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Abendausgabe

Str. 473 41. Jahrgang Ausgabe B Nr. 237

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Vorwärts

Berliner Volksblatt

5 Goldpfennig

Dienstag

7. Oktober 1924

Berlag und Angefgenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 2506-250%

Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands

Die Regierungskrise.

Wird Ludendorff Minister?

Die Richtlinien für ein Regierungsprogramm, die der| eine größere Berechtigung hätte, die nationalsozialistische Freiheits­Reichstanzler ausgearbeitet hat, find bisher nicht befannt- partei mit in diese große Volksgemeinschaft aufzunehmen als die gegeben worden. Auch die Fraktionen, die morgen tagen flaffenfämpferische Sozialdemokratie. follen, find noch ohne Kenntnis von ihnen. Es läßt sich aber

jetzt schon voraussehen, daß fie recht allgemein gehalten sein werden, und daß sich Wünsche auf ihre Präzisierung und Er­weiterung geltend machen werden. Schließlich aber fäme es darauf an, in welchem Geist sie zur Ausführung gelangen werden, entstünde die Frage, ob man zu der Regierung in der geplanten Zusammensetzung das Vertrauen haben könnte, daß fie mit ihren Bersprechungen ernst machen würde. Es ist ein langer Weg...

Mit einem neuen Vorschlag hat die Kreuzzeitung " auf­zuwarten. Sie schreibt:

Als fein Ziel hat Dr. Marg die große Voltsgemeinschaft bezeichnet. Aller Voraussicht nach wird dieser Gedanke in den Richtlinien des Kanglers wiederkehren. Wir verstehen unter einer wahren Bolksgemeinschaft eine hriftlich nationale Gefinnungs­gemeinschaft gegen jedweden Klassenkampf, wie ihn die Sozial bemokratie nach wie vor propagiert. Wenn nun Dr. Marg trok alledem die Sozialdemokratie in die von ihm in Aussicht genommene Boltsgemeinschaft einbeziehen will, so möchten wir demgegenüber doch die Frage aufwerfen, ob es nicht schon mit Rücksicht auf die bei den Wahlen am 4. Mai zutage getretene Boltsstimmung

Vor Neuwahlenin England. Kampfbereitschaft der Arbeiterpartei. Condon, 7. Oftober.( WTB.) Die heutige Morgenpresse erwartet mit Bestimmtheit für morgen den Sturz der Regierung und darauffolgende Neuwahlen. Daily Telegraph " zufolge be­deutet der gestern gefaßte Beschluß des Kabinetts, daß die Regierung bei der morgigen Unterhausdebatte über den Campbell- Fall eine Niederlage erleiden wolle. Times" schreibt, das Kabinett habe geffern einen folgenschweren Beschluß gefaßt, nach dem fofortige Neuwahlen unvermeidlich seien, es sei denn, daß die Liberalen den von ihnen im Campbell- Fall eingenommenen Stand­punkt vollkommen aufgeben. Es verlautete jedoch gestern von unter­richteter Seite, daß der liberale Antrag unter feinen Umständen zurüdgezogen werden würde. Macdonalds Rede auf der heute vormittag stattfindenden Arbeiterparteikonferenz werde zweifellos als eine offizielle Eröffnung des Wahlfeldzuges anzusehen sein. Daily Herald" schreibt: Die Arbeiterpartei wird fämpfen. Dies ist der Sinn des Kabinettsbeschluffes, der einstimmige und begeisterte Unterstützung der Arbeiterbewegung findet.

Die französische Völkerbundantwort. Paris , 7. Oftober.( WTB) Zu der franzöfifchen Note über den Eintritt Deutschlands in den Bölkerbund schreibt Journal", Herriot erfläre, er zögere nicht, festzustellen, daß, wenn Deutschland in den Bölkerbund eintrete, es sofort den Rang einer Großmacht cinnehmen werde. Das wolle zum mindesten befagen, Frankreich werden sich nicht widersetzen, daß Deutschland im Bölkerbundsrat einen ständigen Siz erhalte, und das fönne sogar bedeuten, daß Deutschland auch an den Kolonialmandaten teilnehmen werde.

,, Deuvre" schreibt, die französische Regierung hätte Deutschland an die Vollversammlung des Bölferbundes verweisen können, das wäre unhöflich und ungeschickt gewesen. Frankreich habe es vor­gezogen, Deutschland die Versicherung zu geben, daß es glücklich wäre, wenn Deutschland in den Völkerbund eintreten werde, und daß es angesichts der Bedeutung des deutschen Staates sich nicht seiner ftändigen Bertretung im Bölkerbundsrat widersetzen werde. Die französische Regierung habe die Genugtuung gehabt, daß ihre These von England und Belgien geteilt werde; die Antworten, die aus Lendon und Brüssel an Berlin gehen werden, seien von dem gleichen Geifte eingegeben.

