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7. Heilage öes Vorwärts

Dlenstag, 12. August 1�24

von der Gemeinfihastsjchule.

lleber Erziehung ist viel gestritten worden. Jeder Gedanke hat feine Freunde und seine Gegner gefunden. Gegenwärtig steht die Ecmeinschaftsschule im Brennpunkt des Meinungskampfes der Er- rrachsenen. Die. um die es in diesem Kampf geht, sind nur selten gehört worden. Ihnen sei daher im folgenden das Wort gegeben. Im Oktober 1923 ist u. a. eine Gemeinjchastsschule in Niederschön- �nvifen eröffnet worden. Kinder dieser Schul« haben sich in frei. williger Arbeit vereinigt, um das Leben und Treiben in ihrer Ge- p!cinschaft zu schildern. �ls Neuling in öer Gemeinschafiöschule. Ein Mädchen, das Ostern in dies« Schule eingetreten ist, schreibr folgendes: Als ich am 1. April die Gemeinschaftsschule und die oberste Gemeinschaft betrat, war ich voller Erwartung. Aber leichten Muts ging ich mit dem Lehrer in die Gsmeinschaft. Nach dem Morgen- eruß erhielt ich einen Platz. Hier stehen Tischplatten in Hufeisen- form, rundherum sind Stühle. Ich war über das Zusammenleben der Kinder und des Lehrers erstaunt. Durch die mir fremde Um- grbunq doch eingeschüchtert, saß ich erstaunt da und hörte das mit an. Während ein Mädchen das geschichtlich« LesestückDie heilige Feme" vorlas, besah ich das Zimmer. An allen Wänden hingen Bilder. An der einen Wand hängen einige Sprüche und Bilder und Sprüche ausHermann und Dorothea ". An der aichern die Bildnisse der Dichter Goethe , Gerh. Hauptmann. Wilh. Raab« und Bich. Dehmel. An den anderen Höngen einige Landschaften und andere Bilder. Alles das machte das kahle Schulzimmer viel freundlicher. Währenddessen las das Mädchen die Geschichte weiter vor, hier und da wurde sie durch die Unterhaltung der andern Kinder unterbrochen, auch warf sie hier und da«in Wort dazwischen. Wer etwas nicht verstanden hatte, wandte sich an die Gemeinschaft. Erstaunt saß ich da darüber, saß ich wie ein Oelgötz« zwischen den anderen Kindern und hörte das mit an. Nach drei Stunden Ge- schichte hatten wir Turnen. Freundlich bemühten sich die Kinder in der Pause um mich. Ebenso wurde ich von der Turnlehrerin empfangen, obwohl ich ihr eine Fremd« war. Pfeilgeschwind flogen d-e Stunden dahin, und um 1 Uhr ging ich halb betäubt von dem iGesehenen und Gehörten nach Hause. Wie wir arbeiten. Wenn wir in der Schul««in Thema behandeln wollen, bereitet sich ein Kind mehrere Tage vorher darauf vor. Es nimmt sich«in passendes Buch und studiert den Abschnitt gründlich durch, um den Kindern nachher«inen klaren und deutlichen Vortrag halten zu können. Di« Zwischenbemerkungen werden bis zum Eride des Vor- träges aufgespart: denn der Vortragende soll nicht unterbrochen vxrden. Dann beginnt eine frei« �Aussprache. Was den Kindern aufgefallen ist und was ihnen nicht ganz klar war, sagen sie, und die übrigen Mitschüler geben ihnen eine Aufklärung darüber. Wenn wir über«inen Ausdruck nicht Bescheid wissen, sehen wir im Wörter- buch nach. Wenn wir nicht Auskunft finden, dann gibt sie uns der Lehrer, und schon sind wir befriedigt. Durch dies« Fragen uich Ant- worten bildet sich ein lebhaftes Unterrichtsgespräch. Wer etwas sogen will, redet ohne sich erst zu melden. Man könnte meinen, daß es ein wüstes Durcheinander gäbe; das kommt aber selten vor. Wznn wir gerade im besten Arbeiten sind, kommt uns dos Läuten dazwischen und wir müssen aufhören. Danach richten wir uns aber selten, und wir arbeiten meistens die kleinen Pausen hindurch. Wenn die Unterrichtsstunde beendet ist, wird von den Kindern mit Hilf« des Lehrers«in Arbeitsplan aufgestellt, in dem immer ein- g-'schrieben wird, was wir am nächsten Tag« zu machen gedenken. Verfasser: Ein Mädchen und ein Knabe. Unsere Nechenstunöe. Viel« erwachsenen Leute gaben uns im Rechnen ein schlechtes Lorbild, indem sie ihre Ein- und Ausgaben sowie Mieten nicht ausrechnen, sondern nur bezahlen konnten. So«ntschlosien wir uns, gemeinsam di« Miete unserer Eltern auszurechnen. Ein Schüler hatte die Gelegenheit, uns zu einer Verordnung der Miei- zinhsteuer zu verhelfen. Natürlich konnten wir nun nicht gleich drauilosrechnen: denn die Neulinge, die Ostern zugekommen waren, waren die Art und Weise, die wir beim Unterrichten gebrauchen.

