französischer Rechte proklamiert, hört die Frage Reparation-- kommission oder unabhängige Kommission auf, eine Zweck- niäßigkeitsfrage zu sein. Damit vergrößert sich die Gefahr, daß Herriots Gefolge, soweit es nicht wirklich sozialistisch, fort- dern nur bürgerlich radikal ist, irre wird. Diese f ch w a n- kenden Kleinbürger scheinen in den letzten Wochen ohnedies schon etwas Angst vor ihrer eigenen Courage be- kommen zu haben: sie werden dann weich, Wachs in den Händen des Drahtziehers Poincarch der unter Mißbrauch ihres ehrlichen Patriotismus sie für feine Zwecke einspannt. Die Folge wäre eine Schwächung der Mehrheit Herriots— oder der Zwang für Herriot , sich in sachlichen Fragen von Stimmungen, innerpolitischen Rücksichten leiten zu lassen, praktisch ein Rückfall hinter den 11. Mai zu erleben— mit einem Worte das Ende der neuen Außenpolitik der Vernunft. lind diese Gefahr ist um so größer, als eine gewisse Pariser Presse mit einer Frechheit sondergleichen, obwohl ihr doch der Ausgang der Wahlen«inen kräftigen Denkzettel gegeben haben müßte, schon wieder so tut, als ob sie die Stimme Frankreichs wäre. Die Konsequenz dieser Situation ist von den politischen Mathematikern des dloe national schon vorausberechnet: eine unmögliche Stellung Frankreichs auf der Konferenz, poli- tische Niederlage Herriots— und sei es auch um den Preis der Zerschlagung aller Hoffnungen auf einen politischen Aufbau Europas . So sollte es nach den Wünschen der fran- zösischen Reaktion gehen, die leider in den höchsten und einflußreichsten Stellen, ähnlich wie Deutschland , Sitz und Stimme hat. Da trat das völlig Unerwartete, nicht Vorausberechnete ein, die Reise Macdonalds nach Paris . Sie wächst, so gesehen, weit über ihren unmittelbaren Sinn, über den tatsächlichen Inhalt der Besprechungen hin- aus. Macdonald dokumentiert symbolisch, daß er mit dem wirklichen Frankreich zu oerhandeln wünscht und nicht mit dem, was sich, einen Augenblick der Verwirrung benützend, in diesem entscheidenden Augenblick europäischer Geschichte zwischen Frankreich und England geschoben hat. Die Reise ist das äußerste, ja das gewagteste, was die Demokratie Groß- britannions in dieser Stunde tun konnte, um Europa vor einer neuen Krise zu bewahren.
Deutstbvölkischer Iüealismus. Lieber ein paar Unschuldige mehr an die Wand, als nur einen Schuldigen gehen lassen. Aus München wird uns geschrieben: Eine der himmelschreiend- sten Taten während der„Befreiung Münchens" vom 1. bis 5. Mai 1919 war die Ermordung der 12 Arbeiter und Familienväter aus Perlach, einem Dorf in der Nähe Münchens . Die Tat hat eine Abteilung desFreikorpsLützow unter dem Kommando des Leutnants Polzing und des Vize- umchtmeisters Prüfert im Hofe des Hofbräuhauskellers ausgeführt. Die Verfahren, die sich an diese grausige Mordtat schlosien, und die zuerst von den Militärgerichten und später von der Mün- chener Staatsanwaltschafl geführt wurden, sind schließlich im Jahre 1922 im Sand« verlaufen. Der Ausschuß zur Feststellung von Tumultschäden, der sich mit den Entschädigungsansprüchen der zwälf Ehefrauen und der ZS Kinder der Ermordeten zu befassen hatte, � sprach damals den Hinterbliebenen die nach dem Aufruhr- fchädengesetz höchstmögliche Rente zu: das Reichswirtschaftsgericht kassierte aber diesen Spruch und erklarte, es läge keine„offene Gewalt" gegen die Erschossenen