Nr. 5S5 ♦ 41. �ahrgasg
1. Heilage des Vorwärts
5reltag,12. Dezember 1924
Moröprozeß Haarmann.
Hannover . 11. Dezember. �Eigener Drohtbericht.) Unter de- sonderen Vorsichtsmaßnahmen wurde der Dater des erste» Opfers Haarmanns, des 17jährigen Friedet Rothe, vernommen. Der Zeug«, der Gastwirt Oswald Rothe, bekundet, daß fein Sohn seit dem 28. September 1918 oermißt wurde. Er, der Zeuge, befand stch damals im Fe'de Er erfuhr, daß der Junge m seiner Abwesenheit einen sehr unsoliden Lebenswandel an- genommen habe und daß er sich öfters nächtelang herumgetrieben habe und daß er dafür auch bestrast worden sei. Sein Sohn habe «in eigenes Schlafzimmer besessen und auch einen Hausschmssel gehabt. Als der jung« Mann vermißt wurde, kam der Vater auf Urlaub nach Hause nach Hannover und stellt« nun Nach- sorschungen nach seinem Sohne an. Er erfuhr dabei, daß sein Sohn mit einem gewissen Haarmann gesehen worden sei. Darauf ging der Zeuge nach Haarmanns Wohnung in der Eeller Straß«, fand Haarmann selbst aber nicht vor. Es gelang ihm aber nicht, durch das Fenster Einblick in die Wohnung zu erhalten. Bei einem zweiten Versuch nahm er sich dann zwei Polizeibeomt« mit und diesmal traf man Haormann an, der gerade einen Jungen bei sich in der Wohnung hatte. Auf die Frage des Vaters, wo er feinen „Friedet" gelassen habe, erklärt« Haarmann : „Ich kenne keinen Friedet". Die Polizei durchsucht« dann den Raum, fand ober nichts. Dann wurde ein Freund des getöteten Friedet Rothe, der 23jährig« Kurt E n g e l k e vernommen, der Haarmann durch Rothe kennen- gelernt haben will. Er bekundet, daß er die beiden zusammen auf der Straße gesehen habe, als sie sich aus dem Weg« zur Haar- mannschen Wohnung in der Celler Straße 27 befanden. Engelke ist dann der Junge gewesen, den die Polizei bei der Durchsuchung der Haarmannschen Wohnung gerade bei dem Angeklagten ge- sunden hat. Di« Durchsuchung hat er dann nicht mehr gesehen weil er dann gleich abgesührt wurde, bekundet aber, er hätte noch so- viel wahrnehmen können, daß einer der Beamten unter das Bett gefühlt habe, ob sich jemand darunter befind«.— Kriminalassistent Braune war derjenige Beamte, der die Durchsuchung der Haar- mannschen Wohnung geleitet hatte. Er bestätigt, daß er mit einem Stock unter dem Bett herumgetastet habe. Im übrigen habe er aber nur den Austrag gehabt, nach dem lebenden Rothe zu suchen, habe also nicht ein« reguläre Haussuchung, wie sie sonst üblich sei, vorgenommen. Vors.: Haarmann behauptet, daß, als Sie die Durchsuchung vornahmen, der Schädel des Roth« zwischen dem Ofen in einer Kiste gelegen hat. Zeug«: Ich habe kein« Kiste gesehen. Ich glaub« auch nicht, daß ein Mörder dann die Leiche acht Tag« lang w seiner Wohnung liegen läßt. Jeden- falls hatten wir nicht im entferntesten einen Mordverdacht gegen Haormann und ich hatte auch keine gesetzliche Handhabe für eine gesetzliche Durchsuchung der Wohnung.— Vors.(zu Engel ke): Haben Sic ein« Kiste im Zimmer Haarmanns gesehen? Zeug«: Jawohl, sie war ungofähr 50: 50 groß und stand am Ofen(Be, wegung.)