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Sr. 44 42. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Der Zug der Armut. funden  

, fo sendet das Zentralwohlfahrtsamt einen Boten mit einer Mietsanjahlung dorthin. Hat ein so in einer Wohnung Unter­gebrachter Beschäftigung erlangt, so tritt unter Umständen auch eine Beschaffung von Kleidungsstücken ein. Im allgemeinen aber be schränkt sich die Hüfstätigteit des Zentralwohlfahrtsamtes auf fo­fortige Hilfe im fleineren Umfang Etwa 250mal täglich werden Anweisungen auf mittagessen oder der Betrag von 25. für eine

Auf den schwacherhellten korridoren des alten Ephraim, hilflich zu sein. Diese Behausung, Schlafstelle oder Zimmer, muß schen Hauses Poststr. 16 im städtischen Zentralwohlfahrtsamt der Obdachlose selbst ausfindig machen. Hat er einen Vermieter ge fammelt fidh allmorgendlich eine Schar des Elends, Junge und Alte, Gesunde und Gebrechliche, Männer und Frauen. Manche von ihnen gehören nicht hierher, weil sie zunächst noch feste Wohnung oder 12nterkunft bei Berwandten oder Freunden haben. Es ist vielen von ihnen noch immer nicht befannt, daß für ihre Betreuung diejenigen Bezirkswohlfahrtsämter zuständig find, in deren Bezirt ihre Woh ming liegt. Nicht selten sind die Fälle, in denen Personen den Gang zum zuständigen Bezirkswohlfahrtsamt scheuen, meil ihre Berhält. tiffe dort befannt sind und fie eine Unterstüßung bereits erhalten haben. Die vom Zentralwohlfahrtsamt zu Betreuenden haben meist die Nacht vorher im städtischen Obdach in der Balme  "- nächtigt, andere haben trog des Winters im Freien Fast alle erscheinen in abgetragenen, feiner aber in ausgesprochen zerlumpter Kleidung, wie man das z. B. bei den Obdachlosen in ameritanischen, englischen oder italienischen Städten beobachten fann. Jeder Neuankömmling erhält eine Nummer und wird dann einem Beamten der städtischen Wohlfahrtspflege, der dort in Gemeinschaft mit einer Sozialbeamtin und einer Sefretärin feines Amtes waltet, zugeführt.

Barbeihilfen bis 1 Mark.

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ge geschlafen".

Der Einbrud, den die Hilfefuchenden machen, ist verschieben. Reben Arbeitswilligen, Hilfebedürftigen tommen Arbeitsscheue und Betrüger. Selbstverständlich wird eine scharfe Kontrolle geübt und jeder Hilfefuchende in eine Lifte eingetragen. Das Bestreben des Zentralwohlfahrtsamtes geht dahin, arbeitsfähigen und arbeits 10illigen Personen zunächst zur Erlangung einer festen Wohnung be.

Kalikh

Das Patrizierhaus Poststrasse 16 als Armenzuflucht.

Blendsbild im Innern des Hauses.

marme Mahlzeit in den öffentlichen Speiseanstalten ausgegeben. In einer Reihe von Fällen gelangen teine Barbeihilfen von 50 Pf. bis zu 1 M. zur Auszahlung, wenn der Bittsteller nachweislich Familie hat. Nur in Ausnahmefällen ist die Barunterstügung höher. Der Ton unter den wartenden ist ein freundlicher und geduldiger, trog, dem es schrecklich ist, daß hier erwachsene Menschen 3-4 Stunden stehen müssen, um 50 Pf. oder 1 2. zu bekommen Sie vertreiben fich die Zeit, indem fie einander ihre Leiden erzählen Auf dem kalten Steinfußboden des Asyls zu 5 Personen nebeneinander zu schlafen und mit Wasserfuppe ernährt zu werden, regt wohl auch jeden zu traurigen Betrachtungen an.

Die Entlaffenen.

Biel Gorge macht dem Zentralwohlfahrtsamt die Betreuung enflaffener Strafgefangener. Für diese ist bei uns zurzeit nur in unzureichendem Maße gesorgt. Leider wird immer von neuem die Erfahrung gemacht, daß Arbeitgeber den ehemaligen Sträfling sofort entlassen, fobalt ihnen das Borleben befannt wird, auf dem Lande also gewöhnlich schon bei der polizeilichen Anmel dung. Hierdurch wird der so vor de: Arbeitsstelle Berjagte immer

natürlich,

Der Apfel der Elisabeth Hoff. ah, die iſt es, nicht die andere, fie iſt es, nur um zehn

5]

Bon Wilhelm Hegeler  ..

2.

