Nr. 314+ 41.Jahrgang
2. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 6. Juli 1924
Internationale Arbeitskonferenz
Der Kampf um den Achtstundentag.
( Von unserm Genfer Korrespondenten.) Genf , den 4. Jult.
Die sechste Internationale Arbeitskonferenz in Genf hat thren Abschluß gefunden. Sie hat seit dem 16. Juni getagt und eine ganze Reihe wichtiger sozialpolitischer Probleme in Angriff genommen. Es standen zur Debatte die Frage der Nachtarbeit in den Bädereien, die der Ar beitszeit in Glasbrennereien, die Verwen dung der Freizeit für die Arbeiter und die Be. fämpfung des Milzbrands und das Problem der Arbeitslosigkeit. In Kommissionen wurde das Material, das zu den einzelnen Fragen vorlag, beraten und das Ergebnis in einer Reihe von Entschließungen niedergelegt, die zum Teil grundlegende Aenderungen zugunsten der Arbeiter bedeuten. Daß dies bei der Zusammensetzung der Delegierten aus je einem Drittel Regierungsvertreter wie Arbeitgeber und Arbeitnehmervertreter nicht ohne Ausein andersetzungen abging, ist begreiflich. Trotzdem ist anzuerfennen, daß im großen und ganzen die Arbeit sachlich und mit gutem Willen auf beiden Seiten geleistet wurde. Nicht unbeteiligt ist daran die geschickte Geschäftsführung des Genossen Thomas, Direttor des Arbeitsamtes. Immerhin hinterließ die Genfer Tagung den Eindruck, daß das internationale Arbeitsamt heute eine der leider nur zu geringen internationalen Möglichkeiten ist, unbeengt durch nationale Sonderinteressen, sozialpolitische Probleme vor der großen Deffentlichkeit zu erörtern. Das Arbeitsamt ist in diesem Sinne das sozialpolitische Gewissen der zivilisierten Welt.
Das zeigte sich besonders deutlich in der Debatte über den Achtstundentag, die durch eine ge. meinsame Resolution der Fraktion der Ar beitervertreter auf der Konferenz zugunsten der Aufrechterhaltung des Achtstundentages für die deutschen Arbeiter eingeleitet wurde. Begründet wurde die Entschließung von dem Genossen Jouhaug, der auf die beunruhigende Tatsache hinwies, daß in einem Augenblid, wo die großen Industrieländer Europas das Washingtoner Abkommen über den Achtstundentag ratifizieren wollen, die deutsche Regierung durch eine besondere Ordonnanz eine Berlängerung der Arbeitszeit durchführt, die nicht mur eine schwere Beeinträchtigung der sozialen Rechte und Freiheiten der deutschen Arbeiter bedeutet, sondern weit barüber hinaus ein Grund zu internationaler Be. unruhigung ft. Tatsächlich birgt die Erklärung der deutschen Regierung, mit der Mehrarbeit einer größeren Barenerzeugung und der Reparationsleistung dienen zu wollen, bie Ankündigung eines neuen wilden Konkurrenz fampfes, eines Dumpings in sich, dem die Kapitalisten der anderen Länder nicht ruhig zusehen, sondern mit einer Her auffetzung der Arbeitszeit in ihren eigenen Ländern beantworten werden, unter dem Vorwande, der deutschen Kon furrenz sonst nicht begegnen zu fönnen. Außerdem aber ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, daß die deut schen Arbeiter die Reparationslast allein tragen werden, wenn nicht eine sofortige Klarstellung über die Frage ihrer Mehr arbeit herbeigeführt werde.
Es läßt sich nicht behaupten, daß die deutsche Regierung und die deutschen Unternehmer vor diesem internationalen Forum eine überzeugende Antwort gegeben haben. Wenn die Regierung durch den Führer der deutschen Delegation verlesen ließ, fie bebauere bei aller grundsätzlichen Anerkenmung des Achtstundentages gegenwärtig von einer verlänger ten Arbeitszelt nicht abgehen zu können und müsse fich freie Hand vorbehalten, fo bedeutet das in dürren Worten: Wir wollen nicht ratifizieren, und gibt den Böswilligen in den anderen Ländern willkommenen Anlaß, mun ihrerseits das gleiche zu tun. Und wenn Herr Bogel für die deutschen Industriellen jebe Anerkennung irgendwelcher Abmachungen der Arbeitskonferenz ablehnt, fo mag das wohl noch nach dem Herzen ber starten Männer des deutschen Industrie verbandes gewefen fein, aber die deutschen Interessen im Auslande find mit dieser unnötigen Herausforderung nur gefährdet worden. Allgemein war auf der Konferenz der Einbrud vorherrschend, daß hinter diesen beiden Erklärungen Auftraggeber ftanden, denen jede internationale Regelung der fozialpolitischen Fragen nicht nur gleichgültig, sondern unangenehm ist.
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Auch die Kampagne eines Telles der deutschen Bresse gegen den Direktor des Internationalen Arbeitsamtes wegen feiner angeblich für Deutschland geplanten Wirtschafts. fontrolle" wird hier nur als ein Art zur Störung der Arbeiten des Internationalen Arbeitsamtes betrachtet. Tatfächlich hat Thomas wiederholt erklärt, daß ihm eine solche Absicht völlig fernliegt.
Nein, es läßt sich auch ohne Mehrarbeit und Raubbau an der Arbeiterkraft eine Lösung der Reparationsfrage und der Wirtschaftskrise herbeiführen, wenn der gute Wille auch bei der Regierung und den Unternehmern vorhanden wäre. Aber das ist eben die Frage.