vor. Die„Münchener Post" hatte nun Gelegenheit, Einblick in die noch vorhandenen Akten der Verfahren zu nehmen. Daraus ergibt sich zunächst, daß der erwähnte Vizewachtmeister Prüfert laut Strafliste ein ä u ß e r st roher Mensch mit geringen Gewisiens- bedenken ist, der schon zweimal wegen schweren Dieb» st a h l s und Urkundenfälschung erhebliche Gefängnisstrafen zu verbüßen hatte. Der Leutnant, in besten Schwadron der Prüfert Dienst machte, sagt« als Zeuge:„Ich halte Ihn für einen gefühls- rohen Menschen, der meiner Ansicht nach nicht Soldat geworden ist aus Interesse am vaterländischen Dienst oder aus vaterländischer
Der Unfall. Von Hans Jacob . Als der Hochbahnzug schon die meisten Fahrgäste aufgenommen hatte, geschah es. daß ein älterer, bescheiden gekleideter Mann als Letzter seinen linken Fuß auf die Kante des Wagens stellte. Seit- samerweise zog er den rechten Fuß nicht nach, sondern stand mit dem linken im Zug und mit dem rechten Fuß auf dem Bahnsteig, als der Zug anfuhr: so geriet er zwischen Bahnsteig und Zug. Da stch der Wagen, in den er hatte einsteigen wollen, am Ende des Zuges befand, kan�, er nach einem leichten Sturz mit einer geringfügigen Gehirnerschütterung davon. Nach Wochen genesen, erzählte er dem Arzt die Ursache seines seltsamen Verhaltens, das den Unfall verschuldet hatte. „Sie wissen selbst, daß es weh tut, fremde Gespräch« mit anhören zu müssen: sie behandeln immer dasselbe— aus irgendeiner Bemerkung schreit das Schicksal fremder Menschen. Als ich am Tage meines Unfalles, eingekeilt in die Menge, den heranbrausenden Zug erwartete, war mir Mutlosigkeit aus dem klagenden Gespräch der Mitwartenden so qualvoll um alle Gedanken gelegt, daß mein Kopf schmerzte. Gerade als der Zug einfuhr, fiel mein Blick auf die Zeitung eines neben mir stehenden Herren.„Amundsen will mit Polar- Hunden...", mehr las ich nicht. In diesem Augenblick hatte der Wind des in die Halle brausenden Zuges die Zeitung umgeblättert: der Zug stand, alles drängte sich in die Eingänge: ich trat zurück: nach wenigen Sekunden mußte ich in den Wagen treten: in einem Bruchteil der letzten Sekunde fielen alle Qualen von mir, die vorher die Einengung zwischen Fremde verursacht hatte. Da ich fast mecha- nisch den einen Fuß auf die Kante des Wagens gesetzt hatte, brauste eine Symphonie von Borstellungen durch mein Gehirn: Polar» Hunde!— In Kalifornien sitzen die Leute im Winter auf der Veranda und essen Ananas: in Japan summen seltsame Instrument«, die Kirschbäume blühen und Geishas tanzen: in China wird auf offenem Markte einem Tschungusmörder der Kopf abgeschlagen: in Shanghai pokern englische Gentlemen im Klub: aus Java wirft ein fremder Gesandter mit Speeren nach Tontauben; in Heliopolis stürzen zehn goldbetreßte Kawasien aus dem Palast-Hotel ins Portal, um einen amerikanischen Milliardär zu begrüßen: in Rußland tagen Gerichte, die Todesstrafen verhängen: in Rom duften alle Straßen nach Rosen, denn auf dem Monte Pincio blühen die Gürten. Das Bewußtsein, daß in dieser Stunde noch, da ich gebunden an Zeit und Raum, erschüttert vom Donnern des in die Halle rasenden Zuges, in allen Ländern von unzähligen Menschen der gleiche Bruch- teil von Zeit zu schönem und häßlichem Erleben vollbracht wurde, dieses Bewußtsein hob im gleichen Augenblick mein Lebensgefüht, das sich unter dem sanften Winde dieser Erkenntnis blähte wie ein Segel vor dce» Sturm. Berauscht von diesem Trost: aus der Qual