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Beuple" fagt, nunmehr habe die deutsche Regie rung das Wort. 3war hätte eine Genfer Depesche schon eine außerordentliche Seffion des Bölterbundes im Dezember angekündigt, aber das scheine eine etwas verfrühte Nachricht zu sein, denn augen blidlich hänge alles von der Lösung der innerpolitischen Arisis in Deutschland , ab.

Die deutsch - französischen Verhandlungen. Paris , 7. Oktober. ( Eigener Drahtbericht.) In den deutsch­französischen Handelsvertragsverhandlungen entwidelte am Montag der Direktor der Handelsabteilung des Auswärtigen Amtes Ger : runs den französischen Standpunkt und sehte auseinander, daß das deutsche und das französische System fich gegenseitig wider sprächen. Er fügte hinzu, daß Frankreich die Meist begün­ftigungstlaufel nur für gewiffe Erzeugnisse ge­währen könnte und nur auf der Grundlage einer tatsächlichen Gleich­beredtigung.

Die Revolte der Kardinale.

Paris , 7. Oftober.( Eigener Drahtbericht.) Der Erzbischof von Bordeaux , Kardinal Andrieu, hat in einem Schreiben an die Bresse cinc cußerordentlich scharfe Erwiderung auf die Antwort Herrists an die Kardinäle veröffentlicht, in dem er u. a. sagt, daß er nach wie vor auf dem Standpunkt stehe, daß die Laiengeseh­gebung als nicht vorhanden angesehen werden müsse, Beil sie ver­faffungswidrig sei.

Damit ist zwar noch nicht die neue Regierung fertig, ficher aber die neue kommunistische Parole für morgen:" Der Block von Ludendorff bis Crispien." Indessen, wenn die Kreuz­ zeitung ", demokratisch, wie sie nun einmal ist, auf die" Bolks ftimmung" so zärtlich Rücksicht nimmt, wäre es da nicht beffer, bevor man Ludendorff , Hergt und Tirpitz zu Ministern macht, die Boltsstimmung noch einmal zu ergründen?

Heute nachmittag Uebermittlung der Richtlinien.

Wie die Tll. erfährt, werden die vom Reichskanzler aus gearbeiteten Richtlinien den Parteiführern am heutigen Dienstagnachmittag zugestellt. Die demokratische Fraktion hat ihre für heute angefagte Sigung auf morgen verschoben. Das 3entrum wird Mittwoch vormittag um 10 Uhr zusammentreten, die Sigung der Demokraten be­ginnt um 11 Uhr, die der Sozialdemokraten um 2 Uhr, der Deutschen Boltspartei um 4 Uhr und die der Deutschnationalen um 5 Uhr. Den Beratungen der Fraktio­nen werden die neuen Richtlinien" des Reichskanzlers zu Grunde gelegt.

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Die Oppositionsbewegung in Italien . Die Liberalen gegen Mussolini .

Rom , 7. Oftober.( TU.) Geffern hielt der Kongreß der libe­ralen Partei Italiens feine letzte Sihung ab. Eine Tagesordnung Ricci für ein Zusammenarbeiten mit der Regierung wurde mit 23 000 gegen 10 880 Stimmen abgelehnt. Demgegenüber hat der kongreß eine Tagesordnung angenommen, in der gefordert wird: 1. Der Staat muß der Parteiherrschaft entzogen werden. 2. Die Trennung der Gewalten muß rüdjichtslos respektiert werden. 3. Die einzige legitime Grundlage der Regierung ist der in fon­ftitutioneller Form zum Ausdrud gebrachte Wille des Voltes. 4. Die Verfügung über die nationale Armee bleibt ausschließlich dem Staate vorbehalten. Die Arme darf nicht den Charakter einer Parteifruppe annehmen. 5. Die lotalen Jnftitutionen bleiben, den von den Bür­gern gewählten Verwaltungskörpern vorbehalten.

Sozialistenverfolgungen in Ungarn .

