Nr. 571 41.Jahrgang
2. Beilage des Vorwärts Was ist Krieg?
Ein Mahnwort zu den Wahlen von Armin T. Wegner .
Das Stahlbad des Krieges in der Statistik.
Der Weltkrieg wird noch auf Jahrzehnte hinaus die gewaltigste Erscheinung bleiben, die im Mittelpunkt aller unserer Vorstellungen steht. Er ist die nicht mehr fortzudenkende Zäsur, die uns unwillkürlich zu einer neuen Zeit rechnung geführt hat. Im Frieden", im Kriege", nach dem Kriege", nichts beweist mehr als die unaufhörliche Verwendung dieser Zeitbestimmung im Geschäfts- und Privat leben des Alltags, wie start das Dasein der meisten Menschen von seinem Schatten verdunkelt ist. Freilich wurde es auch dem Eingeweihten bis zur Stunde nicht leicht gemacht, ein vollständiges Bild seiner wahren Ausdehnung zu ge winnen. Denn obwohl die Statistik im Kriege eine große Rolle gespielt hat, spielte der Krieg in der Statistik teine Rolle. Publikationen über die Größe der Heere und die Zahl der Cefallenen wurden in den meisten Ländern verhindert, um den Willen zum Durchhalten" zu stärken. Neben den Mitteilungen des Reichsarchivs im Statistischen Jahrbuch für Deutschland ist man auch heute noch zum Teil auf Schätzungen angewiesen, namentlich auf die Schätzungen, die von der Kopenhagener Studiengesellschaft zur Untersuchung fozia en Folgen des Krieges veröffentlicht wurden, und die wertvolle Anhaltspunkte für internationale Bergleiche bieten. An Hand dieser Quellen hat Dr. E. J. Gumbel , der bekannte Heidelberger Privatdozent, vor kurzem einige Unter
der
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Das Land der Krüppel.
Mit
Donnerstag, 4. Dezember 1924
Krieges nicht erschöpft. Fast doppelt so groß ist die Zah Aber mit den zehn Millionen Toten sind die Opfer des derjenigen, die der Krieg auf der Erde zu Krüppeln, zu Blin den und Almosenempfängern gemacht hat. Die Zahl der verwundeten Deutschen betrug 4,22 Millionen. Mittelmächte zusammen kommen 6,7 Millionen, Auf die 11,5 Millionen Verwundeter auf der Seite der Entente gegendenen überstehen. Das sind 18 Millionen Verwundeter, die selbstverständlich in ihrer Arbeitsfähigkeit zum größten Teil er
Frauen!
Denkt an das Gefchehen des Krieges! Jhr feid Mütter und Gaffinnen.
Ihr gibt der neuen Generafon das Leben, bewahrt es! In euch Müttern find die edelsten Gefühle der Mnschlichkeit beschlossen. Im Namen der Menschheit: gegen die Gewalt des Krieges die Gewalt der Mutterliebe, der Menschenliebe!
fuchungen über das„ Stahlbad des Krieges in der Statiſtik" Die Frauen gegen den Krieg!
ang stellt, die von der deutschen Liga für Menschenrechte"
veröffentlicht wurden. Danach betrug die Zahl aller Mobili Darin liegt die Zukunft unseres Volkes.
fierten in ganz Europa 58 Millionen, und die Größe der Heere am Ende des Krieges 30 Millionen. Die Zahl aller Gefallenen betrug 11 Millionen, wovon etwa 10 Millionen Europäer find, darunter 2 Millionen Deutsche . Aber wer vermag fich eine Vorstellung von diesen ungeheuren Zahlen zu machen? 40 000 ober 10 000 000, beides find mehr oder weniger unbestimmte Mengenbegriffe, die in der Vorstellung der meisten Menschen nur wenig von einander abweichen, nicht viel mehr als eine tote 3ahl, wie wir sie an jedem Tage vielstellig in das Telephon zu sprechen gewohnt sind.
heblich geschwächt wurden. Frankreich allein hat nach einer Angabe Clemenceaus auf seiner Propagandareife 800 000 Berstümmelte. 18 Millionen Krüppel! Spanien hat 21 Millionen Einwohner. Um einen richtigen Ganz Begriff zu bekommen, braucht man sich also nur vorzustellen, daß ein ganzes Land, das nur ein wenig fleiner ist als Spanien , nur bevölkert ist von elenden Krüppeln. Madrid , Barcelona , Sevilla , alles Städte voll Krüppel Die Flußufer des Guadalquivir , die Täler der Pyrenäen , die Küsten des Mittelmeers, alles Dörfer voll Krüppel. Man sieht, was der Krieg vollbracht hat, und wie diejenigen ihr Vaterland lieben, die dahin wirkten, daß große Teile ihres eigenen Volkes nur noch aus Krüppeln und Greisen bestehen.
