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1. Beilage ües vorwärts
Ireitag, 17. Oktober 1924
Um öle Straßenbahn. Verkehrsdebatte im Stadtparlament.
Die Stadtverordnetenversammlung verwandte noch den größten Teil ihrer gestrigen Sitzung auf die in der vorigen Sitzung begonnene Erörterung der Berk« hrszu stände Ber- lins, im besondere r der Straßenbahnunfälle, deren auf- fällige Häufung in den letzten Monaten die Bevölkerung so sehr beunruhigt hc-t. Was die Stadträte Adler und Schüning in Beantwortung der an den Magistrat gerichteten Anfragen ausführ- ten, befriedigte die Stadtverordneten nicht. Für die soziaidemokratische Fraktion betonte Genosse Reuter, daß die Straßenbahn-G. m. b. H., in die das Unternehmen umgewandelt worden ist, in f ozi o- ler Hinsicht doch nicht ihre Pflicht getan hat. Die Be- Handlung von Straßenbahnangestellten, die viele Jahre und Jahrzehnte im Dienst« der Stadt gestanden haben, sei unvereinbar mit der Würde und dem Ansehen Berlins und das diesen Leuten widerfahren« Unrecht müsse wie- der gutgemocht werden. Unser Redner wies darauf hin, wie richtig die Auffassung der Fraktion gewesen ist, daß bei einer Aenderung der wirtschaftlichen Berhältniss« auch dos Slraßenbahnuntemehmen wieder gesunden werde. In schwieriger Zeit habe die Stadt aus- geHallen und so sei es gelungen, ihr den Besitz der Straßen- bahn zu sichern. * Der Vorsteher Genosse haß eröffnete die gestrige Sitzung um SV* Uhr mit dem Ausdruck der Freud « über die glückliche Ozeonfahrt und Landung des Z. R. 3 in Amerika . Magistrat und Versammlungsvorstand haben einen Glückwunsch- funkspruch smch Friedrichshofen gerichtet. Im Gegensatz zur Haltung ihrer Fraktionsgcnossen im Landtage begnügten sich die Kommunisten im Rathause mit einigen höhnischen Zwischenrufen. Vorwegzenoimnen wurde die Dringlichkeitsvorlage des wdagistrats, durchs welche die Unter st ützungsrichtsätze für die laufend Unterstützten, für die Sozial- und Kleinrentner insofern «ine Erhöhung erfahren sollen, daß sieben Achtel(statt bisher drei Viertel) des Dreißigfachen des amtlichen Lebenshaltungsindex vom 1. Oktober d. SJ- ab zugrunde gelegt werden. Di« Vorlage kam ohne wesentlich« Erörterung zur Annahme. Die von uns schon mitgeteilte Anfrag« unserer Genossen zu dem Revirement Helmte-Bcneck« ging an den Magistrat. Dbe Vorlage wegen Erhöhung der Löhne der städtischen Arbeiter und Arbeiterinnen ab 25. Mai 1924 und wegen Lohnregelung derselben ab 1. bzw. 27. Juli 1924 wurden mit einer von Stolt(Komm.) beantragten Erweiterung zugunsten der ständigen Angestellten und des in Krankenanstalten beschäftigten Personals angenommen: auf der Rechten fand man an dieser Erweiterung aber keinen Geschmack, und als es nicht gelang, das Vorhandensein einer Mehrheit dafür in Zweifel zu ziehen, beantragte Dr. Caspar!(D. Dp.) eine dritte Lesung, die in der nächsten Woche erfolgen wird.— Zur Beschaffung von Brennstoffen für Sozialrentner usw. wurden 738 990 M. bewilligt. Sodann setzte die Versammlung die vor 8 Tagen begonnene Er- örterung der Anfragen und Anträge über die Berliner Verkehrsverhältnisse und die Unfälle im Betriebe der Straffenbahn fort. Stadtbaurat Adler gab zunächst eine Reih« statistischer Ziffern über die Zunahme des"Verkehrs und der Verkehrsunfälle. Er stellt« dann fest, daß auch die Fahrgeschwindigkeit gesteigert worden ist und daß die Straßenpflasterungen und unterirdischen Leitung?