— Der Arbester Heinrich Seemann, der dann als Zeug« vernommen wird, bewohnt« den neben Huarmann gelegenen Laden in der Celler Straße. Er bemerkte, daß viel« junge Leute bei Haarmann verkehrten und als er«inen davon zur Red« stellt«, erklärt« dieser: wenn wir aichi» zn essen haben, gehen wir jn haarmann. der gibt uns zu essen. Weiler« Beobachtungen hat der Zeug« nicht gemacht. Aus der Haft wird dann der Emser Johann Hart. mann vorgeführt, der ein« anderthalbjährige Zuchthausstrafe v«r, büßt. Er kannte Haar mann weniger, wohl aber Grans vom Ge- fängnjs her. Wester bekundet der Zeug« Hortmann, daß« Gran? ctmnal mit einem Jungen gesehen habe, der einen grauen An» zua trug. Einige Tag« später hahe er dann Grans wieder g«. troffen, der nun einen grauen Anzug, den er In einem Karton bei sich trug, zum Kaufangeboten habe. Aus die Bemerkung Hertmanns, daß dos doch offensichtlich der Anzug jenes Jungen sei, wäre Grans dann sehr oerlegen geworden. Ferner hat Hart- mann im Oktober 1923 Haarmann und Grans mit einem jungen Mann zusammengesehen, der«in Fahrrad bei sich hatte und dies« Feststellung ist insofern von Interesse, als sich tatsächlich unter den Opsen, Hoarmanns ein Junge befindet, der ein Fahrrad besaß. Grans wird bei diesen B-kundigungen ziemlich erregt und sucht den Zeugen als unglaubwürdig hinzustellen Oberstaatsanwalt Dr. Wilde zum Zeugen: In Ihren Kreisen hat man doch sicher
� über die„beiden Größen" Haarmann und Grans gesprochen. Zeuge: Jawohl, und zwar sagte man allgemein, Grans sauge Haarmann aus. l Bewegung.) Dann wurde in die Erörterung des zweiten Falles, des Mordes an dem Lehrsing Friß Franke aus Berlin «ingetreten. Haarmann der diesen Mord ja be- kanntlich eingesteht, trägt vor dem Ausruf der hierzu geladenen Zeugen«in« ziemlich ängstliche Miene zur Schau und macht seinen Verteidiger noch daraus aufmerksam, daß der Schupobeamt«, der bei der Vernehmung von Eltern der Getöteten sich vor Haarmann aufftellen muß, noch nicht seinen Platz eingenommen habe. Dann erschien der betreffende Zeug«, und zwar zuerst der V o t e r des Getöteten, der Gastwirt Frank« aus Berlin Frau Franke ist wegen Krankheit nicht erschienen. Beim Aufruf des Zeugen kommt es zu einem Zwischenfall, denn einer der Berliner Zeugen, ein gewisser Richard Schmidt aus Berlin , der offensichtlich angetrunken war, verlangte vom Vorsitzenben mit lauter Stimme, daß der � Mörder dem Zeugen vorgeführt werde.— Der Vorsitzende weist Schmidt sehr energisch zur Ruhe. Der Gastwirt Wilhelm Franke bekundete zunächst auf die Frag«, warum denn sein njähriger Sohn Fritz noch Hannover gekommen sei, daß dieser von einem seiner Freund«, Paul Schmidt, dorthin verschleppt worden sei. Dieser Schmidt habe ihm später erzählt, er habe von Haar- mann für den Fritz Geld bekommen. Der Vater bestätigt dann, daß sein Sohn einen grauen Anzug und blauen Mantel trug und legte dem Gericht die Stoffproben vor. Vors.: Weshalb ist denn Ihr Svhn von Berlin weggegangen? Zeuge: Er hatte«ine klein« Dummheit gemacht, er Hut nämlich meinen Hut verkauft und dafür habe ich ibn gezüchtigt. Dann kam dieser Schmidt und sagte:„Du wirst dich doch nicht so verhauen lassen." Er nahm ihn mit, dann haben die beiden das Geld für den Hut verjirbest. Mein Jung« hatte noch sein« aotdene Uhr verkauft. Dann sind sie nach Hannover ab- gefahren. Sie müssen aber noch mehr Geld gehabt haben, denn so- viel Geld, um den Fahrpreis nach Hannover zu zahlen, hatten sie aus dem Verkauf der Sachen nicht erhalten. Später hatte mir dann Schmidt erklärt, wie auf dem Bahnhof Hannover Haarmann an die Bahn gekommen sei und Ihm, Schmidt, Geld gegeben habe, daß er ihm meinen Sohn gebracht hatte. Vors.: Hat Ihr Sohn gut Klavier gespielt? Zeuge: Ja, sehr gut. Vors.: Haben Sie von ibm aar keine Nachricht mehr aus Harmover erholten? Zeuge: Schmidt sagte mir dann