Fabrik, Kirche, Eisenbahn , Straßenbahn, in der Tat alles, was beide Länder an Wert besitzen( der Gesamtwert Frankreichs betrug 1914 nach dem amtlichen Material 62 Milliarden Dollar). Mit anderen Worten, schließt Berger seine Ausfüh rungen, die Kosten, welche die Staatsmänner der Entente von en Völkern der Erde für den Sieg über Deutschland zahlen ließen, waren dem Wert von fünf solchen Ländern wie Frank reich plus solchen wie Belgien gleich.
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Die sittliche Erneuerung.
Statt all dieser Wohltaten einer vernünftigen Zivilisation, fozialen Gerechtigkeit und gesunden Erziehung aber schenkte das letzte Jahrzehnt Europa die sittliche Erneuerung" des Anwachsen der strafbaren handlungen. Das fann Krieges, die Zunahme der allgemeinen Verrohung und das nicht besser bewiesen werden als durch die Tatsache, daß im 18 Jahren gerichtlich verurteilt wurden, im Jahre 1919 daJahre 1912 in Preußen 45 958 Jugendliche zwischen 12 und gegen 152 000. Also etwa die vierfache Zahl von jugendlichen Berurteilten starrt uns aus den gleichen Gittern des Gefäng nisses entgegen. Kein Wunder, nachdem man den meisten den väterlichen Erzieher durch den Krieg genommen. Körperliche und sittliche Erkrankung der Völker! Denn auch die Todes fälle und Ertranfungen unter der Zivilbe pölferung nahmen durch den Krieg in erschreckendem Maße zu.
Die Hungersnot in Deutschland hatte zur Folge, daß die Zahl der Kalorien, welche durchschnittlich auf den Kopf der Bevölkerung fallen, in rascher Weise abnahm.( Unter einer Kalorie versteht man die Wärmemenge, die notwendig ist, um einen Liter Wasser um ein Grad zu erwärmen.) Da die Verdauung und Ernährung ein langsamer Verbrennungsprozeß ist, stellen die Nahrungsmittel die Brennstoffe dar, die die Maschine des Körpers heizen. Man rechnet auf einen Arbeiter durchschnittlicher Arbeitstraft pro Tag 3000 Kalorien. Diese Zahl nahm aber infolge der Rationierung im Sommer 1917 bis auf 1000 Kalorien ab. Das stellt ungefähr die Era nährungsmenge eines zweijährigen Kindes dar! Auf die Abnahme der Kalorienmenge folgte 34 Jahre später aber eine renau entsprechende Erhöhung der Tuberkulosesterblichkeit. Die Tuberkulose hat sich 1918 gegenüber dem Jahre 1913 verdoppelt. Im ganzen sind unter der Zivilbevölkerung in Deutsch land während des Krieges 800 000 Menschen mehr als im Frieden gestorben oder gewissermaßen verhungert.
Alle 2 Minuten 9 Tote-
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Alle 2 Minuten 9 Tote!
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9 Tote!
Das Bilderbuch der„ Kultur".
Die Notwendigkeit, statistische Angaben im Bilde sichtbar zu machen, ist deshalb für die Statistik des Krieges noch viel dringender als für irgendeine andere volkswirtschaftliche Statistit.