- anlagen ebenfalls die Sicherheit des Fährverkehrs beeinträchtigen. Di« Bremsen seien bei allen vorgekommenen Unfällen und Zu- scunmenstößen in Ordnung gewesen. Ob die Luftdruckbremse oder die elektrische Bremse den Vorzug verdien«, sei ständig untersucht worden: es habe sich ergeben, daß im Notfalle bei der Luftdruckbremse die Entgleisungsgefahr größer ist. Auch wirtschaftlich sei die elektrische Brems« der Luftdruckbremse bei weitem überlegen. In fast allen deutschen und aiisländischen Großstädten, selbst in Moskau , fei man zur elektrischen Bremse übergegangen. Di« Polizei werde in aller- nächster Zeit
eine neue Verkehrsregelung durch Verfügung einführen, welche die Straßen Berlins in Verkehrs- straßen erster und zweiter Ordnung einteilen und spezielle Vorschriften für den Verkehr der Autos, Pferdefuhrwerk« usw. in beiden Katego- rien enthalten wird. Notwendig sei gegenüber der starken Zu- nahm« des Gesomtverkehrs sowohl eine stärkere Selbstdisziplin des Publikums wie auch eine beträchtliche Vermehrung des Fuhrparks bei sämtlichen Verkehrsunternehmungen. Hochbahn , Straßenbahn, Omnibusgesellschast hätten auch bereits namhafte Bestellungen ans Wagen usw. gemacht, um den Betrieb zu verstärken bzw. neue Linien auszustatten. Das wichtig st e Verkehrs- mittel für Berlin bleibe die Untergrundbahn; neue Schnellbahnen feien ja auch im Bau oder geplant. Di« jetzt unren- table Stadtbahn würde durch Elektrisierung rentabel ge- macht werden können. Doneben sei jedoch die Straßenbahn für Berlin unentbehrlich und dem Omnibus überlegen, wenn sie auch, weil an die Schiene gebunden, für den Gesamtverkehr in gewissem Sinne ein verkchrshemmendes Moment bilde. Ein« Reihe neuer Straßenbahnlinien in den Außenbezirken Hobe eine starke Hebung und Belebung des Verkehrs zur Folge gehabt. Der Abbau der Pferdedroschken schreite stetig fort: sie würde bald ganz aus dem Bilde Groß-Berlins verschwunden sein. Stadtrat Genosse Schüning äußert« sich u. a. über die Frage der Arbeitszeit der Straßenbahner. Cr gab zu. daß in der Kriegs- und Nachkriegszeit deren Lohn- und Arbeitsverhältnisse sich verschlech- tert hätten: man habe von Stadt wegen, wollte man den Betrieb überhaupt fortsetzen, an den Löhnen und an der Arbeitszeit nicht vorübergehen können. Aber in letzter Zeit seien die Löhn« verbessert worden. Alle nach beiden Richtungen getroffenen Maßnahmen seien im Einvernehmen mit den Gewerkschaften erfolgt. Der Redner legte ein Exemplar der heule geltenden Lohnsätze auf den Tisch des Hauses nieder. Daß die Straßenbohn-B«tri«bs°G. m. b. H.«in« reaktionäre Institution sei, bestritt er auf das Entschiedenst«: sie könne ihre Lohn- und Sozialpolitik durchaus oerantworten.(Widerspruch bei den Kom- munisten und auch auf der Zuhörcrtribüne.) Schwarz(D. Bp.) er- wartete von der Vermehrung des Wagenparks der Verkehrsbetriebe «in« erhebliche Verbesserung der gegenwärtigen Mißstände. Müller- Franken(Wirtsch.-Partei) zog in seiner sonst sehr berechtigten Kritik der heutigen Unzulänglichkeiten in der Regelung des heutigen wclt- städtischen Berliner Verkehrs auch gegen den ambulanten Straßen- Handel zu Felde. Im Aufsichtsrat der Strahenbahn-Betriebs-G. m. h. H. sei durchaus nicht olles in Ordnung; dort liege ein Teil der Schuld an der heutigen Misere, indem man das alt«,«inge- arbeit et« Personal, das 89, 25 Jahr« und länger im Dienst gestanden, einfach um sein« Rechte ge- bracht und entlassen habe.