."sr..____ Unterhaltung unö Missen
Der Irieüensengel.
Die Grgelprobe. Novelle von Aranz Molaar.* Die Wand der SJirtf� leuchtete in einem schwachen Weiß unter der milden Märzsanne. Bon den Vergen bringt zarter Wind halb- welke berauschende Düfte heran, und es ist, als ob diese beizenden Düfte der Niederschlag, der Bodensatz des riesig sich spannenden Himmels wäre, dicker, geballter als die übrige Lust, die dünn, blau, sonnengetränkt über der Ber�andschast zittert. Rings um die Kirche leuchten die bunten Grabsteine. Es ist früh am Nachmittag. Die Märzluft atmet ein« lau« Kühle, noch von Schauern durchweht, aber doch schon etwas wärmllch. In der Tür stehen das Mädchen und der Lehrer. Don irgendwo kommt ein /sind und läuft an ihnen vorbei in die Kirche hinein. .Da ist er ja schon,* meint der Lehrer..Dann können wir ja hineingehen.* Und sie gehen hinein. Das Kind war gekommen, um den Blas- balg zu treten. Sie haben nämlich eine kleine Orgel w der Kirche, und jetzt gehen sie, auf ihr zu spielen. Denn das Mädchen wird /ich verheiraten, und nur drei Tage trennen es noch von der Hochzeit. Auf ihr wird der Lehrer Orggl spielen, und das muß geprobt wer. den. Denn sie ist ein« Beamtentochtcr, ein Fräulein aus dein Dampf« sägewerk, und der sie heiratet— ein rotwangiger, starker Mann— ist ebenfalls kein Bauer, sondern Msenbohnbeamter: es ist der Herr Inspektor, der Ausseher Ludwig Schön. Er hat eine braune Samt- wcste, bezieht ein Iahresgehalt und ist ein gesunder Mann, und, wie gesagt: der Herr Inspektor. D'e Noten, die der Lehrer hält, sind der Brautmarsch aus Lohen» grin, für Klavier gesetzt von P. I. . Kapellmeister zu Innsbruck . Das Mädchen hat Blumen in der Hand. So gehen sie beide in die kühle Kirche hinein. Das Mädchne hat heute schon das Brautkleid anprobiert; nun wird es auch die Hochzeitsmusit probieren. Es kommt darauf an, ob sie langsam herauskommen sollen und wie langsam, denn nach Ansicht des Lehrers ist es schön, wenn der Marsch gerade dann zu Ende ist, wenn sie an der Schwelle angelangt sind. Das haben sie gestern abend besprochen. Das Mädchen hatte den Lehrer nicht gcrusen, sondern der Lehrer war von selbst am Abend zu dem Mädchen gegangen. Zum letzten Male gehe ich zu ihr— dachte er. Aber darum band er sich doch die blaue Krawatte mit den weißen Punkten um. Man braucht ja gar nicht ein armer Dörfler zu sein: wir glauben alle, daß selbst in der letzten Minute eine Krawatte oder ein anderes Nichts noch helfen kann. Er sprach nur wenige Worte. Das Mädchen erwartete Ludwig Schön, und ihre Augen übersahen Krawatte und Lehrer. Wenigstens aber gelang es ihm, die Orgelprobe zu besprechen. Der Lehrer freute sich daraus: sie würden allein zu zweien sein, so wie einst, da er dem Mädchen vielerlei erzählt und vorgeseufzt hatte. Und jetzt heiratete sie doch einen anderen. Und er war so traurig, daß er sich sogar aus die Orgelprobe noch freuen konnte. Sie war das- selbe für ihn, wie das weißgepunkte Halstuch, und beides nichts anderes als jenes gewisse..noch einmal*, jenes»nur noch einmal*. jenes.zum letztenmal*. Dies dachte er gestern abend. Heute denkt er es nicht mehr. Denn er sieht des Mädchens Augen, die kalt leuchten: ohne Sehnsucht, Gedanken, Empfindsamkeit und genau so ruhig, wie die Liebe, die Ludwig Schön wecken kann. Ludwig Schon ist kein aufregender Mann. Und so, durch einen erkennen- den Seufzer hindurch wird der Vorwand zum Ziel: es wäre tatsäck. sich gut, auszurechnen, wann der Marsch zu beginnen sei. damit die Hochzeitsleute unter feinen Klängen bis zur Schwell« schreiten könn- ten. Der Lehrer denkt an die Takte, und so kommt ihm die Melodie in den Sinn. Schon im voraus singt in ihm der Marsch, und seine Augen erglänzen. In solchen Augenblicken strömen die Tonwellen in seine Fingerspitzen Dort sammeln sie sich, erwarten vibrierend die Taste, durch die sie befreit sich in Musik lösen. Der Knabe kantiert schon oben auf der knarrenden Diele. Dann erscheint ein mageres, knochiges Gesicht neben der Orgel: der Lehrer. Das Mädchen sitzt auf der ersten Bank. Er ruft hinunter: „Nicht io nahe!