Diesen Versuch hat Willibald rain in ganz ausgezeichneter Weise in seinem Kulturbilderbuch" gemacht, Zeichnungen, die hier zum erstenmal in der Presse ver öffentlicht werden und die die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit" in Berlin und Hamburg soeben herausbringt. Diese Bulder reden eine Sprache von grausfiger, fast unerträglicher Logit. Wenn die Menschenopfer der im Weltkrieg Gefallenen 10 Millionen Tote betrugen, dann bedeutet das soviel, daß während voller vier Jahre alle zwei Minuten neun blühende Menschenleben durch Menschenhand vernichtet wurden. Man lege einmal die Uhr neben sich und suche, dem Laufe des Sekundenzeigers folgend, auf nur zehn Minuten lang diese Borstellung festzuhalten. Tic- Tack! Alle 13 Gefunden ein Toter! Tid- Tad! Schon nach zehn Minuten wird man diesen Versuch aus unerträglichem Grauen aufgeben müssen. Auch der Schnitter Tod ist zivilifiert" geworden. und dem Zuge der Zeit und ihrer technischen Bervollkommnung folgend, bedient er sich zu seinem Werte der Bernichtung nicht mehr der Sense, sondern einer furchtbaren Fleischmaschine", aus der alle zwei Minuten neun Leichen auf den blutigen Leichenhausen der Völker fallen,
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Um diese ungeheuren Berluste herbeizuführen, mußte der Militarismus Europas schon vor dem Kriege ständig darauf bedacht sein, seine Bernichtungsmaschine zu erhalten und zu heizen. Vor dem Kriege wurden in Europa 50 Proz aller Staatseinnahmen für Kriegsrüstungen ausgegeben, während nur 6 Proz für Erziehungszwecke verwendet wurden. Also fast zehnmal soviel ließ Europa den teuflischen Kriegsgott in feinen Rachen verschlingen, um seine furchtbare Mißgestalt zu mästen, als wie er seiner Jugend zubilligte, die sich mühsam von den Brosamen nähren mußte, die von seinem Tische fielen. Noch viel umfassender aber ist, was dieser Moloch neben den Todesopfern während des Krieges an S a ch werten verschlang. Da die folgenden Feststellungen einem Amerikaner, Victor L. Berger , entstammen, einem Abgeordneten aus Wisconsin , und da er sie im amerikanischen Repräsentanten hause gemacht hat, wird man nicht zu der Vermutung kommen fönnen, fie wären nur die Phantasieausgeburt eines verarmten deutschen Arbeiters oder Beamten. Nach den besten erhältlichen Statistiken, führt Berger aus, fostete der Weltkrieg für 400 Milliarden Dollar Sachwerte. Mit dieser Summe fönnte man ein Haus im Werte von 2500 Dollar bauen und dieses Haus mit einer 1000- Dollar- Einrichtung versehen und es in fünf Acer Land( ein Acker= 40,5 Ar) feßen, von dem jeder Ader 100 Dollar tostet, und alles dieses könnte man federund allen Familien in den Bereinigten Staaten von Amerika , Kanada , Australien , England, Irland, Schott land , Frankreich , Belgien , Deutschland und Rußland geben. Nachdem das geschehen, würde noch genug Geld übrig bleiben, um jeder Stadt von über 20 000 Einwohnern in all den genannten Ländern eine Bücherei für 5 Millionen Dollar, ein Krankenhaus für 5 Millionen und eine Universität für 10 Mil lionen Dollar zu fchenken. Und aus dem Ueberschuß könnte man noch Geld genug zu 5 Broz. 3insen beiseite legen, um für alle fommenden Zeiten ein Gehalt von 1000 Dollar für jeden in einem Heere von 125 000 Lehrern und 125 000 Pflegerinnen zu zahlen. Ja, nach auledem würde noch genug übrig bleiben, um ganz Frankreich und Belgien mit allem, was es befigt, aufzutaufen, d. h. französischen und belgischen Hof, Haus,
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WLADIWOSTON
Ein Rückblick auf den Weg.
Blicken wir noch einmal zurück auf den Weg des letzten Jahrzehnts. Wer dies mit vollem Bewußtsein tut, tönnte allerdings zur Salzfäule erstarren. Seht Ihr auf diesem letzten Bilde die Allee von Kreuzen, die zwei Weltteile, Europa und ganz Aften durchquert? Die Kilometerzahl dieses Kreuzweges würde man brauchen, um die Särge der Toten dieses Weltkrieges aneinanderzureihen, und wenn man in einem schnellfahrenden Schnellzuge sizt, würde man drei Wochen brauchen, um mit der Geschwindigkeit des Windes an dieser Todesstraße vorüberzujagen.
Werden die Völker, wird das deutsche Volk noch einmal diefen Weg gehen? Wer in diesen Tagen zur Wahl schreitet, wird das bei seiner Entscheidung in erster Linie erwägen müssen. Wer sich aber jenen anschließt, die noch immer mit dem Gedanken einer versteckten Revanche", der Aufrichtung einer neuen Militärmacht spielen, oder mit rückwärts gerichteter Sehnsucht den Zustand vor 1914 wieder herbeiführen möchten, der zu jener Katastrophe geführt hat, der spricht im Grunde nichts anderes aus, als:" Ich wähle Krieg!" Deshalb „ Ich fordert das Gebot der Stunde von jedem Einsichtigen, sich jenen anzuschließen, die, wenn sie auch nicht das himmlische Paradies auf Erden schaffen können, ihm doch die vertrauensvolle Sicherheit bieten, erfüllt von einer höheren Verant wortung gegenüber der Menschheit, ihre ganze Kraft einzufeßen für die größtmöglichste Vollendung unseres geistigen und leiblichen irdischen Seins.