Was die Kinder erzählen.

noch nicht so gewohnt wie wir. Endlich konnten wir anfangen zu rechnen. Ein Vater, der uns gerade«inen Besuch abstattet«, half uns mit großem Interesie. Er macht« uns klar, daß di« Grundlog« der damaligen Miete 31 Proz. der Friedensmiet«, und daß die M.ietzinssteuer das Vielfache der Grundsteuer beträgt. Um nun in der Rechenart geläufig zu werden, hielten wir«s für das best«,

unser« elterlichen Mi«t«n auszurechnen, deshalb wollten wir uns zur nächsten Rechenstunde bei unseren Wirten oder Verwaltern danach erkundigen. So beendigten wir unser« Rechenstunde. Verfasser: Zwei Mädchen. wie unsere HemeinschastsstunSen verlaufen. Jeden Freitag von 12 bis 1 findet«n der Aula unsere Gemein- schostsstunde statt. In dieser Zeit kommen di« vi«r ältesten Gemein. schasten zusamm«n. Zwei Kinder haben die Leitung und sorgen für Ruhe und Ordnung, und zwei schreiben über das Besprochene«ine Niederschrift, die in ein bestimmtes Buch«ingetragen wird. Die Gemeinschaftsstunde hat den Zweck, daß sich Kinder über Fragen der Schulordnung aufklären lassen können. Hat nun jemand«in« Frag«, so meldet er sich zum Wort, und dies« wird von uns Kindern beantwortet. Können wir die Frag« nicht lösen, so ergänzen di« Lehrer das weiter«. In der ersten Stunde wurde die Schulordnung aufgestellt. Jede Gemeinschaft arbeitet««ine solche aus. Aus diesen verschiedenen Ordnungen werden wir jetzt einige Punkte aufzählen: Betrete das Schulhaus nicht vor Uhr! Sei sparsam in Ge- brauch von Kreide, Tinte und Wasser. Geh« auf der Treppe stets rechts! Stelle dich ordentlich auf dem Hof« an! Verlasse das Schul- grundstück nicht ohne Erlaubnis! Verhalte dich in den Pausen ruhig auf dem Flur! Mißbrauche nicht die Freiheit! Zerstöre die Lehr- mittel nicht mutwillig! In den weiteren Gemeinschostsshrnden brachten die Kinder folgende Fragen vor: Ein Knabe fragt«, wer der Erfinder vom Radio sei. Ein and'rer wollt« etwas über Kolum- bus wissen. Dann tauchte noch ein« Frage vom Eis auf. Eines Tages wurde die Frage erhoben, ob n:a» damit einverstanden wäre, wenn sich die Schule«in Aquarium anschaffte. Es wurde ab- gestimmt, und die Mehrzahl war dafür. Aber damit war die Sache noch nicht erledigt. Ist ein Raum vorhanden? Und wer füttert die Tiere über Sonntag und in den Ferien? So lauteten die weiteren Fragen. Nun meldeten sich viele Knaben, di« die Tier« stets be- sorgen wollten. Ein Lehrer erbot sich dazu, die ganze&ich« zu leiten. Um dies« Angelegenheit wurde noch lange verhandelt. Aber zu einem richtigen Ergebnis sind wir bis jetzt noch nicht gekommen. Verfasser: Zwei Mädchen. vom Mitarbeiten öer Eltern. Die Mutter spricht zu ihrem Sohn:So, mein Sohn, nun bist du aus der Schule, nun schicke ich dich in di« W«st, daß du erst einmal das Leben k«nn«n lernst!"