später, Haormann hätte ihm nach einigen Tagen erzählt, mein Junge fei von der Votizei aufgegriffen und nach Berlin zurückgebracht worden. Mein Fritz war sonst«in sehr gritar Junge, aber bier der Schmidt, der lücst. wie gedruckt. Hierauf wurde der in diesem Prozeß bereits mehrfach genannte Kriminalkommissar Müller vernommen. Er bekundet zunächst. wie im Frühjahr 1923 ds« Mruzek und die Schulz zu ihm ge- kommen seien und ihm gesagt hätten, sie hätten in der Haar- mannschen Wohnung einen Jungen mit dem Gesicht nach der Wand im Bett liegen sehen. Abends sei der Junge verschwunden gewesen, aber sein Anzug hätte noch daqehangen. Im Schrank hätten sie dann einem Topf Fleisch entnommen, das ihnen verdächtig vorkam. Der Zeug« erklärt hierzu, daß diese Fleischproben nach Schweine- fleisch ausgesehen hätten und daß auch der Gerichtsarzt Geh.-Rat Dr. Schackwitz sie Äs Schweinefleisch bezeichnet habe. Vors.: Befanden sich Haar« an dem Fleisch? Zeuge: Dielleicht kleine Härchen, aber das weiß ich nicht genau. Jedenfalls hat uns Dr. Sck>ackwitz noch auf die Unterschiede zwischen Menschen- und Tierfleisch aufmerksam gemacht und erklärt, daß das kein Menschen- fleisch sei. Irgendwie weiter Verdächtiges haben mir die Frauen nicht erzählt. Vorsichtshalber habe Ich aber am nächsten Morgen bei Haarmann eine Haussuchung vornehmen lassen und dabei ben Beamten noch eingeschärft, aus Blutspuren zu achten. Di« Durchsuchung verlief aber ergebnislos. Den beiden Frauen habe ich auch gesagt, sie möchten möglichst oft Nachricht geben. Vors.: Sie hatten die Vahnhofswache unter sich? Zeug«: Jawohl, sie gehört« zu meinem Bezirk, nämlich zum Zentrum. Vors.: Hat nun Haarmann S p i tz« l d i e n st für Sie geleistet?— Zeuge: Nein, er war bei mir nur als Zuträger, als Digilanl tätig. Wir wußten, daß er in Aerbrechertreisen verkehrt«. Haarmann war 1920 zu mir gekommen und macht« mir Mitteilung über einen Ein- bruch. Dies« Angaben waren damals zutreffend. Er selbst erklärte, daß er schon mit Zuchthaus vorbestraft sei, et wolle sich aber
bessern. Er macht« bei allen seinen Angaben einen gutmütigen, aber intelligenten Eindruck. Im übrigen hat er nicht lediglich bei mir solche Dienste versehen, sondern bei der Polizei überhaupt. Manch- mÄ hat er sich monatelang nicht sehen lassen. Bei der Vernehmung eines weiteren Zeugen zu diesem Fall Frauke, dem 2vjährigen Franz Kirchhoff, gerät Haarmann plötzlich w sehr groß« Erregung. Der Zeuge erNärt, er habe Frank« unter dem Namen Hans Widdigs in einer Wirtschaft kennengelernt, und zwar habe ihm dieser eine Armbanduhr zum Verkauf angeboten. Auf die Frag«, wo er wohne, habe er erklärt:„Bei Kriminalkommissar Haar- mann". Haar mann(sehr erregt): Ich will Ihnen MÄ was sagen, um meinen Kopf ist es ja kein« besondere Sache, aber wenn du das hier beschwören willst, was du eben gesagt hast, dann hast du einen Meineid geleistet und ich oerfluche dich noch in letzter Stmide. Zu dramatischen Szenen kommt es dann bei der Erörterung des dritten Falles, der die Ermordung des Lehrlings Wilhelm Schulz« betrifft. Die Mutter des Getöteten, Frau Frieda Schulze, bekundet, leise vor sich hinschluchzend, daß ihr Sohn am Nachmittag des 20. März 1923 von Eolshorn nach �Hannover gefahren sei und daß sie seitdem nie wreder etwas von ihm gehört habe Vier Tag« später sei dann sein Anzug von Haarmann verkaust worden. Als dann der Anzug des Jungen der Mutter vorgelegt wird, bricht diese laut weinend, im Gerichtssaal zusammen und muß gestützt zu einem Stuhl geführt werden.