Für den deutschen Arbeiter aber bleibt die Gewißheit, baß seine ausländischen Arbeitsbrüder in der wichtigen Frage der Arbeitszeitregelung auf seiner Seite stehen. 23ir fämpfen für die Arbeiter in der ganzen Well, wenn wir für den Achtstundentag bes deutschen Arbeiters eintreten," sagte Jou haug auf der Konferenz, und selbst, wenn dem nicht so wäre, würde die deutsche Arbeiterschaft sich den Achtſtundentag zurückholen- aber dann für immer.
Genf , 5. Juft.( Eigener Drahtbericht.) Die internationale Arbeitskonferenz wurde am Sonnabend beendet, nachdem in der legten Sigung gegen die Stimmen der Arbeitgeber beschlossen worden war, sämtliche Resolutionen, darunter auch die über den Achtstundentag, die Reparationsfrage und die Arbeitslosigkeit, dem Berwaltungsrat zur Prüfung zu überweisen. Nach Ansprachen der Bertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer dankte der Direttor des Arbeitsamtes Thomas dem Vorsitzenden der Konferenz für die Mitarbeit. Auch Branting dankte in seinem Schlußwort allen Delegierten für die fachliche und verständnisvolle Arbeit. Er fchloß mit den Worten: Bir schaffen eine internationale Rörper schaft, um Arbeiter im Dienfte der Menschheit zu sein."
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Ами
Lehnert
Gesundung unseres Volkes, Gnädigste, nurrr Wiederaufbau alter Wehrmacht--- rrrrücksichtsloseste Militarisierung!
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In einem offiziellen, vor kurzem in Moskau erschienenen 800 Seiten diden Band Bolts- und Staatswirtschaft" wird festgestellt, daß Rußland durch den Krieg und die Revolution 4 053 000 und durch den Hunger im Jahre 1921 insgesamt 5 200 000 Menschenleben eingebüßt hat. Die Folgen dieser Hungerfatastrophe hat das Bolt noch lange nicht überwunden. Laut Angaben der zentralen Rom mission zur Bekämpfung der Kinderobdachlosigkeit gibt es in ganz Rußland
1 680 120 obdachlose Kinder,
von denen nur 149000 in Kinderasyten unterge bracht sind und 490 000 Essen erhalten. Das sind die Baisen der verhungerien Bauern. Aber schon streckt der Hungertod wieder feine Arme nach den russischen Bauern aus...
Der Ton der Sowjetpresse wird von Tag zu Tag alarmierenber. In Moskau werden bereits von der Regierung Maßnahmen gegen die Katastrophe diskutiert. Die ruffischen Rote- Kreuz- Organisationen find zu einer Konferenz zusammengetreten. Die Hoffnung auf Auslandshilfe ift fehr gering. Die Sowjetregierung hat alles getan, um sich die Sympathien Ameritas, der Kornfammer der Welt, zu verscherzen. In verschiedenen Gebiete.. ergreift die Bevölkerung bereits eine Panitftimmung: die Bauern verlaufen ihr Bieh und ihr Inventar für ein Butterbrot und versehen sich mit Getreidevorräten. Sie verrammeln ihre Häufer und ziehen nach dem Süden. Selbst das Zentraloraan ber ruffischen fommunistischen Partei, die Prawda", fchreibt am 21. Juni:„ Die Er innerung an die Schrecken von 1921 werden mit den ersten Anzeichen einer neuen Getreidedürre
Bon der drohenden Hungersnot spricht die gesamte Sowjetpresse. Die offiziellen Berichte besagen, daß die G treideschädlinge, die unglaubliche Hise und der Ausfall von Regen die Ernte in dem größten Teil Rußlands entweder in ungünstigem Sinne be* einträchtigt oder fie völlig zu vernichten droht. Der vor kurzem niebergegangene Regen hat die Lage nicht gebeffert. Eine mehr oder weniger günstige Ernte ist nur im Moskauer Industriegebiet und den zentralen Gouvernements zu erwarten. Dagegen lassen die großen Gebiete, die ohnehin den Bedarf der Bevölkerung an Getreide nicht zu produzieren vermögen, und der übergroße Teil der Ueberschußprovinzen das Schlimm fte befürchten. Dem ganzen südöstlichen Gebiet droht die Gefahr einer völligen Mißernte. Das Astra aner und das Zarizyner Gouvernement, das deutsche Wolga- Gebiet, die Gouvernements Pensa, Perm, Jekaterinenburg usw. haben unter der Hitwelle ungemein gelitten. Die gleiche Gefahr gilt laut offizieller Berichte für die Ukraine , bie Krim , für den größten Teil des Kauka fus und für Turkestan . Auch aus einem Teil Sibiriens , der BrotBammer Rußlands , tommen alarmierende Nachrichten. So fbeht
die die grauenhaften Monate des Jahres 1921 wieder ins Ge dächtnis zurückrufen. Man sieht im Geist schon wieder, wie Mütter ihre Kinder verkaufen, Menschen ihren Hunger an Menschenfleisch stillen, Haufen von Rinderleichen.
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Bird Europa, wird Amerika wirklich ruhig mit ansehen, mie Hunderttausende von Menschen zugrunde gehen? Wird wirt sich von feiner Seite Hilfe tommen? Indes meldet/ dte Prawda" vom 24. Juni, daß in Batum große Badungen vore Getreide nach Frankreich abgegangen find! Auch sonst dauert der Export von Getreide ins Ausland nach wie vor an. Ist das nicht wie ein Verbrechen am eigenen Bolt? Bedenkt man, daß im ganzen 180 Millionen Pud im Laufe des Jahres exportiert worden find, so ist nicht schwer zu berechnen, wieviel Menschenleben in
immer lebhafter, und jetzt, wo die Dürre drohende Formen ange Rußland durch diese Getreidemenge hätten gerettet werben
nommen hat, ruft sie bereits eine Banif hervor."
tönnen,