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Abendausgabe

Nr. 433 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 217

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise find in der Morgenausgabe angegeben Redaktion: SW. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-295 Tel.- Adresse: Sozialdemokrat Berlin  

Berliner Volksblatt

5 Goldpfennig

50 Milliarden

Sonnabend

13. September 1924

Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr

Berleger: Vorwärts- Berlag GmbH. Berlin   S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 2506-2507

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutfchlands

Stresemanns Widerruf.

Neue überraschende Erklärungen des Außenministers.  - des Außenministers.  - Keine Notifizierung!

Herr Stresemann hat vor der Presse seine Aus­lassungen über die Frage der Notifizierung der deutschen   Er­flärung gegen die Kriegsschuldlüge entwickelt. Der Außen­minister hat sich in strikster Form festgelegt, noch ehe das Reichskabinett zusammengetreten ist. Er hat sich selbst auf das strikste gebunden; denn er selbst war es, der die An­schauungen entwickelte, die jener heute morgen von uns wiedergegebene Bericht der Telegraphen- Union weitergab. Wir haben es heute morgen vermieden, Herrn Streje mann als Redner vor der Presse zu nennen, da er felt samerweise durch Vereinbarung in dieser Pressebesprechung feststellen ließ, daß sein Name nicht genannt werden solle, trozdem er persönlich eiligst nach Berlin   gekommen war, um noch vor der Kabinettsjigung sich festzulegen. Nachdem mehrere Zeitungen ihn offen nennen, haben wir feinen Grund mehr, es nicht zu tun. Unsere Leser werden in zwischen wohl aus dem Zusammenhang gemerkt haben, daß es sich um ihn handelt. Es war der deutsche Außen­minister selbst, der diese offizielle Eröffnung der Krise gestern vorgenommen hat.

Keine Krise!

Alles wieder anders!

Es war nur ein Mißverständnis. Gestern 6 Uhr abends gab Herr Streiemann jene Er flärung ab, die von allen Korrespondenzbureaus übereinstim­mend wiedergegeben wurde und die heute die ganze deutsche  Presse beschäftigt.

Heute mittag 12 Uhr war aber auch schon die ,, B. 3. am Mittag" gedruckt, die authentisch erklären kann, daß alles nur ein Mißverständnis gewesen sei.

Bech! Die Stenographen haben falsch stenographiert! Also, Herr Stresemann ist durchaus nicht für eine fofortige Notifizierung, um Gottes willen nicht! Denn das fönnte nicht nur eine große propagandistisch aufgezogene Gegenerklärung Frankreichs  ", sondern auch praktische Retor­fionsmaßnahmen, z. B. Berzögerung der Ruhr räumung" zur Folge haben. Stresemann denkt also gar nicht an eine Notifizierung jeßt, sondern nur an eine ,, zu einem gelegenen Zeitpunkt im Zusammenhang mit anderen zu er= wartenden Ereignissen und Vorgängen".

Warten wir also diese ,, Ereignisse und Vorgänge" ab! Auch in puncto Völkerbund   Mißverständnis, Mißver­" großen Vorteilen" eines Eintritts, nur dürfe das nicht eine neue Anerkennung der deutschen   Schuld am Kriege bedeuten und die Gleichberechtigung Deutschlands   müffe anerkannt werden.

Es ist also alles wieder in Butter.

Alles Gerede von einer Krise" ist total überflüssig. Man spreche von einer Krise wohl am meisten deshalb, weil man eine Krise wünsche, die vielleicht zur Reichstags= auflösung führen könne. Dies betrifft, wie es scheint, uns!

Darum sei in aller Ruhe gesagt: Wir freuen uns auf. richtig des Befehrungswunders, das sich über Nacht an Herrn Stresemann vollzogen hat. Aber die frisenhafte Zuspizung der Situation auf die Bosheit des Vorwärts" zurückzuführen, das heißt doch für die Betätigung der Phantasie feine Schran­ten mehr gelten lassen. Der Berliner   Vertrag war doch einmal. Die Deutschnationalen sollten doch in die Res gierung fommen, die Volkspartei, deren Führer Herr Streje mann ist, wollte doch mit allen Mitteln" dafür sorgen. Und Herr Mary sollte doch mit allen Mitteln" weg!