Auflösung zahlreicher Versammlungen. Budapest , 7. Oftober.( Tul.) Die Sozialdemokraten veranstal­teten am Sonntag zahlreiche Versammlungen, von denen die meisten

polizeilich aufgelöst wurden. In Budajog wollte der sozial demokratische Abgeordnete Rosenstein zu den deutschen Wählern in deutscher Sprache sprechen, aber der anwesende Bolizeibeamte er­laubte dies nicht. Unter den Deutschen herrschte über dieses Ein­greifen des Belizeibeamten große Empörung. Darauf sprach der Abgeordnete Emmerich ungarisch über die Tätigkeit der sozial­demokratischen Abgeordneten im Parlament.

Die Tragödie Georgiens . Fortdauer der Kämpfe.

London , 7. Oktober. ( TU.) Daily Telegraph " erfährt aus Trapezunt, daß die Kämpfe in Georgien mit Erbitterung fortgesetzt werden. Eine Abteilung Aufständischer nahm in den Bergen der Broving Svanethien 500 Mann der Sowjettruppen gefangen und erbeutete viele Maschinengewehre und mehrere Batterien. Die Stadt Dzurgethy wurde von den Georgiern eingenommen. 3 weihun dert Geiseln, die von den Bolschewisten mitgeschleppt wurden, fonnten befreit werden. Georgische Streitkräfte von etwa 3000 Mann, die erneut Berstärkungen erhalten, treiben die Sowjet­truppen aus den Bergen von Mingrelien und stehen vor der Festung Boti. Die Transportzüge der Strecke Batum- Tiflis wurden von den Aufständischen zu wiederholten Malen erbeutet, wobei ihnen piel Waffenmaterial in die Hände fiel. Die großen Röhrenleitungen für Petroleum find an mehreren Stellen durch Sprengungen zerstört.

Die Sowjetregierung hat alle Schiffe beschlagnahmen laffen, um möglichst schnell Truppen nach Georgien zu werfen, da der Truppentransport auf der Saukasusbahn zu unsicher ist. Mehr als 100 000 Mann Sowjettruppen follen feit Beginn des Aufstandes nach dem Kaufafus entsandt worden sein. Die Ein­ziehung der Naturalabgaben und die Requisitionen von Getreide durch die Bolschewisten stoßen auf den heftigsten Widerstand der Landbevölkerung.

Die oftchinesische Bahn in Sowjetbesih.

Der Preis für die Unterstützung Tschangfolins. Paris , 7. Oftober.( TU.) Nach einer Meldung der United Preß" aus Moskau ist die gesamte Verwaltung der chinesischen Oft­bahnen fraft des am 20. September zwischen Tschangfolin und der Sowjetregierung getroffenen Abkommens am Sonnabend in die Hände der Sowjetregierung übergegangen. Der bisherige Aufsichts­rat der Eisenbahngesellschaft ist verhaftet worden. Zum Direttor haben die Sowjets den Eijenbahningenieur Joanoff ernannt.

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Englands innere Krise.

( Bon unserem Londoner Korrespondenten.)

London , Anfang Oktober. Als das englische Barlament im Juli auf Urlaub ging, war für Anfang Oktober nur eine furze, ausschließlich Irland gewidmete Seffion geplant; nach Erledigung der irischen Ge­fetzgebung sollte das Unterhaus wieder auf Ürlaub gehen, um Ende Oktober die Winterarbeit wieder aufzunehmen. Nun aber ist die Krise mitten in die irische Gesetzgebungsarbeit hin­eingeplatzt. Die Situation ist parlamentarisch ausweglos ge­worden, und es fragt sich heute nicht mehr, ob sich das Land fehen würde oder nicht, sondern lediglich, ob die Entscheidung im Laufe des Herbstes oder Winters vor Neuwahlen gestellt über das Schicksal der Regierung am Mittwoch oder erst in fünf Wochen fallen wird, ob Neuwahlen für Anfang November oder Anfang Dezember zu erwarten sind. Die Krise ist da, ein Zurüd unmöglich.

Wie fam's? Seit dem Ende der Sommersession sah es innerpolitisch von Woche zu Woche anders aus. Zuerst schien ein Sturz der Regierung über den russischen Frieden gewiß. Doch die Erregung ließ wieder nach, die City hatte den Parteien deutlich zu verstehen gegeben, daß im Interesse einer wirtschaftlichen Besserung Neuwahlen höchst unerwünscht seien. Der ruffische Vertrag erschien plöglich als das fleinere Uebel. Dann kam das Fortissimo der Lloyd- Georges- Posaune, das bedächtige Forte des Briefes von Asquith . Die Entscheidung schien gefallen. Am letzten September- Sonntag änderte sich die Situation wieder, als Macdonald in seiner Derby- Rede den Forderungen Asquiths weit entgegenkam und den Libe ralen jene goldene Brücke baute, die sie allgemein zu wünschen schienen. Die Presse der Liberalen blies denn auch zum Rück­zug. Doch schon am Mittwoch brach aus dem aufgeheiterten Wandelhalle des Unterhauses und die Fraktionszimmer der politischen Himmel der Sturm los, der am Donnerstag die Parteien in eine geradezu unenglische, reichstagsähn­liche Nervosität versetzte. Als sich am Donnerstag das Unterhaus vertagte, war die Nervosität verflogen, aber die Krise geblieben.

