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Abendausgabe
Nr. 52341. Jahrgang Ausgabe B Nr. 262
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
5 Goldpfennig
Mittwoch
5. November 1924
Berlag und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr
Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin SW. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 2506-250%
Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Coolidge wiedergewählt.
Mit mehr als Zweidrittelmehrheit.
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New Yort, 5. november.( TU.) Nach den letzten zuverläffigen Schähungen ergibt sich nunmehr folgendes Bild: 371 Wahlmännerftimmen entfielen auf Coolidge , 16 auf Cafollette und 144 auf Davis. Cafollette hat, wie seine Anhänger versichern, durchaus nicht so ungünstig abgeschlossen, als es den Anschein hat. Denn nach der amerikanischen Verfassung treten die Staaten als Ganzes auf und es find daher off fehr starte Minoritäten, die Lafollette in vielen Staaten eroberte, nicht berücksichtigt worden. In vielen Staaten erreichten die Gegner Lafollettes nur einen knappen Sieg, die progresive Partei ist daher nach wie vor entfchloffen, sich als dritte Partei zu behaupten und vorläufig im kongreß sowohl wie im Senat aufzutreten.
Der neue Senat jetzt sich wie folgt zusammen: 43 Demofraten, 48 Republikaner und 4 Progressisten.
New York , 5. November.( TU.) Nach den letzten Berichten belaufen sich die Gesamtstimmen für Coolidge auf 18 Millionen,
Davis 8 Millionen und Lafollette 4 millionen.
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4 Millionen Stimmen für Lafollette. neuen Fortschrittspartei, der Partei Lafollettes. In Ermangelung endgültiger Ergebnisse läßt sich ein sicheres Urteil darüber zurzeit noch nicht abgeben. Wenn es aber richtig ist, daß Lafollette bereits 4 Millionen Stimmen erhalten hat, so ist dies ein beträchtlicher Erfolg, zumal wenn man bedenkt, daß dies der erste Versuch der Arbeiterorganisationen war, aktiv und selbständig in den Kampf um die Präsidentschaft einzutreten. Man müßte darin ein Symptom dafür erblicken, daß sich in Amerika ungefähr die gleiche Entwicklung vollziehen wird, die bei den neuesten Wahlen zum englischen Unterhaus so deutlich in die Erscheinung getreten ist: die amerikanische Arbeiterpartei, in diesem Fall die Partei Lafollettes, drückt die Bartei des bürgerlichen Liberalismus immer mehr an die Wand, nimmt ihre Stellung als führende Fortschrittspartei ein und nimmt den Kampf zunächst gegen die Auswüchse des Kapitalismus, sodann gegen den Kapitalismus ſelbſt allein auf. Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht die Frage, in welcher Stärke die neue Partei nach den gestrigen Wahlergebnissen im Kongreß vertreten sein wird. Das läßt sich zur Stunde Ein endgültiges und offizielles Resultat der gestrigen natürlich noch nicht feststellen. Im letzten Abgeordnetenhaus Präsidentenwahlen in den Vereinigten Staaten liegt zwar war die Arbeiterschaft nur durch einen einzigen Sozianoch nicht vor, aber alle bisherigen Meldungen lauten über- listen, Victor Berger , für den Staat Wisconsin und durch einstimmend dahin, daß die Republikaner einen einen Abgeordneten der neuen Farmer- und Arbeiterpartei ficheren Sieg davongetragen haben. Gewiffe Erfah- vertreten. Sozialisten, Farmer- und Arbeiterpartei hasen rungen sollten zwar zur Vorsicht bei der Stellungnahme sich jetzt mit fortschrittlich gesinnten Elementen aus den beiden gegenüber solchen inoffiziellen Abstimmungsergebnissen bürgerlichen Parteien zusammengetan, und sie dürften nunmahnen: Man entsinnt sich wohl des Bossenspiels anläßlich mehr eine weit stärkere Vertretung im Washingtoner der Präsidentenwahl während des Weltkrieges im November Parlament erlangt haben. Angesichts der zum Zeit sehr 1916: Damals wurde zunächst der Sieg des Republikaners strengen Bestimmungen der amerikanischen Verfassung, die Hughes gemeldet, und alle Blätter Europas , gleichviel wel- für viele Gesetze eine Zweidrittelmehrheit erheischt, ist es chem friegführenden Lager sie angehörten, feierten in ihren manchmal einer nur fleinen Partei möglich, zu großem poliLeitartikeln die Wahl Hughes' als einen Sieg der eigenen tischem Einfluß zu gelangen, indem sie das Zünglein au der Sache und überfluteten den unterlegenen Demokraten il- Wage bildet. Selbst wenn die Partei Lafollettes cuch nur tiefon mit Spott und Hohn. Vierundzwanzig Stunden später ses Resultat erreicht hätte, so wäre dies nicht nur ein veraber hatte sich das Blatt gewendet und eine genaue Nach- heißungsvoller Anfang, sondern sogar ein großer Erfolg. zählung ergab eine geringe Majorität für Wilson. Jetzt er= flangen die Loblieder in Paris und in Berlin , in London und in Wien zu Ehren Woodrow Wilsons , während Hughes allgemein als ein schlechter Kerl bezeichnet wurde. Diesmal scheint allerdings die Möglichkeit einer solchen nachträglichen leberraschung kaum vorhanden zu sein, da nach der obigen, kurz vor Schluß des Blattes eingetroffenen Meldung, Coolidge nicht nur die notwendige absolute, sondern sogar eine 3 weidrittelmehrheit erreicht hat.