Gesinnung, sondern weil er seinem Hang nach Abenteuern stöhnen wollte und der Ansicht war, daß es beim Militär etwas zu verdienen gab. Ueberall entdeckte er Lebensmittel, Butter, Wurst usw. und hat wohl während der Zeit, wo er beim Freikorps Lützow war, nicht schlecht gelebt." Nach den übereinstimmenden Aussagen der Zeugen hat Prüfert nach der Ermordung die Leichen ausgeraubt: er hat den Toten die Ringe von den Fingern gezogen, während ein anderer Soldat ihnen die Taschen abgriff und die Uhren und Geldbörsen raubte. Sein« dienstlichen Bc- fehle erhielt er vom Kommandeur des Freikorps , dem Major Schulz, der in einer Offiziersbejprechung am 4. Mai 1919 laut Zeugenaussage ausführte:„Lieber ein paar Unschuldige mehr an die Wand, als nur einen Schuldigen gehen lassen." In allen eingeleiteten Verfahren wurden nur die an der Ermordung beteiligten Offiziere als Zeugen o e r- n o m m e n: eine Vernehmung der Täter als Beschuldigte fand von vornherein nicht statt. Alle übrigen den Behörden und Gerichten genannten mehrere Dutzende Personen wurden nicht vernommen; auch ein vom Sozialdemokratischen Verein München damals bei der Staatsanwaltschaft eingereichtes Zeugenprotokoll fand keine Berücksichtigung. Die Erklärungen der Mörder, die in einem militärischen Bericht zusammengefaßt wurden, bildeten die Grundlage zur Einstellung des Verfahrens. Das Interessanteste aber ist, daß später dann diese militärischen Akten auf dem Wege zum Bezirtskommando Charlottenburg, das es gar nicht gibt, verlorengegangen sind und bei dem späteren staatsanwalt- schaftlichen Verfahren„rekonstruiert" wurden. Bei den neuen Akten findet sich auch die Angabe des Bürgermeisters von Per- lach; danach waren die meisten von den Ermordeten Mehr- heitssozialisten, andere politisch nicht tätig und nur einer Mitglied der USP., Kommunisten waren keine darunter. In einem eingehenden Bericht der Gendarmerie st ation Perlach wird erklärt, daß bei keinem einzigen der Leute eine Schuld festgestellt war. Einige der Leute hätten wohl Gewehre von der Arbeiterwehr gehabt, diese Gewehre seien aber ausnahmslos bereits am 1. Mai 1919 nach Erlaß der öffentlichen Aufforderung ordnungsgemäß abgeliefert worden. Eine besondere Rolle in dieser Sache hat auch die Polizei- direktion des Herrn Pöhner gespielt. Als nämlich die Akten bei dem Freikorps Lützow verschwunden waren, ließ Pöhner eines Tages bei einem Mitglied der USP. Haussuchung halten. Man fand auch einige Schriftstücke, die stch mit der Ermordung der Perlacher Arbeiter befaßten. Damit wollte man den Beweis erbringen, auf welche Weise die Akten verschwunden seien. Auf die wiederholten Eingaben des Sozialdemokratischen Vereins München versicherte der damalige Iustizminister Roth, daß mit dem baldigen Abschluß des Verfahrens nicht gerechnet werden könnte, daß aber die Staatsanwaltschaft zur nachdrücklichen Verfolgung der Angelegenheit dienstlich angewiesen sei. Das Ergebnis des nach- drücklichen Zusammenwirkens des mit der Sache befaßten Militär- gerichtes, der Staatsanwaltschaft, der Polizei und des Justiz- Ministeriums war, daß die Mörder der zwölf Perlacher Arbeiter noch heute frei herumlaufen, und daß die Hinter- b l i e b« n e n, die setzt noch zum Teil in großer Rot stch be- finden, noch keinen Pfennig Entschädigung erhalten haben.