(Stürmische Zustimmung bei"den Sozialdemokraten und Kmnmunisten und aus der Tribüne.) Dr. Michaelis(Dem.) nahm den Aufüchtsrat und die Straßenbahn- Verwaltung gegen die Angriffe des Vorredners in Schutz. Genosse Renler: In weiten Kreisen, nicht nur bei unseren Genossen, besteht trotz der Ausführungen des Stadtrats Schüning die Auffassung, daß der Aufsichlsrat seinen Verpflichtungen gegen das Personal nicht gerecht geworden ist. Vor allem ist mit dem älteren Personal in einer Weise verfahren worden, die sich mit der Ehr« und Würde eines solchen großen städtischen Betriebes nicht verträgt.(Lebhafter Beifall.) Auch die jetzigen Lohnsätze sind noch nicht befriedigend. Daß es unseren Be- ftrebungen gelang, bei der Gründung der G. m. b. H. den Besitz der Straßenbahn für die Stadt an erhalten, kann uns nur mit Genug- tuung erfüllen. Wir haben seinerzeit unsere Zustimmung zur Grün- dung der G. m. b. H. nur gegeben unter der Bedingung, daß die Angestelltenschaft in befriedigender Weise sichergestelll würde; und die Erregung darüber, daß es damit nicht zum Besten steht, ist durch- aus verständlich. Aus der jetzigen Misere kommen wir nur heraus, weim wir das Vorhandene möglick'" auszubauen versuchen. Erfreu- lichcrweis« hat der Oberbürgermeister die Pflicht der Gemeinde, in dieser Richtung alles aufzubieten, noch jüngst sehr scharf betont. Berlin hat ja denn auch in den letzten Jahren sein« Pflicht, die Ber» kehrswege auszubauen, getan, während die AEG. wahrscheinlich sehr froh wäre, von ihren Projekten von 1919 wieder loszukommen. Berlin muß und wird
die ganze gewallige Verkehrsfrage sowohl organisatorisch wie praktisch mit aller Energie in den nächsten Jahren in Angriff nehmen. In der Sttaßenbahnverwaltung wird offenbar etwas gar zu selbst- herrlich verfahren: das Verkehrswesen ist einzig und allein auf Kosten der Knochen der Angestellten und Arbeiter verbessert worden. (Zustimmung und Widerspruch.) Gewiß bestand eine Zwangslage, aber mit der Inflation läßt sich bei weitem nicht alles entschuldigen. was da Unschönes geschehen ist.(Lebhafter Beifall.) Stolt(Komm.): Zur Regelung des Verkehrswirrwarrs gehört auch die B e f e i t i- gung der schamlosen Ausbeutung des Personals der Autobusse. Die Umstellung des städtischen Straßenbahnbetriebes auf die Betriebs-G. m. b. H. geschah ja doch nur, um das Personal zu einem großen Teil auf die Straße werfen zu können. Gegen die Behauptung, daß die Arbeitszeit und die Löhne mit Zu- stimmung der Gewerkschastsorganisationen normiert worden sind, muß entschiedenste Verwahrung eingelegt werden. Lange(Z.) er- blickt« ein« Hauptursache des jetzigen Mißstandes in der Verkürzung der Fahrzeit in einem Moment, wo die Fahrer ohnehin die Fahrzeit nicht einhalten konnten. Ein weiterer schwerer Fehler sei mit der verkehrten Personalpolilik der G. m. b. H. begangen worden. Nicht 9 Stunden, wie Stadtrat Schüning behaupte, sondern 11 Stunden und mehr dauere die Arbeitszeit der Straßenbahner. Den schwergeschädigten Altpensionären müsseendlich Gerecht i,gkeit wider. fahren. Ein Skandal sei die Behandlung der Festangestellten, die