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Abendausgabe

Nr. 239 41.Jahrgang Ausgabe B Nr. 121

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Vorwärts

Berliner Volksblatt

5 Goldpfennig

50 Milliarden

Donnerstag

22. Mai 1924

Berlag und Anzeigenabteilung Geschäftszeit 9-5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag Gmbh. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 2506-2507

Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutfchlands

Herriot, Macdonald und-?

Die Erklärungen, die der Führer der französischen Linken, Herr Herriot, gestern nach seiner Unterredung mit dem Präsidenten Millerand unserem in Paris weilenden Redat tionskollegen gab, sind ein Dokument von geschichtlicher Be­deutung. Herriot , der Bürgermeister von Lyon und tommende Ministerpräsident Frankreichs , ist in Deutschland fein Unbe­fannter. Lange vor dem Krieg zog feine fozialpolitische Tätigkeit als Verwalter einer großen Stadtgemeinde die Augen Europas auf sich und gewann ihm, dem Bürgerlichen, auch im Lager der Sozialisten Sympathien. Aber Herriot war fein unpolitischer Oberbürgermeister" von der Art, mit der wir in Deutschland überreich gesegnet sind, sondern er ver­lor den Zusammenhang seiner stadtbürgerlichen Aufgaben mit den großen Problemen der Menschheit niemals aus dem Auge.

Etwa im Jahr 1912 begann die deutsche Sozialdemokratie unter der Initiative Ludwig Frants eine besonders aftive Außenpolitik zu treiben, die sich nicht mehr mit bloßen Pro­testen begnügen wollte, sondern die darauf ausging, pofitive Wirkungen zu erzielen. Eine Berbesserung der Beziehungen zu England war von Bethmann angebahnt, aber sie tonnte feine wirksame Friedensgarantie bieten, wenn es nicht gelang, das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich auf eine andere Grundlage zu stellen. Die französische Republik hatte sich in die Arme des zaristischen Rußlands geworfen, während das Deutsche Kaiserreich, auf Bündnisse mit Oesterreich und Italien geftüßt, den Weg nach Bagdad verfolgte. Der dazwischen liegende Balfan glich einem Pulverfaß. Die Dinge entwickelten sich unvermeidlich zur Ratastrophe, wenn nicht Frantreich und Deutsch land einen gemeinsamen Boden fanden, von dem aus fie den europäischen Frieden verteidigen tonnten und wollten.

Aus solchen Gedangengängen entstanden die Berner Konferenzen, deren 3wed es war, durch Zusammen­fünfte zwischen französischen und deutschen Parlamentariern die Verständigung zwischen den beiden Bölfern vorzubereiten. Sollte diese Aktion wirksam werden, so genügte es nicht, die Sozialisten beider Länder zusammenzubringen, was natürlich sehr leicht war, sondern es mußte versucht werden, auch die bürgerlichen Bolitiker von hüben und drüben miteinander in Verbindung zu bringen. Dies gelang auch, und daß es gelang, war zum großen Teil Herriots

Verdienst.

Diesen segensreichen Bestrebungen donnerte die Welt gefchichte im Sommer des Unglücks 1914 ihr 3u spät!" ent­gegen. Die Ratastrophe des Weltfriegs begrub die aussichtsreichen Ansäge einer deutsch - franzöfifchen Verständi­gung unter ihren Trümmern. Herriot, der an die Alleinschuld Deutschlands glaubte und vielleicht noch glaubt, erlitt die furcht barste Enttäuschung feines Lebens, er wandte sich erbittert von Deutschland ab und fah seine Aufgabe nur noch in der Ver­teidigung seines Vaterlandes.

Jetzt hat Herriot als der kommende Mann Frankreichs einen Vertreter des deutschen sozialdemokratischen Bentral organs fein außenpolitisches Programm ent. mickelt, und man erfährt daraus, daß er der Mann der deutsch französischen Berständigung wieder geworden ist, dem vor zehn Jahren aus Deutschland eine Welle der Snmpathie entgegenschlug.

Wir wissen wohl, daß in Deutschland die Meinungen über die Möglichkeiten einer deutsch - französischen Versöhnung geteilt sind. Aber das wenigstens follte jeder deutsche Polititer begreifen, daß einem Frankreich , das Deutschland die Hand zur Versöhnung entgegenstreckt, die begeisterte 3u stimmung der ganzen Welt sicher ist. Herriots Er­Plärung wird mit einem Schlag die moralische Isolierung be seitigen, in die Frankreich durch die Politik Poincarés geraten ist, und es wird sich in diesem Fall abermals erweisen, daß eine gut internationale Politik die beste nationale Politik der Welt ist.