Die Mutter meint das so:Jetzt bist du acht lange Jahre pflichtgemäß in der Schule gewesen, um Schreiben und Lesen zu lernen, und jetzt muh ich dich fortschicken, daß du einmal das Leben kenn«n lernst, und daß dir ein Dunst aufgeht, daß du ein deutscher Staatsbürger bist. Also der Lehrer und die Mutter können aus dem Jungen keinen biauchboren Menschen machen, das wäre ja«in bissel viel verlangt. Wir versuchen uns so aus das Leben vorzubereiten: Lehrer und Eltern arbeiten zusammen auf den Punkt hinaus. ihr« Kinder auf möglichst all« Fragen des Lebens vorzubereiten, daß sie nicht hilflos dastehen und vom gewaltigen Strome der Zeit weggerissen werden. Um das zu verwirklichen, ist nur das ein« möglich: Eltern und Lehrer müssen zusammen arbeiten. Darunter verstshen wir: die Eltern wollen und tun das, was die Lehrer wollen und tun. Das wird jedem klar sein, daß es gar nicht anders geht: der Lehrer kann sich ja dann kaputt arbeiten und wird nichts erreichen, wenn die Eltern gegen den Lehrer arbeiten. Und darum! Und weil L«hr«r und Eltern die gleich« Erziehungsmethode haben, deswegen benehmen wir uns in der Schulstube eben so frei, wie bei Muttern in der Küche, und haben zum Lehrer dasselbe Ver- trauen wie zu den Eltern. Und so kann sich nur«in« Weltgemein- schast bilden. Wenn die Eltern ein paar Stunden vormittags frei haben, so gehören sie gewiß uns. Dann helfen sie uns, unsere Bühne bauen und Mutter näht mir den Mädeln die Kleider für di« Ausführung, während der Vater Malermeister mit den kleinen Künstlern bespricht, wi« sie die Bühne anpinseln sollen. Wir sind auch im Aeußeren ganz aus der alten Art geschlagen: denn wir haben mit unfern Eltern zusammen unfern Klassenraum ordentlich gemütlich gemacht. Ja, unsere Schule ist«in Modell für«in Para- dies! Und wie entstand das Paradies? Lehrer, Eltern und Kinder haben in einem Einverständnis gearbeitet. Verfasser: Zwei Knaben. Unsere �ugenöbühne. Wir spielen einig« Stunden in der Woche Theater. Da die Theaterstücke oft von der Vorzeit handeln, lernen wir Geschichte und die Trachten der früheren Völker kennen. Als vor einem halben Jahr« die Neuigkeit vom Theoterspielen von Mund zu Mund ging, haben wir uns sehr gefreut. A's«ine Erklärung darüber gegeben wurde, was Theoterspielen bedeute, trat manches Kind mit den Worten:Dazu bin ich nicht geeignet", zurück. Dennoch dachte man nicht an die Auflösung des Kurses. Er wurde sogar so stark, daß zwei Lehrer ihre Beschäftigung fanden. Unsere Aula wurd« jetzt als Aufführungssaal der Juaendbühne benutzt. Wir spielten zuerst Der Fuchs und die Gänse ". Di« ersten Mitspieler taugten nicht zum Theaterspielen. Die Angst und die Zögerei beim Theater- spielen legte sich, als wir mehrere Stücke geübt hatten. Unsere Eltern halfen uns, ein« Bühne bauen, auch unsere Kräfte ließen nicht nach, wir schafften, was wir konnten. Die Knaben malten die Kulissen je nach dem Stück. Wir Mädchen nähten die Garderobe mit Hilfe einer Lehrerin. Dies alles geschah mit Lust und Liebe. denn wir hatten einen Unterhaltungsabend vor, auf dem wir unseren Eltern zeigen wollten, was wir konnten. Jetzt wollen wir einen Abend schildern. Ein Schüler wünscht« in einer Ansprache zur Ein- leitung den Eltern einen gemütlichen Abend. Unser Kinderchor trat dann mit dem LiedTousendschön" auf di« Bühne. Einig« Schüle- rinnen trugen Gedichte in künstlerischer Form vor. DerWolf und die Geislein" führten die Kleinen mit eigenen Worten in Form «ines Theaterstückes auf. Großer Beifall wurde den Kleinen zuteil. Die Hauptsache w« ein Theaterstück für Größere. DerSchmöker- wurm" hieß es. Ein Stück gegen die Schundliteratur. Den Schluß bildet« der Cho- Verfasser:«in Mädchen.