Denn die Krise ist da. Herr Stresemann hat sich gestern vor der Presse darauf berufen, daß seine Ansicht die Ansicht der Reichsregierung fei, daß der Reichskanzler Marg seine Anschauungen teilt, daß die Aktion in der Kriegsschuldständnis! Stresemann verschließt sich durchaus nicht den frage einem einstimmigen Beschluß des Reichsrats entspreche. Keine dieser Behauptungen läßt sich mit den Tatsachen in Eintlang bringen. Herr Stresemann hat nicht den Reichs­raf einmütig hinter sich. Am Mittwoch erklärte der Minister­präsident von Preußen, Otto Braun  , in Tilsit  , daß es die unglücklichste Wendung in der deutschen   Außenpolitik wäre, wenn Deutschland   jetzt die Notifizierung der deutschen   Erklä­rung gegen die Kriegsschuldlüge vornehmen wolle. Die Reichsregierung selbst wird zu der Frage der Noti fizierung und des Termins erst in einer tommenden Kabinetts­fihung Stellung nehmen. Die Germania  ", ein Organ der stärksten Regierungspartei, verweist den Außenminister heute morgen sehr deutlich darauf, daß im Zentrum die Auslassun­gen durchaus nicht einheitlich für Stresemanns Absichten sind: Man kan der Meinung sein, daß unter dem Eindruck der An­nahme der Dames- Gesetze der Boden günstig war für die Aufrollung der Kriegsschuldfrage. Inzwischen hat sich aber die internatio nale Lage sowohl durch die Genfer   Verhandlungen als auch durch die unglückliche innenpolitische Diskussion verändert. Die Regierung steht also vor einer neuen Situation und wird nun zu prüfen haben, ob es zwedmäßig ist, heute auszu­führen, was sie nach Annahme der Dawes- Geseze angekündigt hat. Die Regierung hat sich in ihrer amtlichen Berlautbarung auf teinen Zeitpunkt festgelegt. Wenn sie jeßt nach reiflicher Ueberlegung und im Bewußtsein ihrer Verantwortung zu dem Schluffe tommt, im Augenblid sei die Notifizierung untunlich und deshalb auf einen günstigeren Zeitpunft zu ver. tagen, wird sie kein Verständiger tadein können. Wir betonen, daß das unsere Meinung ist und weisen nochmals darauf hin, daß das Kabinett erst in der nächsten Woche endgültig Stellung nehmen wird. Aber wir wissen, daß diefe Meinung in weiten Kreisen in unserer. Partei geteilt wird und daß man es vor allem im Rheinland   vermieden wissen will, daß aus der Aufrollung der Kriegsschuldfrage neue Berwicklungen entstehen. Die Kölnische Bolkszeitung" hat sich offen dahin aus gesprochen, daß die Notifizierung zurzeit unterbleibe."

Jezt ist die Einigkeit wieder hergestellt. Es wird nicht notifiziert, wenigstens nicht gleich"-marum denn drängeln? Marg bleibt, Stresemann bleibt, die Deutschnationalen kriegen nichts, die Krise ist abgesagt.

Dieses Wunder hat sich binnen zwölf Stunden ereignet. Und nun heißt es aber abwarten, wie es nach weiteren zwölf Und nun heißt es aber abwarten, wie es nady weiteren zwölf Stunden sein wird!

mann. Er hat die Aktion von vornherein diskreditiert, er hat ihr die Würde genommen, die sie haben muß, er hat ihr die unbedingte innere Wahrhaftigkeit und Eindeutigkeit der Mo­tive geraubt, indem er sie zum Gegenstand eines unehrlichen Stimmenhandels machte. Auf ihm lastet die Verantwortung an der Krise dieser Altion, an der Verschlechterung der inter­nationalen Stellung Deutschlands   und an der inneren Krise,

die nun hereinbricht.

Was ist Absicht und Sinn dieser zweiten Aktion zur Bekämpfung der Kriegsschuldlüge, die nach der Unterzeichnung des Berliner   Pattes begonnen wurde? Innenpolitisch ist sie die Bezahlung für die Lieferung von 48 Jasagern durch die Deutschnationalen. Diese Leute brauchen eine Ablenkung und einen parteipolitischen Erfolg. Für sie ist die ganze Aktion innerpolitisches Geschäft. Ihre Presse hat den innerpolitischen Sinn der Erklärungen Stresemanns wohl verstanden. Sie be­nut sie, um erneut die Deutschnationalen als die Väter der Mache gegen den Reichskanzler Marg zu entfesseln. Die Aftion in Erinnerung zu bringen, zugleich aber auch, um eine