Ob es Herriot gelingen wird, troh aller fanatischen Widerstände auf beiden Seiten die Brücke über den Rhein zu schlagen, muß dahingestellt bleiben. Aber flar ist eins: mit seiner Erklärung schlägt er eine Brücke über den Kanal.

Macdonald und Herriot , das ist ein ganz anderes Zweigespann als Macdonald und Poincaré . Es ist ein Er­folg der englischen Arbeiterpartei, daß in Frankreich bei den Wahlen der große Umschwung eintrat, fie war es, die die große Initiative zum europäischen Frieden ergriff, und Frankreich war flug genug, ihr zu folgen. Frankreich war flug genug, einzusehen, daß auch die stärkste Militärmacht der Welt sich den Lurus der moralischen Isolierung auf die Dauer nicht leisten fann.

Aber Macdonald und Herriot, die englische Arbeiterpartei und die französische Linke können allein den europäischen Frieden nicht herstellen. Es fehlt ein Dritter im Spiel: Deutschland . Und so wendet sich die Aufmerksamkeit der

Der Fall Tirpit.

Welt der Frage zu, wem das tüchtige, aber wegen seiner poli tischen Klugheit nicht allzu berühmte deutsche Volk diesen beiden Staatsmänner als Mit- oder Gegenspieler gegenüber­stellen wird.

Die Deutschnationalen, die vor einigen Wochen durch den Mund ihres Führers Hergt das große Wunder" einer deutschen Rechtsregierung verkündeten, haben jeht ihre Antwort auf jene Frage gegeben. Sie wollen der englischen Arbeiterpartei und der französischen Linken den Bürgerblod, den Ministerpräsidenten Macdonald und Herriot einen Reichs tanzler Tirpik gegenüberstellen.

Der 75jährige taiserliche Admiral, der jetzt als deutsch­nationaler Abgeordneter in den Reichstag einzieht, gehört sicher nicht zu den Dümmsten, die auf der Rechten fizen wer­den. Um so mehr muß man staunen, daß er nicht selbst poli­tisches Urteil genug besessen hat, um vor dem parlamentari­schen Kulissenspiel, das mit ihm getrieben worden ist, eindring­lich zu warnen. Macdonald, Herriot Tirpitz! Drüben die neuen Männer und die neue Zeit, hüben der alte Mann und die alte Beit! Drüben die Demokraten, hüben der kaiserliche Admiral! Drüben die Männer des Weltfriedens, hüben der Mann des uferlosen Flottenbaus und der schonungslosen Tor. pedierung im Ubootfrieg!

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Demokraten und der Bayerischen Boltspartei versammeln sich am Montag. Die Frattionen der Kommunisten und der Wirtschafts­partei erst am Dienstag.

Man nimmt in parlamentarischen Kreisen der Mitte an, daß im gegenwärtigen Augenblid feine Regierungsbildung er­folgen wird, sondern daß das Rabinett Marg vor den neuen Reichstag treten, dort sein Programm entwickeln und das Reichs. tags plenum dann entscheiden lassen wird Das rheinische Zentrum für die bisherige Außenpolitik.

Köln , 22. Mai. ( Mtb.) Gestern fanb hier eine Konferenz der Bertreter der rheinischen Zentrumspartei und der Vertreter der Zen­trumspresse statt. Am Schluß der Konferenz wurde folgende Willens. fundgebung an den Reichskanzler gerichtet:

,, Die außerordentliche Parteikonferenz des rheinischen Zentrums, von Vertrauensleuten und Vertretern der Zentrumspresse sehr zahl­reich besucht, gibt ber Beforgnis Ausdruck, daß ber Regierungsfurs der letzten Monate gefährdet ift. Die Wählerschaft des rheinischen Sentrums erwartet, daß die Sentrumsfrattion die Stügungsattion, die Politik der Mitte und besonders bie bisherige Außen. politit beibehält und für seine Politik eine Mehrheit sucht. Das befeßte Gebiet fieht in diefer Politik die einzige Möglich teit zur Rückkehr der Gefangenen und Ausgewiesenen, zur Wieder. herstellung seiner wirtschaftlichen und politischen Freiheit, zur Wah­rung der Einheit des Reichs und zur Erhaltung unserer Währung. Die rheinische Bevölkerung erwartet von allen Barbeien, daß sie bei ihren Entschließungen eingedent bleiben der großen Berantwortung für das Schicksal von Reich, Volt und besetztes Gebiet. Die rheinische Bevölkerung muß auf Grund ihrer Opfer verlangen, daß ihre Stimme gehört wird."