Jahre an ärmer. und

Während das Auto vorfuhr, gingen Elisabeth und Ryseck zu Fuß nach Haus. Die menschenleere Borortstraße war mit zwei schnurgeraden Reihen junger Ahornbäume bepflanzt. Hinter den eisernen Gittern erstreckten sich schmalere oder breitere Rasenstücke, die von Rhododendron- oder Rosen­beeten unterbrochen waren. Die hochstämmigen Rosen standen frumm gebogen, andere trugen um die Kronen noch seltsame Kapuzen von Delpapier. Dann und wann, meist an einer Straßenede, trat ein Doppelhaus vor mit einem Lebensmittel­laden im Erdgeschoß. Dort herrschte auch ein wenig Berkehr von Bürgerfrauen und Dienstmädchen, zwischen denen ver­einzelt eine besser angezogene Dame zu bemerken war. Die meisten Häuser lagen hinter den Rasenrabatten, bescheidene zweiſtöckige Einfamilienhäuser, manche von grotester Romit durch den Versuch, etwas Besonderes vorzustellen, eine Burg etwa mit Zugbrücke und Turm oder eine römische Billa   mit flachem Dach, jonischen Zementfäulen und blechernen Aloen auf dem Absatz der aus drei Stufen bestehenden Freitreppe... die meisten aber waren mit grauer Delfarbe angestrichene und mit glasierten Ziegeln bedeckte Steinfästen, deren blante Fenster auf helle, fauber gehaltene Stuben schließen ließen, nüchterne Behälter für ein anständiges, ordentliches Leben, ohne Erregungen und ohne Schicksale. Und eines solchen Hauses echte Bewohnerin schien dem Fremden seine Be­gleiterin zu sein, deren Erscheinung in dem unkleidsamer Tuch mantel und dem einer unbekannter Mode entstammenden Hut ihn in nichts mehr an das junge Mädcher erinnerte das ihm und dem er einstmals beinahe zum Schicksal geworden

wäre.

Da Elifabeth herausgerufen wurde, blieb Rnfed einen Augenblid allein. So hatte er Zeit, über die Lösung feines Herzensabenteuers nachzudenken und hatte Luft, fich vor Lachen auszuschütten. Er hatte sich jede erdenkliche Form Don Enttäuschung vorgestellt, nur gerade die nicht, die ihm widerfahren war. Er hatte sich geradezu fuggeriert, es müsse eine Enttäuschung sein. Aber er war nicht darauf gefaßt ge­wefen, diese Frau, deren Bild er fo lebendig in fich trug, als hätte er es tagtäglich auf seinem Schreibtisch vor sich gehabt, mit ihrer Schwester zu verwechseln und dann bei ihrem Wiedersehen nichts zu empfinden als die nüchterne Regung:

Und darum ein solcher Gefühlsaufwand! Zehn Jahre sehnsuchtstrant und dann in einer Sefunde turiert. Eine verdammt radikale Kur!

Dienstag, 27. Januar 1925

wieder von neuem in den Sumpf gestoßen. Nachdem die frühere Hilfsstelle des Vereins zur Befferung der Strafgefangenen infolge der Inflationsschwierigteiten längere Zeit geschlossen werden mußte, dürfte es möglich sein, diese Stelle in der Grunerstraße als gemein­fame Einrichtung der Zentralarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege und des Vereins von Mitte Januar ab wie der zu eröffnen. Hiervon fann nicht nur eine erhebliche Entlastung der Hilfsstelle im Sentralwohlfahrtsamt, sondern vor allem auch eine eingehendere und wirksamere Betreuung der entlassenen Strafgefan­genen erwartet werden. Oftmals nahen sich auch Betrüger, die unter allen möglichen Vorwänden eine Unterstützung erschwindeln wollen. Meift fehren immer dieselben Versuche wieder. Da ist das auf dem Bahnhof hinterlegte Gepäck, das ausgelöst werden soll. Wer langt der Beamte Vorlegung des Gepädfcheins, fo ist ein solcher nicht auffindbar. Beliebt ist es auch, einen vorhandenen Gepäckschein ein zweites Mal durch eine andere Person zur Einlösung vorlegen zu lassen. Ein besonderes Rapitel bilden die Fahrkartenschwindler, die eine Karte zur Heimreise erbitten, um sie dann auf dem Bahnhof zu verschärfen". Diese Fahrkarten werden aber auf bem Zentralwohlfahrtsamt überhaupt nicht ausgestellt, sondern die Antragsteller an das Fahrscheinamt im städtischen Obdach ver­wiesen, das auch schon recht merkwürdige Erfahrungen mit Ber­fonen, die nicht abgereist oder auf der nächsten Station wieder aus­gestiegen find, gemacht hat. Unter den Ausländern, die das Zentralwohlfahrtsamt aufsuchen, wird das Hauptfontingent von den Bolen gestellt, meist Landarbeitern, die im Winter teine Arbeit haben und angeblich ohne Mittel sind, obgleich sie im Sommer oft burchaus annehmbare Einnahmen gehabt haben. Die von den Hilfe­suchenden vorgelegten Ausweise reden eine verständliche Sprache. Da ist zunächst der Entlassungsschein aus der Untersuchungshaft, mit dem der unschuldig Festgehaltene nach Wochen fast mittellos auf die Straße gejetzt wird, und der Entlassungsschein aus dem Gefängnis, der durch eine polizeiliche Anmeldung ersegt werden muß, da sonst faft jede Beschäftigungsaussicht illusorisch wird. Daneben taucht an­dauernd die Invalidenkarte Nr. 1 auf, oft nur mit wenigen Marken versehen. Die früheren Starten find angeblich verloren, ebenso die Aufrechnungsbescheinigungen. Die Papiere find zerriffen, fettgetränkt, oft taum noch leferlich, eine Folge des furchtbaren Lebens ihres In­babers. Saubere, menig abgenutzte Legitimationen sind in der Minderzahl