Deutschnationale Theorie unü Praxis. Am Sonnabend, den 28. Juni, hat der Reichstag die Ein» setzung eines besonderen Ausschusses zur Beraiung der Anträge über die Aufwertung beschlossen. In der Debatte darüber haben alle Parteien den schleunigen Zusammentritt dieses LuS» schusseS für notwendig gehalten. Am eiligsten hatten es die Deutschnationalen, deren Redner, Herr He rgt, jeden Tag der Verzögerung als ein Unrecht bezeichnete. Inzwischen sind zehn Tage vergangen, der Ausschuß ist noch nicht zusammengetreten und eS find auch gar keine Anstalten ge- troffen, die auf einen baldigen Zusammentritt schließcn lasten. DaS ist umso bezeichnender, als der Vorsitz in diesem Ausschuß den Deutschnationalen, also vermutlich den» Abgeordneten Hergt, zufällt. So sehen beim Deuschnationalen Theorie und Praxis aus I
der Alltäglichkeit gerissen zu werden, verlor ich durch ein Bild meiner Vorstellungskraft das Bewußtsein— und erwachte erst zwischen den Kissen meines Krankenlagers."
Das Klischee. Wenige Wochen vor Kriegsausbruch— so ziemlich genau vor zehn Jahren— hielt der damalige Reichstaqsabgeordncte, Genosse Hermann Wendel , im Wallot-Hause ein« Rede, die deshalb großes Aussehen erregte, weil sie die Hoffnung der deutschen Arbeiter- schaft auf eine boldig« Vollendung der deutsch -französischen Annähe- rung mit den Schlußworten zum Ausdruck brachte:«Vive la France!» So wütend Wendel dieserhalb von den hier zum Krieg treibenden Alldeutschen angegriffen wurde, so starken und sympathischen Wider- hall erweckt« seine Kundgebung in der französischen Demokratie. Auf Wunsch von Jaures schrieb Wendel damals einen Artikel für die.Humanitö", in dem er die Gefühle und Gedanken des näheren entwickelt«, die ihn zu feiner kühnen Rede veranlaßt hatten. Der Artikel erschien im sozialistischen Blatt mit einein Bilde seines Ver» fassers. » Zehn Jahre sind seitdem verstrichen, wobei unter vielen anderen Deränderungen die„Humanitö" kommunistisch wurde. Da brachte dieler Tage das Pariser Bolschewikiblatt einen Artikel gegen das Comitö des Forges, der hauptsächlich gegen die lothringischen Schwerindustriellen Gebrüder de Wendel gerichtet war. Um diesem Artikel nach französischer Sitte eine größere Lebendigkeit zu ver- leihen, wurde er mit dem Bilde des Seniors der Firma H u m b e r t de Wendel versehen. Aber siehe da: es war das Bild unseres Genossen Hermann Wendel , der dafür herhalten mußte! Kommu- nistische Redakteur« nehmen es eben nicht so genau: Man findet in der Klischcesammlung des annektierten Iaures-Blattcs ein Bild mit dem Namen Wendel, das seit zehn Iahren unbenutzt dagelegen hat, und steckt es in die Zeitung, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen. Denn wer unter den Lesern der.HumanitS" mag wissen, wie der französische Stinnes aussieht, wer mag sich daran erinnern, daß dieses Klischee vor zehn Iahren in einem ganz anderen Zusammenhang als Abbildung eines deutschen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten erschienen ist! -i- In Berlin blüht eine Zeitung, die von lauter eigenen Draht- berichten aus allen fünf Weltteilen und von lauter eigenen Zeich- nungen strotzt und auf diesem Gebiet« jede Konkurrenz zu schlagen bestrebt ist. Es fragt sich nur, mit welchen Mitteln: erst vor kurzem stellte ein englisches Blatt fest, daß eine humoristische Zeichnung?- reihe, die in diesem Berliner Blatt als eigenes Erzeugnis erschienen war, ein freches und plumpes Plagiat war. In seiner Ausgabe vom 7. Juli wollte nun das„3-Uhr. Abendblatt" wieder einmal mit seinen vorzüglichen eigenen Zeichnungen renommieren, und es brachte aus der Feder eines Künstlers namens Godal auf der ersten Seite ein Bild:„Der Mann hinter den Pariser Kulissen, Humbert de Wendel , der Führer der französischen Schwer- industriellen," Leider war dieses Bild nicht imr ein Diebstahl, sondern auch