New York , 5. November. ( Kabeldienst der TU.) Den Wahl fampf um den Gouverneurposten hat Smith gegen den jungen Roosevelt gewonnen. Als das Ergebnis bekannt wurde, brannten die Bewohner des Ostens von New York auf den Plägen Feuerwerte ab. Junge Italiener veranstalteten unter Vorantritt von Musikkapellen Demonstrationszüge, in denen Bilder Smiths mitgeführt wurden.
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In den New Yorker Straßen herrschte in den Abendstunden Großbetrieb. Vor den Gebäuden der großen Zeitungen, wie Times" und" World", warbeten Taufende auf die ersten Wahlergebnisse, die durch Lichtbilder bekanntgegeben wurden. Auf dem Woolworth- Gebäude waren Scheinwerfer aufgestellt, die die Er gebnisse in bunten Farben sechzig(?) Meilen im Umkreis verbreiteten.
Gegen den Brotwucher!
Macht weitere Brotpreissteigerungen unmöglich!
Im Durchschnitt des Jahres 1913 kostete an der Berliner Börse die Tonne( 1000 Kilo) Roggen 164 M. und die Tonne Weizen 199 M. Im selben Jahre kostete der Roggen in New Dorf 109 M. pro Tonne, also 55 M. weniger. Da der Zoll pro Tonne Roggen 50 M. betrug, so bezahlte man in Deutsch land auch den im Inlande erzeugten Roggen um den vollen 3ollbetrag höher als am Weltmarkte. Weizen kostete 1913 in New York 160 M. und in London 149 M. pro Tonne. Der Preis in Deutschland war also 39 bzw. 50 m. höher als an den großen Weltmarktplätzen. Der Zoll auf Weizen be trug damals 55 M. pro Tonne. Auch der Weizenzoll kam also im Preise auch des gesamten in Deutschland erzeugten Weizens zum Ausdruck.
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Im Durchschnitt des Jahrfünfts 1909 bis 1913 find in Deutschland jährlich für die menschliche Ernährung mehr als 5 Millionen Tonnen Weizen und fast 7 Millionen Tonnen Roggen, zusammen also fast 12 Millionen Tonnen Brotgetreide verbraucht worden. Das bedeutet, daß die deutfchen Brotverbraucher jährlich eine Sonderste u er von rund 600 millionen Mart be= zahlten davon einen verschwindend geringen Teil an den Staat, den allergrößten Teil aber an die Agrarier. Die Brotverbraucher, das sind zum übergroßen Teil die Massen der Befitlosen, die jeden Pfennig zu Rate ziehen müssen, um überhaupt die nackte Eristenz fristen zu können. Die Agrarier aber, das sind die verhältnismäßig wenigen großen Grundbefizer, die den Hauptteil der an den Markt kommenden Ge= treidemengen auf ihren Ländereien erzeugen. Die Armut also zahlte diesen ungeheuren Tribut an den Reichtum. Es sind im Durchschnitt des Jahrfünft 1909 bis 1913 außerdem jährlich etwa 3%, Millionen Tonnen Brotgetreide als Biehfutter verwendet worden. In den Viehund Fleischpreisen ist demnach eine weitere Sondersteuer von rund 175 Millionen Mark jährlich bezahlt worden. Alles in allem gerechnet fann man die Liebesgaben an die Agrarier durch die Wirkung der Getreidezölle auf 800 millionen Marfjährlich schätzen, ohne zu hoch zu greifen!