— Haarmann selbst, der bisher bei diesem Falle seiner Sache nicht sicher war, gibt nunmehr, nachdem die Mutter den Anzug anerkannt hat, unumwunden zu, daß Schulz? sich unter seinen Opfern befunden habe. Der vierte Fall ist der des Schülers Roland Huch. Als dessen Vater, der Apotheker Huch an den Gerichtstisch tritt, richtet der Vorsitzende die Frage an ihn, ob er eine Schußwaffe bei sich habe. Der Zeuge verneint. Er schildert dann, wie sein Junge schon immer gern zur Marine gehen wollt«. Daß er auch einmal nach Bremen ausgerückt, dann aber wieder zruückgekehrt sei und daß er die Bekanntschast eines Jungen gemacht habe, der ihm er- zählte, er fahre an einem Donnerstag mit einem Schulschiff nach Peru . Am Mittwoch verschwand dann sein Sohn unter Mitnahme aller seiner neuen Sachen und eines Koffers. Der Vater erkennt den ihm vorgelegten Anzug wieder und meint auch noch, daß der Hut, der bei Haarmann beschlagnahmt worden ist und den Haar- mann auf einem Bild trägt, von seinem Sohn stamme. Zum Schluß richtete der Vater des Getöteten an Haarmann die Frage, wo er denn die anderen Sachen seines Sohnes aelossen habe, den Koffer usw. Haarmann : Ich habe ja den Fall Huch immer zugegeben. Aber ein Junge mit einem Koffer ist nie bei mir ge- wesen. Und überhaupt, wenn der Anzug damals ganz neue gewesen ist, wie der Zeug« behauptet, dann habe ich den Anzug gekauft und dann war der Jung« nicht bei mir. Denn immer nur, wenn es sich um schiechtes Zeug handelte, habe ich die Jungen umgebracht. In der Voruntersuchung sei erwähnt worden, daß dieser Junge eine Wunde am Bein gelgibt habe, auch davon habe er nichts gesehen. Es fei also durchaus möglich, daß der Junge nicht be! ihm gewesen sei, ober trotzdem wolle er es auf sich nehmen und auch diesen Fall zugeben. Zum Fast 6, den Mord an dem Schüler Ernst Ehren berg, wurden als Zeugen dessen Eltern und sei» dreizehnjähriger B r u- der Hans vernommen. Di« Mutter bot dann noch eirmal dringend, daß Haarmann ihr gegenüber doch dies Geständnis bestimmt abgeben würde: er habe doch noch kein« Einzelheiten von dem Ende ihres Sohnes erzählt und er wüßte doch Näheres. Im Polizei- Präsidium, so erklärt die Zeugin, habe ich an Haarmann noch die Frag< genchtct, ob er sich nicht erinnere, daß mein Lunge eine Operarionsnarbe am Unterleib hatte. Vor f.: Haarmann , wie ist das? Der Angeklagt« Haormann schüttelt den Kopf und schweigt. Zeugin Frau Ehrenberg mit tränencrstickter Stimme: I ch will doch Gewißheit haben. sLewegung.) Vors.: Haar- mann gibt so auch nach Erkennung der Sachen zu, daß er Ihren Sohn umgebracht hat, aberes warenso viele, deshalb kann er sich nicht mehr jeder Einzelheit erinnern.— Zum Fall 7, der Ermordung des I8jährigen Bureaugehilfen Heinrich Strub, der nur ein Auge hatte, betont Justizrat Bcnfey von vornherein, daß Haormann diesen Fall zugebe. Die der Haarmann vorgefundenen Sachen des Struß, Schlüsselbund. Schlips und Stutzen werden von den Eltern des Getöteten wiedererkannt. Di« Erörterung dieses Falles schließt mit einem Zmischensach Als Zeuge hierzu war nöm- lich auch ein junger Arbeiter namens Schell Hauer vernommen, der die Stutzen des Heinrich Struß im Oktober 1923 von Haormann gekauft haben will. Dieser Zeuge bekundet, daß cr Haormann und Grans vom Bahnhof her kenne. Grans habe auf ihn von jeher
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Der Mittelweg.