Es ist ein langer Zug der Armut, der alltäglich hier 7 und 8 Stumben am Bult der Fürsorgebeamten vorbeiwandert. Geduld und Menschenliebe müssen dazu gehören, ben schweren Posten der Abfertigung all diefer Hilfefuchenden auszufüllen. Erbitterte Klagen merden ab und zu laut. Was soll der am 22. Dezember mit 3 M. in der Tasche entlaffene Strafgefangene mit 50 Pf., die ihm hier zuteil merden. Er findet zunächst teine Arbeit, und die sofort der Haft folgende Rette schärffter Entbehrungen untergräbt feinen Mut und feine Energie mehr als nötig. Ebenso ist es mit den aus dem Krantenhaus Entlassenen. Geschwächt und stumpfsinnig verstehen fie hier ihre Zeit. Wenn es möglich wäre, den Charakter der Wohlfahrtspflege auf ein etwas freundlicheres Niveau zu bringen, anstatt die Armen der gegenseitigen monotonen Suggestion des Elends zu überlassen, würden viele ficher schneller zu einer normaleren Daseinsform zurüdfinden.

Die Kirchenwahlen in Berlin  . Außerordentlich starte Beteiligung.

Die Kirchenwahlen fanden in Berlin   in 34 von 77 Gemeinden am legten Sonntag unter außergewöhnlicher Beteiligung ftatt. Es waren dies die ersten Wahlen seit dem Inkrafttreten der neuen Kirchenverfassung. Su 43 Gemeinden waren Einheitslisten aufgestellt worden, die vielfach Bertreter aller firchlichen Richtungen enthielten. Hier wurde auf die Wahl verzichtet. In einzelnen Be ziren war der Andrang im Wahllofal so groß, daß es oft den An­schein hatte, als ob die Wahlleitungen dem nicht gewachsen seien. Häufig wurde den Wählern mitgeteilt, daß sie nicht in der Wähler­lifte eingetragen seien. Hinterher stellte sich dann vielfach heraus, daß diese Auskunft falsch war. Dadurch war ein großer Teil von Mitgliedern der Kirche, die Jahrzehnte lang ihre Kirchensteuern ge­zahlt hatten, an der Ausübung ihres Wahlrechtes verhindert. Ueberall dort, wo die religiösen Sozialisten mit eigenen Listen auftraten, tonnten sie Erfolge erzielen. Sie find natürlich in der Minderheit geblieben, wie das ja von vornherein nicht anders zu erwarten war. So fonnten sie in Neukölln von 75 Sizen