einfach entlassen wurden, wenn sie nicht binnen 3 Tagen auf ihre Rechte verzichteten! Die Gründung einer besonderen Gesellschaft für die Krünau-Schmöckwitzer Uferbahn sei anscheinend der Vorläufer des Bestrebens, die Straßenbahn von der Stadt Berlin loszube- kommen. Dem müsse ein Riegel vorgeschoben werden. Der Auf- stchtsrat der G. m. b. H. habe hier gegen das Statut verstoßen. Es müsse jetzt nachgeprüft werden, ob nicht die G. m. b. H. wieder zu verschwinden habe und Berlin die Straßenbahn als städtischen Betrieb wie früher weiter führe.(Lebhafter Beifall.) Nachdem Richard Kunze (Deutschsozial) gesprochen hatte, schloß die Beratung. Im Schlußwort für den Antrag der Deuffchnationalen ließ sich koch dahin vernehmen, daß man mit der G. m. b. H. nicht nach einem Jahre schon wieder experimentieren könne. Di« Abstimmung wird erst in der nächsten Sitzung vorgenommen werden. Die übrigen Beratungsgegenstände wurden vertagt. Schluß noch 9 Uhr. Die Kundgebungen der Zrauen. Die letzten Frauenversammlungen in den einzelnen Stadtteilen fanden am gestrigen Donnerstag statt, und zwar in den Arminius - fälen, im Lyzeum Greifswalder Straße und in der Hohenzollern- schul« Belziger Straße, sowie in Lichtenberg , Biesdorf , Weißens« und Pankow . Die Genossinnen Marie kunert, Minna Todenhagen . Klara Vohm-Schuch, Anna Geyer, Gertrud Hanna . Luise Köhler und Lisbeth Riedger referierten. Gesänge, ernste Rezitationen und Dar- bietungen der Arbeiterjugend verliehen auch diesmal den stark be- suchten Kundgebungen ein« feierliche Rote. Man erkennt in diesen V«rfammlungen, daß die Politik sich im Leben der Frau einen Platz erobert hat. Die große Tat der Sozialdemokratischen Partei, für das Frauenwahlrecht eingetreten zu sein, beginnt langsam ihre Früchte zu tragen. Die Frau aus dem Volke weiß zu gut, daß sie allein zu schwach ist, den Kamps aufzunehmen. Sie weiß, daß sich in der Partei die Kräfte sammeln, die auf ihre Befreiung hinarbeiten. Aus dieser'festen innere» Ueberzeugung heraus stehen die denkenden Frauen geschlossen hinter der für sie einzig in Frage kommenden Sozialdemokiotischen Partei, deren Werbewoche daher auch ein- drucksvoll und würdig oerlaufen mußt«. In den letzten Versammlungen führten unsere Genossinnen etwa folgendes aus: Biele Wähler und Wählerinnen haben bei der letzten Reichstagswahl nicht mit dem Verstand, sondern nach dem Gefühl gewählt. Die Sozialdemokratie, die stets und allein für ein Frauen- Wahlrecht eingetreten war, erntete im Mai noch nicht den Dank der Frauen. Sic liefen den bürgerlichen Parteien nach. Völlig unocr- ständlich ist es, wie Frauen z. B. die Nationalsozialistische Partei wählen konnten, nachdem diese Partei es abgelehnt hatte, Frauen als Kandidaten auszustellen. Trotzdem ist auch in diesem Reichstag einiges für die Frauen erreicht worden. Aber die Frau wäre schlecht beraten, die alles Heil von den Parlamenten erwartet. Den Kampf für die E r- Weiterung der sozialistischen Einrichtungen und Gesetze zu unterstützen, ist dringende Pflicht der Frauen. Die Er-