Zu Anfang des Krieges wurden die Getreidezöfle in der Inflation Gegenstand ernsthafter Diskussion geworden. Deutschland aufgehoben. Ihre Wiedereinführung ist erst nach Anfang dieses Jahres begann der Jammer der Agrarier über zu niedrige" Getreidepreise die Deffentlichkeit zu beschäftigen. Diese lagen, wie ein Blick auf die unten folgende Tabelle zeigt, bis Juli/ August dieses Jahres zweifellos unter den letzten Borkriegspreisen. Sie entsprachen etwa den Weltmarktpreisen einschließlich Fracht bis Hamburg . So enthielten sie auch bereits einen Zuschlag gegenüber den Weltmarkt- Vorfriegspreisen entsprechend der internationalen Steigerung der Produktionskosten der Landwirtschaft. Infolgedessen erhielten die deutschen Agrarier ohne Schußzoll einen Preis, der etwa in der Mitte zwischen dem Vorfriegs- Weltmarkts- und den Vorkriegspreisen in Deutschland lag.
Die Wiederwahl Coolidges bedeutet in außenpolitischer Hinsicht die Fortsegung des bisherigen Kurses der Bereinigten Staaten: weitere strikte Ablehnung des Eintritts in den Bölkerbund, doch keine grundfäßliche und schroffe Feindschaft gegenüber den mit dem Völker bund zusammenhängenden Institutionen. In dieser Hinsicht hat sich die Stimmung auch im republikanischen Lager in den Die landwirtschaftlichen Besizer in Deutschland , die vor legten zwei Jahren etwas gewandelt. Man erblickt in dem dem Kriege wie oft wurde das betont!- verhältnismäßig Völkerbund als solchen eine rein europäische Angelegenhoch belastet waren mit Grundschulden, sind durch die heit, der man sich, entsprechend der Monroe- Lehre fernhalten müsse, dem Internationalen Staatsgerichts= Paris, 5. November. ( Eigener Drahtbericht.) Der diploma - Inflation von diesen Schulden zum größten Teil befreit morhof aber, dessen Mitglieder durch den Völkerbund ernannt tische Vertreter der Sowjetregierung in London , Rakowiti, hatte den. Sie brauchen also heute im allgemeinen aus ihrem Rewurden, ist Amerika beigetreten und es ist auch Stimmung am Dienstag abend eine Unterredung mit Herriot , die der Vorberei- fi teine Berzinsung für ihre Schulden mehr herausdafür vorhanden, dem Internationalen Arbeitsamte beizutung der offiziellen Beziehungen galt. Ratowski überbrachte dabei zuholen. Aus diesem Grunde könnten sie auf überhöhte treten. Im übrigen geht die Politik der amerikanischen Redem Fortfall ihrer Schulden für reicher und verlangen dieser Preise durch Schutzölle verzichten. Sie halten sich aber nach gierung immer mehr dahin, sich auf allen Konferenzen und bei allen Inftitutionen, die vornehmlich europäischen Charakter Reichtumssteigerung entsprechende höhere Gewinne für sid. tragen, durch mehr oder minder inoffizielle Beobachter" Es ist also, da die Weltmarktpreise einen genügenden Prozentverireten zu lassen. faz für die Produktionsfostenſteigerung enthalten, ein Rollforderungen der deutschen Agrarier zum Ausdruck kommt. traffes egoistisches Gewinnstreben, das in den Ihnen nachgeben, würde heißen, die Brotverbraucher in Deutschland außer mit der sozusagen normalen Teuerung auch noch mit Extraprofiten zugunsten der wirklich nicht notleidenden Landwirtschaft zu belasten.
Diese Ablehnung des Völkerbundes schließt jedoch eine zunehmende Wiederkehr des Intereffes für die europäischen Angelegenheiten, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, aber in natürlichem 3ufammenhang damit auch in politischer Hinsicht, keineswegs aus. Die allgemeine Europamüdigkeit, in deren Zeichen die Präsidentenwahl vom November 1920 erfolgte und mit einem überwältigenden Siege von Harding über Cor endete, ist allmählich gewichen. Amerika hat erkannt, daß es sich den Lurus einer gänzlichen Fernhaltung von Europa und einer absoluten Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Entwicklung auf dem alten Kontinent nicht leisten kann, ohne in gefährliche wirtschaftliche Mitleidenschaft gezogen zu werden. Daher die attive Beteiligung der Regierung der Vereinigten Staaten an dem wirtschaftlichen Sanierungsplan Europas durch das Sa ch verständigen gutachten, dessen Jee zum ersten Male vom Staatssekretär Hughes in einer Rede in Newhaven im Dezember 1922 ausgesprochen und von dem General Dawes in die Tat umgesetzt wurde.