Herr Stresemann   hat sein Geschick mit seinen Erklärun­gen verknüpft. Er konnte sich festlegen, die Reichsregierung nicht. Es bestehen Meinungsverschiedenheiten in der Reichs regierung über die Frage, ob die Notifizierung opportun sei. Fällt die Entscheidung gegen ihn, so ist nicht abzusehen, wie Herr Stresemann nach Inhalt und Methode seiner Festlegung die außenpolitischen Geschäfte des Reiches weiterführen könnte. Bon vornherein muß die Berantwortung an der Aktion in der Kriegsschuldfrage und der daraus erwachsenden Krise festgestellt werden. Die Germania  " verweist auf Ber  : antwortung und Schuld der Deutschnationalen  . Sie be­zeichnet die Rolle der Deutschnationalen als schädlich und un- Kreuzzeitung" schreibt: ehrlich. Das ist sie gewiß, und nichts verantwortungsloseres als den deutschnationalen Bersuch, mit dieser deutschen   Frage ein deutschnationales Parteigeschäft zu machen. Daß sie es aber tonnten, ist Schuld des Reichsaußenministers. Die deutsche Aktion in der Kriegsschuldfrage, die vor der Londoner Kon­ferenz auf Grund einer Anregung des Reichsrats beschlossen wurde, ist etwas anderes, als die Aktion zur Erfüllung des Berliner   Bettes, den Herr Stresemann am 28. August mit den Deutschnationalen abgeschlossen hat. Diese Aktion des Herrn Stresemann ist nicht die geradlinige Fortsetzung der vom Reichsrat und Regierung beabsichtigten Aktion- fie ist Teil eines fchmählichen innerpolitischen Handelsgeschäftes. Die Vor­würfe, die über die Benuzung der Kriegsschuldfrage zu einem parteipolitischen Geschäft den Deutschnationalen gemacht mer­den, treffen ebenso scharf und wohlbegründet Herrn Strese

Sehr unglüdlich scheint uns aber der Reichskanzler persönlich operiert zu haben. Denn es stellt sich nun heraus, daß der wiederholt dementierte Brief des Kanzlers an Herriot   und Mac­denald nun doch Tatsache ist."

Die Deutsche Tageszeitung": Im übrigen verstärkt sich der Eindruck, daß der Brief des Reichskanzlers ein äußerst unglüdlicher Schritt war, durch den die Lage erst recht eigentlich verfahren worden ist." Nachdem die Kontrahenten des Paftes von Berlin   der deutschen   Aktion gegen die Kriegsschuldlüge den Boden der Eindeutigkeit der Motive und der inneren Wahrhaftigkeit unterwühlt haben, nachdem das Auswärtige Amt des Herrn Stresemann mit seinen falschen Ableugnungsverfuchen des Reichskanzlerbriefes eine Atmosphäre der Unwahrhaftigkeit ge­schaffen hat, soll die Schuld auf den Reichstanzler Mart ge

mälzt werden. Er soll bei der Krise als Opfer auf der Strede bleiben, damit die Bahn frei wird zum Bürgerblock.

Welche außenpolitischen Absichten werden aber mit der Aktion verfolgt? Denn bei aller innenpolitischen Ausnutzung dieser Aftion müssen sich sowohl Herr Stresemann als auch die Deutschnationalen darüber klar sein, daß diese Aktion die größten internationalen Rückwirkungen haben kann. Welche Wirkungen wollen sie, was ist das außenpolitische Ziel dieser Aktion? Hier steht das große Fragezeichen.

Der Reichsrat und die Reichsregierung wollten eine Aktion gegen die Kriegsschuldlüge, um eine moralische Reinia gung der internationalen Atmosphäre herbeizuführen. Sie wollten im Namen der Wahrheit und der historischen Ge­rechtigkeit eine internationale Lüge bekämpfen. Sie wollten der Welt verkünden, daß das deutsche   Volt nicht gesonnen ist, in der Geschichte als Urheber und Schuldiger am Weltfrieg fortzuleben. Die Deutschnationalen wollen eine Aftion gegen die Kriegsschuldlüge als Einleitung zur Berreißung des Ber­sailler Vertrages, als Demonstration des Willens zum Re­vanchefrieg. Die deutsche   Regierung will trotz des Kampfes gegen die Schuldlüge ihre vertragsmäßigen Berpflichtungen innehalten die Deutschnationalen wollen eine Erklärung gegen die Schuldlüge als Ankündigung des Bertragsbruchs. mit aller Schärfe kommt der Unterschied der Auffassung in zwei Pressestimmen zum Ausdrud. Die Beit", das Organ Stresemanns, schrieb gestern:

-

Man betont auf der Gegenfeite immer, daß mit dem Schuld­artikel der Versailler Bertrag stehe und falle. Eine folche Tragweite aber fann die beabsichtigte diplomatische Aktion der deutschen   Regierung natürlich gar nicht haben,

solange die Mächte an dem Bertrag, den sie uns aufgezwungen haben, ihrerseits festhalten. Es bleibt ihnen auch unbenommen, das zu be tenen, und sie werden es voraussichtlich auch tun."

Die deutschnationale Pommersche Tagespost" aber, die wir schon heute morgen zitierten, sagt:

Frei soll uns dieser Widerruf machen, die Retten sprengen, die unser Wolf zu zermalmen drohen und unseremt Baterland die primitivsten Bölkerrechte wieder bringen. Dazu gehört vor allem die Wiedervereinigung des deutschen  Boltes. Wer es nicht wagt, an dem Versailler Lügen. gebäude zu rütteln, der verrät unsere Westpreußen  , die Ober­ schlesier  , Schleswig- Holsteiner  , die Saarländer   und nicht zuletzt das deutsche   Elsaß  . Was uns an deutschem Land und Volk geraubt wurde, muß uns wiedergegeben werden. Nicht zu vergessen die deut­ schen   Kolonialländer, die unter der Mandatswirtschaft völligem Ver­fall entgegenschreiten, während sie Deutschland   bitter not tun! Auch Sie wurden uns ja nur durch Lüge und Heuchelei entriffen." Deutschnationalen den Paft von Berlin   vom 28. Auguſt ge­

Was ist nun richtig? Herr Stresemann hat mit den schlossen, den er nun zu erfüllen trachtet. Teil dieses Battes ist seine Aktion gegen die Schuldlüge. Haben die Kontra­henten des Battes auch über die Frage gesprochen, wie fie ihn auffaffen? Wenn man einen Baft schließt ,, um gemeinsam dasselbe zu tun, pflegt man sich für gewöhnlich darüber zu verständigen, was man tun will. Was soll denn nun der Sinn der Attion sein? Moralische Reini­gung der internationalen Atmosphäre oder über darf man wohl ergebenst um Aufklärung bitten. 3erreißung des Versailler Vertrages? Dar­

Diese Divergenz aber ist die allgemeine zwischen der bis­herigen deutschen   Außenpolitik und den Absichten der Deutsch­ nationalen  . Herr Stresemann hat die Krise gemacht, um die Deutschnationalen in die Regierung zu bringen. Er will, daß sie sich zu der bisherigen Außenpolitik bekennen. Er läßt in der Zeit" schreiben:

,, Es ist von vornherein selbstverständlich, daß man nur mit einer

Partei und einer Fraktion verhandeln kann, die einheitlich auf­tritt. Die Deutschnationalen haben bei ihrer Abstimmung im Reichs­ihnen haben mit ja, zweiundfünfzig mit nein gestimmt, und einige tag eine solche Einheitlichkeit vermissen laffen. Achtundvierzig von zwanzig haben sich sogar dem deutschvölkischen Mißtrauensvotum gegen die Regierung angeschlossen. An die Stelle diefer inneren Gegenfäße muß eine geschlossene Auffaffung treten, wexx die Deutschnationalen die nötige Eignung für die Teilnahme an der Regierung gewinnen wollen. Und diese Geschlossenheit muß sich selbstverständlich nach der Richtung ent wideln, die die deutschnationalen 3astimmer im Reichstage gewiesen haben". ,, Wenn jetzt auch deutschnationale Abgeordnete, die mit Ja gestimmt haben, den Kampf gegen das von ihnen angenommene Gesetz und damit gegen das ganze Gutachten proklamieren, so verwirken sie damit ein Recht, das fie durch ihre Abstimmung im Reichstag erworben zu haben glaubten. Es ist gar kein anderer Weg denkbar, als daß die Deutschnationalen mit ihrem etwaigen Eintritt in die Regierung auch die Aus­führung des Gutachtens als Grundlage der fünf­tigen Regierungspolitit anerkennen."

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