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Zum zwanzigsten Male ging Bertram Pollard an die Tür seines kleinen Studierzimmers und horchte. Außer dem langsamen Ticken einer großväterlichen Uhr, die am anderen Ende des engen Treppcnflures stand, und seinem eigenen Atmen, das ihm so laut wie noch niemals schien, war nichts zu hören. Die Stille seines in der Holland Street in Kensington gelegenen Hauses war ihm fürchterlich. Und doch, sie war besser als die hastigen Schritte des Arztes oder das Rascheln des gestärkten Kleides der Pflegerin und des seltsamen, nicht beschreibbaren Geräusches, als ob oben ein schwerer Gegen- stand über den Fußboden geschleift würde. Wasser war aus- gegossen worden, ein Glas war heruntergefallen und zer- brachen und hundert andere Geräusche hatten ihn, der nur an seine Frau und die Schmerzen, in denen sie lag, denken konnte, entsetzlich gemartert. Ein- oder zweimal hatte er ihr Stöhnen gehört und war dann in seine Stube zurückgekehrt, hatte die Tür geschlossen und„o Gott " vor sich hingestöhnt. Nichts weiter als diese zwei Silben, aber die immer und immer wieder. In seinen engen vier ZPänden, zwölf zu vierzehn Schritt, wie er von Fußleiste zu Fußleiste unzählige Male zur Beruhi- gung seiner gequälten Nerven gemessen hatte, betete und fluchte er, ja er hatte sogar geweint. Er war unaufhörlich aus- und abgeschritten, hatte sich dann einen Augenblick an den Schreib- tisch gesetzt, dann wieder seine Stirn an die Wand gepreßt, sich an den Kaminsims geklammert, die Fäuste geballt, sie wieder geöffnet und— im ganzen einen lächerlichen Mangel an Selbstbeherrschung gezeigt. Ueber seine eigene Feigheit entsetzt, hatte er ein- oder zweimal zu sich selbst gesagt:„So geht es nicht weiter!" und dann die Worte heroorgesucht, die ihm schon früher manchmal geholfen hatten, als Tote dicht um ihn gehäuft lagen und er es nur dem Zufall verdankte, daß er nicht mit unter ihnen war:„Halt die Ohren steif, mein Junge!" Das hatte ihm sein Dater zugerufen, wenn er mit dem .Pony gestürzt war oder sich ein Knie aufgeschlagen hatte: „chatt die Ohren steif. Junges' Sa mar eine Art Familien.
tradition und hatte ihm im Kriege in der Beherrschung seiner Nerven, dem Ertragen von Schmerzen und dem Verbergen von Furcht und Schrecken gute Dienste geleistet. Aber jetzt, wo Joyce oben in Schmerzen lag, nützte es nichts. Nicht ein bißchen. Nicht ein verfluchtes kleines bißchen. Er dachte an die vergangenen Monate zurück. Was für ein Untier war er gewesen. Wieviel Schweres und Entsetz- lichcs ließ das Leben die Frauen leiden, wenn dieses eintrat. Joyce hatte sich das Kind nicht gewünscht. Sie ahnte die Qualen voraus. Ihre Bangigkeit aber hatte sie mit ihrem gewohnten Mut vor ihm zu verbergen gesucht. Dieses Mädchen mit dem Bubenkopf, die sich nicht sehen ließ, wenn ihre Nägel nicht frisch manikürt waren, und die so schlank und zerbrechlich wie eine Watteausche Schäferin war, hatte den Mut und die Standhaftigkeit ihrer ganzen Familie und vieler Frauen ihrer Klasse. Bei der Jagd, in Kantinen und bei Luftangriffen hatte Bertram es oft genug beobachtet. Mehr als dies Kind mit den Goldhaaren— so nannte er sie damals—- hatte er sich erschreckt, als eine Bombe die Tür des Hauses, in dem sie einen Abend der Londoner Kriegszeit durchtanzt hatten, zer- schmetterte. Sein Herz hatte einen Augenblick ausgesetzt, ob- gleich er Major einer Maschinengewehr-Abteilung war. Joyce hatte sich aber mit sicherer Hand eine Zigarette angezündet und mit klarer ungebrochener Stimme lachend gerufen:„Das ging daneben, Bruder Boche." Am gleichen Abend hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten würde, wenn er das Glück hätte, durch den Krieg zu kommen.