Neue Straßenbahnlinien. Vom 13. d. M. ab werden, wie die Straßenbahndirektion mit» teilt, folgend« Linien eingeführt: 1. Linie 78: Grunewald -Rosenec? Schönhauser Thor über T«plitzer Straße, Hubertusbader Straße, Hubertusallee, Kurfürsten- dämm, Ioachim-Friedrich-Stroße, Holtzendorffstraße. Leonhardt- strahe. Stuttgarter Platz lBahnhof Charlottenburg), Wilmersdorfer Straße , Scharrenstraße, Wilhelmplatz, Berliner Straße , Charlotten- burger Chaussee, Brandenburger Tor , Sammerstraße, Dorotheen- straße, Am Kupfergraben, Eiserne Brücke, Museumstraße, Friedrichs- brück«, Burgstraße, Neue Promenade, Hackescher Markt, Rosenthaler Straß«, Neue und Alt« Schönhauser Straße bis zum Schönhauser Thor. 2. Linie 79: Bahnhof Halensee Potsdamer Platz, Link­straße, über Kurfürstendamm , Auguste-Biktoria-Platz, Tauentzien- straße. Wittenbergplatz, Nollendorfplatz, Bülowstraß«, Potsdamer Straße , Lützowstraße, Flottwellstraß«, Schöneberger Ufer, Linkstraße.

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Die Rebellion. Roman von Joseph Roth .

So hatte noch kein Schaffner mit Andreas gesprochen. Er sagte also:Von Ihnen lasse ich mir nichts vorschreiben!" Dann verlassen Sie den Wagen!" befahl der Beamte. Und wenn ich nicht will?" gab Andreas zurück. Verlassen Sie sofort den Wagen!" schrie der Schaffner und seine Nase lies blau an. Zugleich blies er zweimal in !eine Trompete, so daß der Motorführer mit einem gewalt- amen Ruck die Bahn zum Stehen brachte. Ich gehe nicht!" erklärte Andreas. Der Schaffner faßte Andreas beim Arm. Herr Arnold schickte sich an, den zweiten Arm seines Gegners zu ergreifen. Da schlug Andreas mit der Krücke seines Stocks blindlings los. Er sah nichts mehr. Runde Flammen kreisten vor seinen Augen. Er traf das Ohr des Herrn Arnold und die Mütze des Beamten. Die Frauen flüchteten ins Innere des Wagens Auf der Straße sammelten sich die Leute an. Unter ihnen wuchs plötzlich, wie ein Fakirwunder, ein Polizist her- vor Er zerteilte mit beiden Armen die Menge, wie ein Schwimmer die Wellen. Er landete aus dem Trittbrett und befahl:Kommen Sie herunter!' Andreas beruhigte sich langsam, als er den Mann des Gesetzes sah, dem er sich kraft seiner Lizenz, seiner Weltan- schauung und seinem Orden oerwandt suhlte. In der sicheren Annahme, daß er sich jetzt endlich unter dem Schutze der Ge- rechtigkeit befinde, sagte er zum Pollzisten. Holen Sie erst den da runter!"- und zergte auf Herrn Dadurch hatte Andreas jede Sympathie der Polizei von vornherein verwirkt. Denn Der Mann, der sich der größten Autorität der Straßenmenge erfreut, liebt es mcht. unterge- ordneten Menschen und untergeordnet sind alle Men- schen zu gehorchen, auch wenn sie tausendmal recht haben sollten. Der Polizist erwiderte:. m* m Sie haben mir nichts zu befehlen! Im Namen des Ge- setzes! Kommen Sie runter!"' 7- Während der Polizistim Namen des Gesetzes wurden alle Beteiligten und Neugierigen von einem kühlen Schauder erfaßt. Andreas sah im Geiste ein Kruzifix zwischen zwei brennenden Kerzen und das bleiche Antlitz