Die Zolltarifvorlage üer Rekchsregierung. Hohe Lebensmittelzölle. Wie wir von unterrichteter Seile erfahren, ist der Entwurf eines Schutzzollgesehes bereits fertiggestellt. Der Entwurf greift auf den Zolltarif von 1992 zurück, der 199b mit Der- lragssätzcn in Kraft trat. Er sieht u. a. ans den Doppelzentner im Dertragstaris eine Belastung für Roggen von 5. für Weizen von 5, 59. von Malzgerste von 4. Fultcrgerste von 1.Z9 und Hascr von S M. vor. Durch Verordnung von 1914 wurde dieser Tarif suspendiert. Dazu trat 1922 eine Entschließung, daß die völlige oder teilweise Wiederherstellung nur durch gesetzgeberischen Akt vorzunehmen ist. Die Entscheidung über den Entwurf bleibt so dem Reichstag überlassen. Der Entwurf selbst soll sich nur mit den Hauptpositionen beschäftigen und ihre Wiederherstellung aus den Stand von 1914 vorsehen. Die deutsche Bevölkerung würde den Zoll in empfind- licherem Maße zunächst erst bei der Frühkarloffelver- sorgung spüren._ Die Immunitätsfrage in Dapern. München , 8. Juli. (WTB.) Das Plenum des Bayerischen Landtags lehnte einen kommunistischen Antrag aus H a f t e n t- lassung des Abg. Grönfelder, gegen den ein Strafterfahren wegen Verbrechens gegen die Anordnungen des Generalstaats- kommissars über die Auflösung der Kommunistischen Partei einge- lausen ist, ab, ferner genehmigte der Landtag entgegen dem Ausschußbeschluß die Strafverfolgung des völkischen Abge- ordneten Pöhner wegen Hochverrats. In der Vollsitzung stimm- ten auch die Sozialisten und Kommunisten entgegen ihrer Haltung im Ausschuß für die Strafverfolgung Pöhners und gaben durch Zwffchennise zu erkennen, daß das Verhalten der Deutschnationalen im Falle Grönfelder sie dazu veranlaßt habe. Die Völkischen nahmen die Abstimmung mit Pfuirufen aus, außerdem wurden die Anträge aus Einstellung des Dienststrafverfahrens gegen die völkischen Abg. Pöhner und Streicher abgelehnt. Ferner wurde die Strafverfolgung des Abg. Blumtritt < Sozialist), dein der Vorwurf des Landesverrats gemacht wurde, genehmigt. Abg. Blumtritt hatte selbst um die Genehmigung zur Einleitung des Verfahrens gebeten, um sich rechtfertigen zu können. Hierauf wurde in die politische Aussprache eingetreten.
Der neue Lanütag in Inhalt. Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung.— Wahr« scheinlich keine Beteiligung der Sozialdemokraten. Dessau . 8. Juli. (Eigener Drahtbericht.) Der neue Land- tag für Anhalt trat am Dienstag vormittag unter dem Vorsitz eines deutschnationalen Alterspräsidenten zu seiner ersten Sitzung zu- sammen. Nach der Eröffnungsansprache vertagt« sich das Haus sosort, da unter den Parteien mxh keine Einigung über die B i l d u n g der neu en Regierung und die Wahl des Landtagspräsidiums erzielt worden war. Auch als d!« Sitzung eine Stimde später wieder aufgenommen wurde, lag noch kein Ergebnis der Besprechungen unter den Parteien vor, so daß Nertagung aus Mittwoch beschlossen wurde. Di« Deutschnationalen haben die zwei Landbündler und den einen Vertreter des Hausbesitzes aufgenommen und erheben nunmehr mit 9 Abgeordneten den Anspruch, als zweifflärkste Fraktion zu gelten. Ihr Bestreben geht natürlich dahin, unter ihrer Leitung eine Regierung zustand« zu bringen. Die Sozialdemo. k r a t i e wird sich voraussichtlich an der Regierung nicht b e- t e i l i g e n, so daß lediglich eine Interimsregierung zustande kommen wird. Man rechnet bereits allgemein mit einer Auflösung des Landtages, um klare Mehrheitsverhältnisse, die jetzt nicht vor- handen sind, zu schaffen._ Toller noch in Haft. Die Meldung von einer bereits erfolgten Haftentlassung Ernst Toller ? trifft nicht zu. Die „Ordnungszelle" Boyern beabsiäiligt nickt, dem kranken Dickrer auch nur einen Tag der über ihn verhängten FestungShoil von 6 Jahren zu erlassen. Sie wird Toller vielmehr erst am lt!. Juli aus der Haft entlassen. An diesem Tage läuft die fünfjährige Strafe ab.