„Das Glück ist bei dir, und meine Liebe wird dich schützen," hatte sie geantwortet, wie er sich jetzt erinnerte und immer erinnern würde. Damals war ihm solche Zukunft wie das große Glück erschienen. Jetzt hatte er sich schon oftmals fragen müssen, ob das Glück nicht bei jenen gewesen war, die sich schon vor Schluß der Ausstellung davongemacht hatten. Eine Menge Quälerei und Schinderei war ihnen erspart geblieben, diese ganze aufreibende Angelegenheit, zu der das Leben der Nach- kriegszeit mit seinen großen Enttäuschungen und seinem Wirr- warr und seiner Rätselhaftigkeit wurde. Eines dieser Rätsel war die Ehe. Um oller Unruhe zu entfliehen, war Bertram in sie hineingegangen. Seltsam— alles, was er Fürchterliches schon geschen hatte, wollte er aus seinem Gedächtnis löschen. Eine Erholunaskur für Körper und Seele, die beide von den unaufhörlichen
reichlich durchgerüttelt und aus dem Gang gebracht worden waren, sollte es werden. Die Heirat mit Joyce schien ihm wie ein reines und un- verdientes Glück. Er glaubte dadurch zu dem Ideal des voll- kommen Schönen zu gelangen, das nach den Worten seines Freundes Ehristy das Geheimnis und unerreichte und uner- reichbare Ziel des Lebens war. „Das Schöne im Leben," sagte Ehristy, als sie im Graben zwischen Henencourt Chateau und den Ruinen von Albert saßen,„das Schöne im Leben ist Gottes Urwille im Himmel wie auf Erden." Er sagte dies, obgleich er sonst für alle religiösen Fragen nur ein spöttisches und ironisches Lächeln hatte. „Schönheit ist der kostbare Ausdruck von Wahrheit und Glück. Dem Körper sowohl wie der Seele, dem Materiellen und dem Geistigen muß die Freiheit zu ihrer Entfaltung ge- geben werden. Rur wenn diese Uebereinstimmung erreicht wird, hat man die Vollkommenheit oder Göttlichkeit erlangt. Wir, Major, haben von unsenn kleinen dreckigen Krieg bis dorthin noch ein hübsches Stückchen vor uns." Das waren Christys Worte gewesen und Bertram hatte ihn als einen widerlichen Pazifisten, einen albernen Schaum- schläger verspottet und dazu noch häßliche und kränkende Be- merkungen gemacht über diese Entschuldigungen für des Freundes Gesicht, das verteufelt stark von den Linien voll- endeter Schönheit abwich. Aber er hatte an Christys Worte denken müssen, als er mit Joyce in die St. Mary Abbots Kirche tryt. Sic ging
neben ihm— er sah sie jetzt so vor sich, obgleich sie dort oben lag— groß, schlank mit wie aus Gold gesponnenem kurzen Haar, ruhig und vollkommen selbstbeherrscht.„Wie schön sie
ist!" murmelten die Frauen in der Menge, die draußen in der High Street Kensington vor der Kirche warteten, und Bertram stimmte ihnen von ganzem Herzen bei. Sie war das Schöne, nach dem seine Seele während viereinhalb Iahren voller Schmutz und Häßlichkeit gedürstet hatte. Sie war die Schönheit, das vollendete Leben, das zu ihm gekommen war. Dies hatte er ihr an dem ersten Abend gesagt, als sie allein in dem kleinen Haus in der Holland Street waren, das sie mit eigenem Geld und kühner Extravaganz ausgestattet hatte. Mit antiken Möbeln'und phantastischen Tapeten und einer Leidenschaft für grellbunte Seidenkissen, in die sie mit einem kurzen Schrei der Begeisterung zu oersinken pflegte. (Fortsetzung folgt.)