Don Sir Philip Gibbs. Bernhard Hall sprach dann von den„Bedingungen", dem Ersatz her Auslagen, gut bezahlte Artikel, keine bestimmte An- zahl, aber, wenp möglich, jede Woche einen Beitrag. Es war sehr annehmbar, viel besser, als Bertram zu hoffen gewagt hatte. „Wann können Sie fort?" „Morgen früh." Bernhard Hall lächelte zum zweiten Male.„Na, ganz so eilig ist's gerade nicht." Also wurde es abgemacht, und die Beiden gaben sich die Hand darauf. Als Bertram gehen wollte, kam gerade der Führer der Bergwerkspartei im Abgeordnetenhause herein und nickte ihm freundlich zu. „War gut. Ihr Artikel über die Arbeiter. Pollard. Jedes Wort stimmt." „Wie steht es mit der Aussperrung?" fragte Hall. „Na. es kam zu einem Kompromiß durch meine lange Rede." lachte her Eefragte. Bertram verabschiedete sich. Er hatte genug gehört, um zu wissen, daß der Streik oder die Aussperrung oder wie man's nennen wollte, in einem Kompromiß endete. Also hatte er recht gehabt, sich auf die Seite der Arbeiter zu stellen. Nichts von all den düsteren Prophezeiungen der Lady Ottery und ihres Kreises war eingetroffen. Es würde kein Bürgerkrieg in England ausbrechen, wenn man den Leuten nur einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren ließ. Der eng- lisch« Charakter blieb so, wie er sich in den Schützengräben gezeigt hatte, solide,-ruhig, ohne Leidenschaft. Er hatte immer den„Mittelweg" gewählt. Nun gut! Bertram würde bald draußen sein, ein Wan- derer zwischen anderen Völkern, sich in ihre Probleme und in ihr Seelenleben vertiefend. Bielleicht kam er wirklich bis nach Rußland und fand sich mit Chrlfty in Moskau zusammen. Was hotte doch damals Christy oben auf der Treppe zu ihm gesagt? „Wenn Sie nicht direkt für Untreue zugeschnitten sind, dann brennen Sie durch, sobald Sie die Treue nicht mehr halten können. Das ist am sichersten, und Moskau ist eine interessante Stadt." Seltsame Wort«! Damals hatte er sie nicht verstanden.