Als die Tür sich öffnete, blidte er hastig auf. Aber nicht Elisabeth, sondern zwei Kinder traten ein, ein halbwüchsiger Knabe und ein fleineres Mädchen, die rechten blassen deut­schen Hungerfinder, für die man drüben allerwärts gesammelt hatte. Sie gaben ihm die Hand und nannten ihre Namen. Er war nach drüben gegangen, als Flüchtling, Hals über Dann fagte der Knabe, feine Mama ließe sich einen Augen­Kopf, mit der Absicht, dort sein Glück zu machen, das heißt, blik entschuldigen. Sie hätte geschäftlich mit einem Herrn zu es zu Geld zu bringen, und er hatte sein Ziel erreicht Er Er sprechen, der aber gleich wieder fortgehen würde. Rysed hatte nie die Absicht gehabt, drüben zu bleiben, und sich, des- ftellte ein paar frostige Fragen, welche die beiden veant­halb auch nie dort heimisch, gefühlt Immer hatte er von worteten, um sich dann bald, da sie merkten, daß ihre Gegen­der Rückkehr in das alte Vaterland geträumt, hatte den Um- wart lästig fiel, zurückzuziehen. gang mit den Deutschen   eher gemieden als gesucht und war vor allem denen, die drüben ein anderes Deutschland   mit den Sitten und Erinnerungen und sentimentalen Feiern der Heimat sich geschaffen hatten, aus dem Wege gegangen. So lange er in Amerika   war, wollte er Amerikaner Jein, aber bei aller Konzilianz seines Benehmens hatte er doch in jedem den Fremden, den Menschen gesehen, der ihn ausbeuten wollte und der es darum nicht besser verdiente, als selbst ausge­beutet zu werden.

So war er allein geblieben und hatte wohl Bekannte und Geschäftsfreunde, aber feinen Freund gefunden, ein Jung­gefelle, der seine geselligen Bedürfnisse im Klub befriedigte und der heimlich, ohne daß es jemand ahnte, in seiner ein­samen Wohnung oder mitten im Menschengewühl jenen ichmerzlichen Ballungen unterlag, die man Heimweh nennt. Die Heimat aber, das weite, bunte Land der Erinnerungen an Elternhaus, an Schul- und Studentenzeit alle Wege darin mündeten in die kleine Stadi wo er der schönen Elisa­beth Fritsch begegnet war unt jene Liebesleidenschaf: durch­gemacht hatte die vor seinen bisherigen Leben sich unter schied wie eine Fiebernach vor nüchternet Alltäglichkeit Ale Wege führten, ohne daß der Geist des seinen Träumen Nach hängenden lange auf ihnen verweill wäre, zu jenen Som mertagen in der fleiner Stadt als wären sie die eigentlich helle, eigentlich bewußte Epoch eine: Lebens Denn alle Vergangenheit war Bergangenheit etwas Fertiges und Er­ledigtes, das nur als Erinnerung fortbestand, dies Eine aber war mitten in einer Entwicklung unterbrochen worden, hatte einen widersinnigen Abschluß gefunden, der fein Ende war. Ungeduldig sah er nach der Uhr. Wo mochte sie so lange fteden? Wahrscheinlich machte sie nach deutscher Sitte einen großen Haufen Butterbrote zurecht. Oder sie 30g ein anderes Kleid an. Der Teufel sollte die deutschen Frauen holen, die fich erst umziehen mußten, um präsentabel zu fein.

Einige Augenblicke später trat Elisabeth ein, doch meder mit Butterbroten noch in einem anderen Kleid.

,, Verzeihen Sie, aber ich mußte mit einem Landsmann Sie verwechselt hat." von Ihnen sprechen. Es war derselbe Herr, mit dem Margret

Rysed erkundigte sich nach den Lebensverhältnissen in Deutschland  . Es bereitete ihm ein höhnisches Bergnügen, das Gespräch in diesen banalen und unpersönlichen Bahnen zu halten.

Nachdem Elisabeth ihm einige Male ruhig geantwortet hatte, unterbrach sie ihn:

,, Erzählen Sie doch lieber von sich. Wie ist es Ihnen denn drüben ergangen?"

,, Gut. Glänzend sogar! Ich fann nur sagen, ich beglüc wünsche mich zu... dem Unglück, das mich veranlaßt hat, nach drüben zu gehen."

,, Das freut mich. Das kann nicht jeder von sich lagen." ,, Weil die meisten mit förichten Erwartungen hinüber­gehen Ich habe nichts erwartet, aber desto mehr gefunden. Es lebt sich da drüben in jeder Beziehung ausgezeichnet. Reinen Augenblic habe ich mich zurückgesehnt."

,, Wo lebte es sich nicht gut, wenigstens besser, als augen blicklich in unserem armen Deutschland  !"

Ich meine nicht nur die äußeren Berhältnisse. Man hat hier ja ganz falsche Borstellungen von den Amerikanern, als wären es lauter business men, die immerfort auf der Jagd nach dem Dollar sind. Es gibt bei uns ich sage bei uns," fügte er herausfordernd hinzu ,, ebenso viel gebildete Men­schen mit geistigen Bedürfnissen wie hier. Uebrigens fommen ia alle hervorragenden Kapazitäten, Gelehrte, Künstler, Musiker nach drüben. Man leidet da wirklich feinen Mangel ( Fortjehung folgt.)