Nach dem Scheitern der Verhandlungen.

Die Preffe zum Fall Tirpit.

Dummheit ist ein Geschent Gottes, aber man darf von ihr teinen übermäßigen Gebrauch machen. Vielleicht wird eine spätere Zeit darüber staunen, daß Deutschland an dem Maß des politischen Unverstandes, das es an den Tag legte, nicht noch mehr zugrundegegangen ist, als dies bis dahin leider der Fall war. Aber ichließlich gibt es doch Grenzen! Man fucht in dem Vorgehen der Deutschnationalen einen Grund, um es zu verstehen. Man tann ihn nur darin fin den, daß die siegreiche" Partei aus den Verlegenheiten, die fie fich felber bereitete, einen Ausweg fuchte, und daß sie be­Nachdem die Deutschnationalen sich von den Berhandlungen wußt ben unmöglichsten Ranglerfandidaten aurüdgezogen haben, hält die Breffe der Mittelparteien nicht mehr präsentierte, um sich mit dem Anstand, den sie hat, aus der zurüd. Sie bestätigt die Darstellung über den Gang der Berhand­Affäre zu ziehen, Trifft aber diese Erklärung nicht zu, fon- lungen, die wir bereits gegeben haben. Die ganze Kläglichkeit des dern war es die Absicht der Deutschnationalen, nicht die Mittel- Berhaltens der Deutschnationalen geht daraus hervor. Das Ber parteien durch einen unmöglichen Vorschlag, sondern die ganze tiner Tageblatt ftellt feft, daß an der Darstellung der Deut­Belt mit einer unmöglichen Reichskanzlerschaft des Herrn schen Tageszeitung von gestern fein Wort wahr sei, und berichtet: v. Tirpik zu badpfeifen, dann muß man schon sagen: Borio. viel außenpolitischem Verstand allerhand Achtung! fich, das Fragezeichen frümmt sich. Der Zwischenfall Tirpiz ist wohl oder nicht?- endgültig erledigt. Und was tommt mun?

Herriot , Macdonald und-? Der Gedankenstrich dehnt

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Die Deutschnationalen und Frankreich . Verständigungsfühler in Paris .

Genosse Brettscheid, der augenblicklich in Paris weilt, ver­öffentlicht in der Glode" einen Artikel über Das andere Frank­ reich ". In diesem Artikel stellt er fest:

Dabei ist es interessant und belustigend zugleich, daß die De ut ich nationalen hier Fühler ausftreden. Es gibt hier jemanden, der, offenbar im offiziöfen Auftrag biefer Bartei, verfichert, man fei zu einer Berständigung mit Frankreich bereit. Soviel ich höre, begegnet man diesem Abgesandten nicht gerade mit Vertrauen, und man hat thn insbesondere wiffen lassen, daß man einer nationalistisch durch fetzten Regierung besonders in der Frage der Militärfontrolle sehr viel schärfer noch auf die Finger fehen werde, als irgendeiner andern."

Die große Unehrlichkeit der patentnotionalen Bolitik der Deutschnationalen enthüllt sich immer mehr. Um num an die macht gelangen zu können und sich dort behaupten zu können, unter. nehmen fie unbedenklich Schritte, die sie anderen Parteien afs Verrat und Würdelosigkeit vorwerfen würden.

Besprechungen der Mittelparteien.

Um ein sachliches Programm.