ein Reinsall. Es war nämlich aus der„Humantte" kopiert und stellt« wiederum unseren Genossen Hermann Wendel dar, der stch wohl in den nächsten Tagen vor Pump- briefen ebenso schwer wird retten können, wie der Gewinner des Millionenloses bei der Prc-chischen Klassenkotterie. Und die kommunistische Moral von der Geschicht'? Die deutsche Sozialdemokratie im Dienst der französischen Schwerindustrie!
Der Staat öer Wolgaüeutschen. Die Autonome Republik der Wolgadeutschen wurde am Ansang dieses Jahres in Pokrowsk anläßlich des Kon» gresses der Wolgadeutschen Arbeitskommun« proklamiert und wurde vom Zentralexckutivkomite« als föderativer Teil der RSFSR . an- erkannt. Da diese Neubildung im Osteuropa , fern von Deutschlands Grenzen, ein deutsches Staatswesen darstellt, sind die Daten, welche die„Zeitschrist der Gesellschaft für Erdkunde" an- führt, von allgemeinem Interesse. �D!« Anfänge des Wolgadeutschen Staates gehen auf 1918 zurück. Als die tschechoslowakischen Legionen die Gegend der mittleren Wolga räumten, wurde, als erster Versuch der neuen Nationalitäten- Politik, das autonome Gebiet der Wolgadeutschen gebildet. Aus den Gouvernements Saratow und Samara sondert« man die beut- schen Kolonien ab und faßte sie unter dem von ihrem Kongreß ge- wählten Gebietskomidee zusammen. Das Kartenbild des Gebietes erinnerte an die deutschen Kleinstaaten. Russische Sprachinseln in- mitten der deutschen Kommune, die weiter zum Gouvernement Saratow gehörten usw.. zeigten zwar einen radikalen Versuch zur Lösung des Nationalitätenproblems, erwiesen sich aber als Hein- mungen der Verwaltung und Wirtschaftsentwicklung. Darum wurden im Juli 1922 die rein ethnographisch gewählten Grenzen aufgegeben und das Gebiet von 20 000 auf 28 000 Quadratkilometer vergrößert. Die Verschiebung in der nationalen Zu- sammensetzung war nicht unwesentlich. Bon den Ende 1922 ge- schätzten 541 000 Einwohnern waren nur 67,4 Proz. Deutsch «, gegenüber 21,3 Proz. Russen und 9,7 Proz. Ukrainer . Durch die Glcich- stellung aller drei Sprachen als offizielle und durch die Unterteilung des Gebietes in 14 Kantone auf nationaler Grundlage(11 deutsche und 3 russische Kanton«) wurde die Nationalitätenfrage neuerdings endgültig geregelt. Eine Folge der Reuorganiskrung dieses Gebietes war, daß statt Marxstadt(früher Iekaterinenstadt) das viel größer« Pokrowsk an der Wolga , Saratow gegenüber» liegend, zum Verwaltungszentrum gemacht wurde. Diese ist als Ausgangspunkt der Bahn nach Orenburg und Astrachan , als Ge- trcjdemarkt und Umladestelle, auch der wirtschaftlich« Mittelpunkt des Landes. Reben Pokrowsk und Marxstadt hat noch G o l y j K a r a- m n s ch mit seiner Textilheimindustri« Bedeutung. Die Landwirt» schaft hat sich bereits von den Verwüstungen des Jahres 1921 erholt. Damals wurden durch die Dürr« 72 Proz. der damals bebauten Fläche zerstört. Dank der m- und ausländischen Hilfe und vor allem de? Ilmstandes, daß das Kolonistenland inmitten der fruchtbarsten Tsch:rnosj em-Steppe liegt, ist der Wiederaufbau sehr weit fort?:- schritten. Ein kultureller Ausschwung geht damit parallel. Jetzt wird in fast 400 Schulen, davon zahlreichen Mittelschulen unterrichtet. E. P.