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Die Wahl des General Dawes zum republikanischen Vizepräsidenten ist die beste Bürgschaft für die Absicht Coolidges und der Republikanischen Partei, diesen Kurs weiterzuführen. Das soll uns aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß das Interesse der Bürger der Vereinigten Staaten in außenpolitischer Hinsicht für die Frage des Stillen Ozeans( Beziehungen zu Japan , Einwanderungsfrage) und für die Zustände in Merito( Betroleumfelder!) weit größer ift als für die Liquidierung des Ruhrkon liftes oder für andere europäische oder fleinasiatische Probleme.
Was uns Sozialdemokraten bei dieser Wahl von vorn herein am meisten interessierte, war das Abschneiden der
die Mitteilung, daß die Sowjetregierung mit der Ernennung die Mitteilung, daß die Sowjetregierung mit der Ernennung Jean Herbettes zum französischen Botschafter in Moskau einverstanden sei, und er erhielt zu gleicher Zeit das Agrement der französischen Regierung zur Ernennung Krassins zum rufsischen Botschafter in Paris . Da man in Baris noch am Dienstag angenommen hatte, daß Rakowski selbst die diplomatische Bertretung Rußlands in Paris übernehmen würde, kommt die Ernennung Kraffins einigermaßen überraschend. Als Grund hierfür wird ange geben, daß die Sowjetregierung angesichts des Ueberganges der Regierung in London auf ein dem neuen Regime in Rußland nicht sehr wohlgefinntes Kabinett es für unangebracht gehalten habe, gerade jetzt einen Personalwechsel auf dem Londoner Botschafterposten vorzunehmen. Krassin, der von Beruf Ingenieur und bis zum Kriegsausbruch Vertreter von Siemens- Schudert in Petersburg gewesen ist, gilt als einer der gemäßigten Vertreter des Bolschewismus. Er war es, der im Jahre 1921 den ersten Vertrag der Sowjetregierung in England zum Abschluß gebracht hat. Ratowffi, der am Donnerstag nach London zurückkehrt, wird voraussicht ich an den vorbereitenden Arbeiten zu den Anfang Januar beginnenden französi'ch- russischen Verhandlungen zur Regelung der wirtschaf lichen und finanziellen Beziehungen zwischen beiden Ländern teilnehmen.
Keine Ruhrbesetzungsmedaille. Herriot lehnt ihre Schaffung ab.
Paris , 5. November. ( EP.) Herriot hat einen Vorschlag des Bundes der früheren Beamten im Ruhr- und Rheinland abgelehnt, wonach eine besondere Tenkmünze für alle tici n'gen geschaffen werden soll, die an der Ruhr- und Rheinlandbesetzung teilge. nommen haben Herriot erklärt in einem Brief an den Bund, daß die Schaffung einer solchen Denkmünze rricht möglich sei. Es sei richt möglich, die Belegung der Ruhr mit einer militärischer Besetzung oder mit einem Feldzug im Ausland auf gleichen Fuß zu stellen. Es habe sich lediglich um die Durchführung von Santfionen gehandelt.
Nun ist aber inzwischen die Preisbewegung für Brotgetreide in Deutschland so sprunghaft steigen d geworden, daß die Friedenspreise( die die Zollprämie einschlossen) auch ohne Schutzölle längst überholt sind. Es fostete nämlich an der Berliner Börse im Jahre 1924 im Durchschnitt der Monate:
Durch
1913
1 Tonne Febr. März April Mai Juni Juli Aug Sept. Oft. finift Roagen M. 137 135 136 181 128 186 148 193 223 164 Weizen 163 167 174 162 146 160 199 222 226 199
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Jezt Agrarschutzölle einführen, hieße, diese Not- und Wucherpreise noch zu steigern, ihrem bereits begonnenen Rüdgang entgegenzutreten, fie zu einer dauernden Einrichtung zu machen. Es kommt noch einiges hinzu, das Borhaben der Schutzöllner noch stärker zu diskreditieren. Die andere Seite der Getreidepreise in ihrer Wirkung für die Verbraucher find die Mehl- und Brotpreise.
Vor dem Kriege, im Durchschnitt des Jahres 1913, tostete an der Berliner Börse Roggenmehl 27% Proz. mehr als die gleiche Menge Roggen, und Weizenmehl 35 Proz. mehr als die gleiche Menge Weizen. Diese Differenz zwischen Getreide und Mehlpreisen, den Mahllohn", haben Mühlen und Mehlhändler in den seit der Inflation ver
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