m oder natürlichen Folgen über- eilter Maßnahmen einzelner Wohnungsämter verschont geblieben wären. Die Beweise liegen still und harren ihrer Sammlung, es sind darunter Dinge, die zum Himmel schreien, und doch nur, weil in den Händen einzelner eine Macht gelegt ist, die weit über mensch'iches Verstehen ging. Das Gesetz in den Händen von Einseitigen. » Wo uns der Schuh drückt? Klagelied ohne Ende. Weil Männer nur mit Logik an alle diese Fragen gehen und in Wirt- lichteit der Ton des Feldwebels und seine zaristische Macht uns be­herrscht. Mit der Wohnungsnot, dem Hunger, dem Frieren, der Arbeitslosigkeit, den Krankheiten wäre der Mensch irgendwie fertig geworden, mit der Rücksichtslosigkeit derer, die ihm nicht er- laubten, ungestört zu hungern, ungestört zu sterben, noch ungestört zu arbeiten und zu kämpfen sind alle Notleidenden nicht fertig geworden. Wenn wir das einsehen, dann wird es erst wirklich bester bei uns werden. Wenn nicht mehr tausend Aemter und tausend Bestimmungen uns beglücken und treiben von Pflicht zu Pstichten, sondern die ausübende Gesinnung sich wirklichsozial" zeigt.

tN<i»druck durch Malik-Btrlag, Berlin .)

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Der Surger. von Leonharö Krank.

Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden. Eine Weile blieb er vollkommen reglos im Rahmen stehen und starrte wild auf den gegenüberstehenden Jüngling. Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang Iür- gen, wieder aus dem Rahmen herauszutreten. Ueberwältigt von der Unerbittlichkeit des Iünglingsblickes, brach er vor deni Bilde in die Knie.3n dir lebt das ewig unverrückbare Ziel." Die Kerze in der einen, die Photographie in der anderen Hand, stieg er hinauf in das Zimmerchen, das er als Illng- ling bewohnt hatte, lehnte das Bild an die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte und fortgehen wollte, stieg aus den feit Iahren verschütteten Gefühlen ein Strom von Hilfsbereitschaft auf.Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein Lebenlang stehen." Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte ab, nach vorne, daß es einen rechten Winkel bildete, dann bei den Knien nach rückwärts und fetzte die Photographie auf das Kanapee. Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im Schlafzimmer an. Und hatte, wie er stöhnend und wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das von Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich getrennt zu sein ron sich, von seiner Jugend, die im modrigen Studentenzimmer auf dem Kanapee saß. Andern Tages wollte er auf der Straße schon den Hut ziehen vor Herrn Fabrikbesitzer Hommes, der grußlos vor- überschritt. Jürgen blieb stehen. Hand auf dem tobenden Herzen.Sieht er sieht man mich nicht? Bin ich unsicht- bar?... Ich bin doch aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn, Hände." Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen, preßte das Gelenk. Da öffnete sich fein Mund in grenzenlosem Entsetzen: die umfassende Hand war zur Faust geworde»: kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur Faust. Nicht mehr vorhanden?" fraat« er, hob die Augen brauen.Ueberhaupt nicht mehr? Er pfiff bedeutsam. Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht mehr da. Ist

einfach weg? Ist Luft? Und das nicht einmal? Ein glattes Nichts?" Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die Spitze hin- ein in seinen Schenkel, wollte vor Freude über den Schmerz schon einen Triumphschrei ausstoßen. Und fühlte nichts. Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der Wunde herum, fühlte nichts. Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter Kör- per nach Haufe und legte sich auf das Kanapee. Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in die Küche und Phinchen sieht mich nicht?" Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der Bank- diener im Zimmer. Der Herr Prokurist lasse fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht ins Bureau komme. Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn fragen? Wissen Sie denn, wo Herr Kolbenreiher sich momentan auf- hält?" Und da der Diener den Mund aussperrte:Ich bin nicht vorhanden, nicht anwesend, ich bin nicht da, kann also auch nicht in die Bank kommen." Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher feien verreist." Ah!" rief Jürgen, als der Diener fort war.Vielleicht bin ich nur verreist. Einfach verreist! Nach Italien ! Paris ! So wirds sein." Jürgens Gesicht wurde flach: die Augen sprangen vor. Er stürzte in die Küche. Hilf mir. Phinchen. rote mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die Welt ist groß. Was soll ich tun, ihn zu finden... Rufe schnell den Diener zurück." Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder in das Zimmer führte:Besorgen Sie mir einen Reisepaß. Aber auf den Namen Jürgen Kolbenreiherl" Er zwinkerte schlau.Wenn Sie sich geschickt anstellen, merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst es bin." Das ist gar nicht schwer," sagte der Diener und ging. Phinchen weinte. Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen, sein Vermögen zu verlieren, aber sich selbst zu verlieren er- trägt kein Mensch." Das ertragen die andern großartig: aber, zum Beispiel, das Vermögen zu verlieren, ertragen sie nicht. Und aus diesem einfachen und unheimlichen Grunde ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die sind nicht vorhanden und haben davon nicht die leiseste Ahnung." Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an die

Schläfen, noch einmal zu kontrollieren, ob sein Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen. Kein Kopf war da- zwischen. Jürgen stieß einen kurzen Schrei aus. Und lag leichenstill bis in die Nacht hinein. Der Reisepaß war schon gebracht worden. Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich nichts. Der volle Mond hing am Himmel. Jürgen schlich ins Arbeits- zimmer, einige Minuten später durch den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den Türpfosten, an den er die Tafel Hier wird Armen gegeben" angebracht hatte, und las: Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzu- geben vermag, erhält jede gewünschte Summe. Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit, Bewußtsein und Hin- gäbe gekauft." Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte seinen Reisekoffer, wusch sich, kleidete sich um. Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer, vor den mannshohen Ankleidespiegel. Die Hand am Schalter, wartete er erst einige Sekunden, bevor er das Licht andrehte. Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie vor Freude, hob dabei den linken Arm. Das Spiegelbild hob den Arm nicht. Jetzt erst bemerkte er. daß im Spiegel der Jürgen stand, der, in knapp sitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in Schultern, Brust und Blick, die Blicke aller im Saale An« wesenden auf sich zog: der Jürgen, den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu erstrebendes Ziel in den grünen Bretter- zäun hineingesehen hatte. Jürgen hob die Augenbrauen, vfiff, tanzt«, schnftt Gri - massen, ballte die Fäuste. Das Frackherrspiegelbild rührte sich nicht. Das Entsetzen war ungeheuer. Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige Sekunden, drehte an, stierte in den Spiegel. Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den Knopf. Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet hatte, trat sofort ein, wurde vor den Spiegel gezerrt. Ob sie ihn sehe? Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im Spiegel stehe. Sein wütendes Fragen und ihr jammervolles Deuten dauerten so lange, bis Jürgen, durckblitzt von einem letzten Rettungsgedanken, langsam' sagte:Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins Bett lege, dann muß ich doch fühlen, daß ich bin. Denn dies, es ist das starte Gefühl." (Fortsetzung folgt.)