Im Reichstag war in den Vormittagsstunden eine neue Zu. sammenkunft der Parteiführer noch nicht wieder ver. einbart worben. Zunächst werden die Parteivorstände der einzelnen Mittelparteien unter sich das weitere Borgehen beraten. Aus Kreisen der Mittelparteien wurde die Mei. nung ausgesprochen, daß die Verhandlungen mit den Deutschnatio­nalen schon um deswillen scheitern mußten, weil man nicht über den Kopf des Reichspräsidenten hinweg an die Lösung der Beisenenfrage herantreten dürfe, zumal wenn nicht ein bestimmtes Programm vor.. läge. Aufgabe der Mittelparteien werde es jetzt sein, über ein fachliches Programm ins Reine zu tommen. Bis diese Frage gelöft sein wird, könne auch das jezige Kabinett nicht daran denten, seinen Rücktritt zu erklären.

Um 12 Uhr trat der Borstand der Zentrumspartei zusammen.

Für heute nachmittag ist nur die Zentrumsfrattion cinberufen worden. Doch hält Reichskanzler Mary Besprechungen mit den anderen Führern der Mittelparteien ab. Am Sonn a bend tritt die Nationalsozialistische Freiheitspartei zusammen. Die Frattionen der Deutschen Volkspartei , der Sozialdemokraten, ber

Während die Mittelparteien bereit waren, mit den Deutsch nationalen über die fachlichen Grundlagen der fünftigen Politik zu verhandeln, erklärten die Deutschnationalen, es habe feinen Zwed, daß die Parteien in eine fachliche Besprechung ein­träten. Sie stellten vielmehr den Antrag, eine gemeinsame Ent­schließung dahin zu fassen, daß als voraussichtlicher Reichstanzler der Großadmiral v. Tirpik in Be tracht tomme. Man solle dann Tirpig auffordern, die Richtlinien feiner fünftigen Politik vor den Parteien zu entwideln. Es sei amedmäßiger, mit ihm zu verhandeln, als fachliche Verhandlungen under den Parteien zu betreiben. Dieser Antrag der Deutsch­nationalen wurde von den Mittelparteien abgelehnt. Von einer Seite wurden persönliche Bedenten gegen den vorgeschlagenen Kanglerkandidaten geltend gemacht. Bon anderer Seite wurde mit allem Nachbruc darauf hingewiesen, daß die vor geschlagene Verfahrensart völlig unmöglich und un. fragbar fei. Man greife damit der Entscheidung des Reichspräsidenten vor, dem verfassungsgemäß allein die Ernennung des Ranglers obliegt. Man begehe auch einen Treu. bruch gegen den derzeitigen Rangler Dr. Marg, der das volle Bertrauen der Mittelparteien habe, wenn man sich hinter seinem Rücken über einen anderen Kanzler einige. Die Deutschnationalen beharrten bei ihrem Antrag. Zu einer Berhandlung über die fachliche Plattform, die die Mittelparteien vorbereitet haben, tam es infolgedessen gar nicht. Bielmehr wurden die Besprechungen zunächst nach zmeistündiger Verhandlung abgebrochen und auf heute vormittag verbagt."

Das Berl. Tagebl." stellt fest, daß die Verhandlungen durch die Schuld der Deutschnationalen gescheitert seien.

"

Die Bossische Zeitung" fordert energisch eine Initia tive der Mittelparteien.

Mit dieser intransigenten Haltung der Deutschnationalen Boltspartei hatte man in gutunterrichteten parlamentarischen Kreisen eigentlich von vornherein gerechnet. Sie bildete gestern im Reichstage feine leberraschung. Damit ist die Initiative der Deutsch nationalen erschöpft. Das Wort vorläufig" wird man als mehr denn eine Redensart be. werten müssen, nachdem sich die deutschnationale Fraktion einmal auf einen anderen Standpunkt festgelegt haben wird. Es wird Sache der Mittelparteien sein, ihrerseits wieder die Initiative aufzunehmen, mit ihrem außenpolitischen Brogramm hervorzutreten und nun an die anderen Parteien die Einladung zu richten, auf Grund dieses Programms in Berhand­lungen über die Regierungsbildung einzutreten. Ein derartiger Schritt der Mittelparteien i ft wohl in fürzester Frist auch

zu erwarten.

Die Germania " beschränkt sich darauf, die in später Abend. stunde erschienene Mitteilung der Deutschnationalen unter der Ueber­schrift Fechtertün st e" abzudrucken. Sie grenzt sich jedoch in einem Leitartikel sehr scharf gegen den sogenannten Nationalismus der Rechten ab:

Wir ermessen die volle Bedeutung dieses Problems, wenn mir fagen, zwischen uns, dem Zentrum als der chriftlichen Bolts­