eines Richters mit einem Barett. Er kam ohne weiteres auf die Straße. Ihre Legitimation," sagte die Polizei. Andreas zeigte seine Lizenz. Hierauf vernahm der Polizist den Schaffner. Dieser schien die Ursachen der ganzen Aufregung gar nicht zu kennen. Er oerschwieg die Borge- schichte. Für ihn begann der Vorfall erst in dem Moment interessant zu werden, in dem Andreas sich geweigert hatte, seinen wohlberechtigten Anordnungen Folge zu leisten.Ich kenn ja meine Vorschrift," schloß der Schaffner seinen Bericht. In diesem Augenblick rief der Herr Arnold herunter: Das ist ein Bolschewik, den Hab ich in der Invalidenver- sammlung Hetzen gehört!" Lügner!" schrie Andreas und erhob noch einmal seinen Stock. Aber der Polizist fuhr ihm an die Kehle. Schmerz und Haß raubten Andreas die Besinnung. Er schlug den Polizisten. Zwei Männer aus dem Publikum entrissen ihm den Stock. Dann sank er auf das Pflaster. Der Beamte hob ihn mit einem Ruck wieder in die Höhe, ordnete die Uniform, steckte die Lizenz in das Notizbuch und dieses in die Tasche und entfernte sich. Der Wagen fuhr weiter, die Menschen zerstreuten sich. Zlndreas humpelte nach Hause. Er wütete noch immer. Er schämte sich. Er war schmerz- lich enttäuscht. Daß ihm so etwas geschehen mußte! Ihm, Andreas Pum, den die Regierung ausgezeichnet hatte! Er besaß eine Lizenz, er hatte ein Bein verloren und ein Kreuz bekommen. Er war ein Kämpfer, ein Soldati Plötzlich erinnerte er sich, daß er die Lizenz ja gar nicht mehr hatte. Er war auf einmal ein Lebender ohne Recht zu leben. Er war gar nichts mehr! Als wenn er aus einem Schiff in den großen Ozean geworfen wäre, so begann seine Seele die verzweifelten Anstrengungen eines Ertrinkenden zu machen. Jeden Augenblick konnte er verhaftet werden, wenn er mit seinem Leierkasten ausging. Er kam nach Hause, er erzählte alles seiner Frau. Unter- wegs hatte eine leise Hoffnung durch sein aufgeregtes Gemüt geklungen, eine Hoffnung auf die Klugheit, die Güte, die Liebe seiner Frau. Aber während er ihr erzählte, wurde es um ihn kalt und kälter. Sie sagte nichts. Sie stand vor ihm, die Hände in den breiten Hüften, ein Schlüsselbund hing wie eine Waffe an ihrer linken Seite und Teig klebte an ihren Fin- gern. Er sah ihr Gesicht nicht, er konnte nicht feststellen,

welchen Eindruck seine Rede machte. Er glaubte zu fühlen, daß sie ein bißchen spöttisch auf ihn heruntersah. Er warf von unten einen scheuen Blick zu ihr hinauf und glich in diesem Augenblick einem Hund, der Prügel er- wartet. Dann aber veränderte sich sein Angesicht, denn er erschrak. Plötzlich war es ihm, als stünde vor ihm ein fremdes Weib, das er nicht kannte und das fürchterlich war. Zum ersten Male machte Andreas die Entdeckung, daß ein mensch- liches Angesicht ganz anders aussehen kann, wenn man es von unten betrachtet. Er sah zuerst das fettwülstige Kinn seiner Frau und unmittelbar darüber, so, als hätte ihr Antlitz Mund und Lippen verloren, die breiten Nasenlöcher, die sich abwechselnd blähten und schlaff wurden und aus denen eiu peinlicher und schwüler Hauch blies, der merkwürdigerweis» an Wildgeruch erinnerte. Ein leises Stöhnen schien aus dem Innern der Frau zu kommen, wie ein wollüstiger und s?hn- süchtiger Laut, der in dem hungrigen Rachen der Raubtiere entsteht, wenn sie Beute erblicken. Andreas fürchtete sich vor. seiner Frau. Er brach mitten in der Erzählung ab. Katharina rückte einen Schritt von ihni weg und ihm schien es, als schrumpfte er zusammen und würde klein, ganz klein, und sähe vor sich seine Frau, nur, wie man einen riesigen Kirchturm mebr ahnt, als sieht, wenn man sich sehr nahe vor ihm befindet. Ihre Brüste hoben und senkten sich und sie schnaufte mit den Nüstern. So rang sie einige Sekunden lang nach Lust und einem treffenden Wort. Endlich hatte sie es gefunden! Elender Krüppel!" kreischte sie. Andreas wurde blaß. Mitten in einem großen Ozean schwamm er. Er klammerte sich an seinen Sitz, wie an eine rettende Planke. Bon ferne, durch Nebel und gleichsam unter- tauchend, hatte er noch Zeit, das Angesicht der kleinen Anna zu erblicken, die neugierig im Zimmer stand. Frau Katharina schien alles vergessen zu haben. Sie sah ihren Mann nicht und nicht ihr Kind. Sie hatte offenbar vergessen, daß Nachbarn lebten. Sie fuhr mit der rechten Hand durch die Luft und streifte eine Blumenvase aus be- maltem Gips, die mitten auf dem Tisch gestanden hotte. Das Wasser rann aus und gurgelte leise und plinkte in einzelnen wehmütigen Tropfen vom Rand der Wachstuchdecke auf den Boden. Um so besser!" dachte Katharina. Das fließende Wasser verdoppelte ihren Zorn.(Fortsetzung folgt.)