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hatten am Mittwoch Fraktionssigungen abgehalten. Die Libe Was war geschehen? Die Liberalen und Konservativen Form, d. h. mit der Regierungsgarantie für die an Rußland ralen beschlossen, den englisch - russischen Frieden in der heutigen fich die Konservativen, eine Art von Mißtrauensantrag zu gewährende Anleihe, abzulehnen. Gleichzeitig einigten " a vote of censure" im Unterhaus einzureichen: das Ver­halten der Regierung Seiner Majestät in Sachen Einleitung und späterer Zurückziehung der Strafverfolgung gegen den verantwortlichen Redakteur des( fommunistischen) Workers Weekly"( Arbeiter- Wochenblatt) erfordere eine Rüge dieses Hauses. Auch die Liberalen einigten sich am selben Abend Botum" der Konservativen zuzustimmen. über den Fall Campbell- Hastings dahin, einem ,, vernünftigen

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den schwerwiegenden außen- und innerpolitischen Fragen, Diefer Fall Campbell- Hastings ist, gemessen an denen sich die Regierung Tag für Tag gegenübersicht, eine Lappalie, über die man unter anderen Umständen zur Tages­politische Zeitung der Kommunisten, ein Wochenblatt mit einer ordnung übergegangen wäre. Workers Weekly", die einzige politische Zeitung der Kommunisten, ein Wochenblatt mit einer Auflageziffer von höchstens 40 000 Eremplaren, hatte einen jener typischen kommunistischen Aufrufe an die britische Wehr macht gebracht, in denen die Soldaten aufgefordert werden, fich weder zu imperialistischen Kriegen, noch bei Streifs gegen die Klassengenossen mißbrauchen zu lassen, sondern die Ar­beiterschaft bei ihrem Endkampf gegen den Kapitalismus zu unterstützen. Dieser Aufruf hatte zur Einleitung einer Straf­verfolgung gegen den verantwortlichen Redakteur Campbell geführt, wobei sich aber herausstellte, daß dieser nur ein vor­geschobener Strohmann, daß aber den englischen Kommunisten dieser Fall als Gelegenheit, endlich zu einem Märtyrer zu kommen, höchst willkommen war.

Sir Patrick Hastings , der Generalstaatsanwalt, einer der hervorragendsten englischen Juristen der jüngeren Gene­ration übrigens im Range eines Ministers, entschloß sich schließlich aus juristischen, aber auch aus staatspolitischen Er­wägungen zur Einstellung des Prozesses. Dieser Borgang ist feinerzeit ohne viel Aufsehens von der englischen Deffentlichkeit zur Kenntnis genommen worden. Heute wird er plöglich als ein unerhörter Eingriff in die britische Justiz hoheit von den bürgerlichen Parteien maßlos aufgebauscht.

Als am Donnerstag flar wurde, daß eine Unterſtügung der konservativen Mißtrauensformel durch die Liberalen zu einer sofortigen Regierungsfrise innerhalb weniger Tage führen müßte, da entschloffen sich die Liberalen, die fonservative Formel nicht als vernünftig" anzusehen und befchloffen lediglich, im Unterhaus eine parlamentarische Untersuchungskommission über den Fall Campbell zu bean­

tragen.

Für die weitere Abwickelung der Krise ergeben sich nunmehr folgende Möglichkeiten: Es bleibt zunächst unge wiß, ob der allmächtige Speaker( Präsident) die Einbrin gung dieses liberalen Antrags überhaupt gestatten wird. Läßt er es nicht zu, so entsteht die Frage: Werden die Libe= ralen, und in welchem Ausmaß, für den konservativen Miß­trauensantrag stimmen? Läßt er es aber zu: werden dann die Konservativen für den liberalen Antrag auf Einsetzung einer Kommission stimmen? Stimmen aber die Konserva­tiven für den zugelassenen Antrag der Liberalen auf Ein­fegung einer solchen Kommission, so ergibt sich die Frage, ob die Regierung den liberalen Antrag als einen Mißtrauens­