Jetzt begriff er ihre Bedeutung. Sie bezogen sich teils auf Joyce, teils auf Janet, Seine Treue gegen Janet war kaum mehr das Rechte. Die Versuchung zur Untreue an Christy und auch an Joyce war bereits an ihn herangetreten. Janet hatte ihn bezaubert. Der Abend damals in ihrer Wohnung war nicht das sicherste für einen einsamen Mann gewesen, den sein Weib zeitweise oder für immer verlassen hatte. Es war zu traulich da gewesen beim Kakaokochen und bei Janets fröhlichem Lachen, mit dem sie ihm ihre Weisheit und Kameradschaft geschenkt hatte. Er war auch nur ein Mensch, und sogar ein ziemlich schwacher.„Brennen Sie durch! hatte Christy gesagt. Wenn die Verlockung gar zu stark wurde, war's besser, durchzubrennen. Heroisch nicht, aber sicher! Als er später Janet berichtete, wie er ihr den größten Glückszufall seines Lebens verdankte, brach seine Stimme ein bißchen dabei. „Wann reisen Sie?" fragte sie. und auf seine Antwort: „Wahrscheinlich schon am nächsten Tage," rief sie, wie Bern- hard Hall, daß es doch nicht gar so brenne. Er aber meinte, daß es wohl eilig sei. Erstens brenne er darauf, anzufangen, und dann käme er bei längerem Bleiben vielleicht wieder in Gefahr, vor der Einsamkeit tn ihr kleines Heiligtum zu flüchten, was für ihre Geduld wie für seine Tugend gleiche Schwierigkeiten mit sich bringe. Das schien sie mächtig zu amüsieren, sie nannte ihn einen modernen Sankt Antonius und dankte Ihm für seine Huldi- gung ihrer armen Schönheit. Uebrigens ließ sie Christy grüßen, falls Bertram ihn in Moskau treffen sollte.„Wenn ich nicht mindestens einmal im Monat von Ihnen Nachricht habe, laste ich meine Blinden hier im Stich und befreie Sie aus den Händen der Bolsche- wisten." „Dann schreibe Ich gewiß nicht, damit Sie kommen." Sie redeten noch manchen Unsinn, bis er aufftand, um Abschied zu nehmen. „Es kann sein." sagte er.„daß ich Sie nicht wiedersehe." „Um Gottes willen!" rief sie zum Schein erschrocken, „wollen Sie einen neuen Krieg beglnnen?" „Nein! Aber es kann einem mitten auf der Straße auch etwas zustoßen. Jedenfalls möchte ich Ihnen nun einmal aussprechen, daß ich Ihnen ewig dankbar sein werde für alles, was Sie in Ihrer Güte und Liebe an mir getan heben. Wo ich auch sein werde, in dieser oder jener Welt, nie werde ich meinen lieben Kameraden vergessen."
Sie ließ es zu, daß er ihre Hände nahm und an seine Lippen drückte. „Sie getreuer Ritter, ich verstehe mich nicht gut auf feier- liche Reden und halte auch nicht recht was davon, aber ich war gern mit Ihnen zusammen, Herr, und es tut mir leid, daß wir nicht innigere Kameradschaft schließen können, von wegen Schicksal und so." „Vielleicht dereinst"— sagte er und brachte den Satz nicht zu Ende. Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie die ungesprochenen Worte gehört.„Sie werden zu Joyce zurückgehen. Und das ist auch am besten für Sie. Sie ist ja doch die Beatrice Ihrer Äivina Comedia." Er bestritt es nicht. Es war so.«Wenigstens ist unsere Freundschaft ewig," sagte er leise. „Abwesenheit ist die Grube des Bergeffens," sagte sie leichthin und dann sang sie: Ehe er wegging, fragte er sie mit besonderer Betonung: „Scheiden müssen heißt sterben muffen, Sterben für das, was lieb dir war!" „Und was soll ich Christy bestellen? Janet lachte und wurde rot.«Daß er nicht gerade bis nach Moskau hätte gehen brauchen. Die„überflüssige Frau" bleibt ani liebsten zu Hause und ist sehr glücklich bei ihress Blinden ." Sie begleitete ihn bis zur Treppe. „Es ist noch nicht Mitternacht," sagte er lächelnd,„wollen. Sie's wagen?" „Ohne die� Spur von Eewiffensbiffen," antwortete sie und reichte ihm zum erstenmal die Lippen zum Kuß. „Biel Glück, mon nmi!" rief sie ihm in den dunklen Schacht des Treppenhauses nach. „Herzensdankl" rief er von unten herauf. „Scheiden muffen, heißt sterben müssen." sagte sie lachend, aber wie es ihm bedünkte, zugleich sehr traurig. Er sprach den zweiten Bers:„Sterben für das, was lieb dir war." Es kamen Leute lärmend die Treppe herunter und unter- brachen seine Abschiedsworte. „Brenne dvrchl" hatte Christy gesagt. Gut, das tat er jetzt. Wie sagte Joyce?„Entweder— oder!" Am nächsten Morgen fuhr er von Folkestone nach Bou« logne hinüber. (Fortsetzung folgt.)