*- Das Mädchen erhebt sich und geht fünf Bänke weiter nach hinten. Dort setzt sie sich. .Ist es so gut?* „Ja-* Stille. Dann beginnt der Knabe zu arbeiten und die kleine Orgel ertönt. Zuerst langsam, ein Akkord brummt sehr tief, der andere pfeift sehr hoch. Dann nähern sie sich, schmelzen ineinander, und jetzt beginnen die Töne aus den Pfeifen zu strömen, stürzt die Melodie herab, kommt stürmend, bedrängt das Herz des Mädchens — diese kriegerische Hochzeltsmusik, Lohengrins wafsenklirrende, ge. panzerte, soldatische Liebeshymne, worin die Weichheit und die Liebe sich in den Winkeln jauchzenden Heldentempos verstecken, wie Loben- grins weißes Gesicht und mädchenhafte Hände unter all dem Eisen kaum zu sehen sind. »Ah/ sagt das Mädchen zu sich selbst— vielleicht denkt sie es auch nur,„der schwindsüchtige Lehrer ist in Feuer geraten!* So denkt dos Mädchen, denn es ist dumm, auf kalte, schöne Art dumm. Es freut sich seiner Rundlichkeit, kann nicht erregt sein und findet alle Dinge in Ordnung: Da» Gras ist grün, die Männer machen ihr den Hof, der Lehrer ist brustkrank, und abends legt man sich zu Bett und schläft bis zum Morgen. Wer Geld hat. ist reich, wer keins hat.�ist arm. Es gibt viele Männer auf der Welt, ober Ludwig Schön hat ihr den Hof gemacht, und sie wird Frau Schön, und Ludwig Schön ist auch dumm. Der Lehrer ist klug, arm und brüst- krank. Hier war die Wahl wirtlich nicht schwer. Es ist alles in Ord- nung. lind warum gerät der Lehrer nun doch in Feuer? Da_ erklingen milde Töne. Der behelmte Ritter wird weich. Der keusche Gralsheld singt süß vor dem Burgfräulein. Dann kehrt das soldatische Donnern, die hämmernde, stürmende Liebe zurück. Jetzt tönt es wieder stärker aus der Orgel, jetzt ist die Kirche erfüllt davon, und das Mädchen�will nicht lächeln, denn diese Musik schmerzt sie ein wenig. Ludwig schön würde sie überhaupt nicht schmerzen, und das Mädchen schmerzt sie auch nur insofern, als sie Mädchen ist und weil der Lehrer sie spiesi, seurig, hesiig, der kluge, arme und brustkranke Lehrer, der jetzt gleichsam all seine Klugheit, all seine Armut und sein allabendliche» Fieber in den Marsch hineinmusi- zieren möchte Sonnenschein sällt durch das Fenster. . Was ist das?— fragt das rundliche Mädchen bei sich. Der kleine, lumpige, magere Mann... Er ist arm und ersüllt doch die Kirche so mit seiner Musik. Woher hat er das? lind sie fühlt, daß jetzt der Lehrer Herr in der Kirche ist. Er spricht eine Sprache� die das Mädchen nicht versteht. Irgendwo in den Bergen, in einer kleinen Ksicke, spiesi ein kranker, verliebter Mann Wagner. Das unbekannte Gefühl beunruhigt das Mädchen. Wer sind die, die in dieser tönenden Sprach« zueinander reden? Svricht vielleicht-der Lehrer mit dem Tosen ferner, großer Städte? Singen gestorben« Künstler über die Berge ihm zu? Da» Mädchen bvät in der Kirche umher, denn plöglick beginnt es sich hier als Gast zu fühlen. Zu wem gehört der Lehrer? Zu den Kranken, Klugen. Armen. Fühlenden... wer sind die? Ist er einer der ihren, der sich jetzt zurücksehnt zu ihnen? II,re Augen öffnen sich weit. Gewaltig wird der Lehrer an der Orgel. Als hätten bisher der Rhythmus der Melodie und sein Pulsschlag einander gemieden. Jetzt finden sie sich: dos Blut rinnt in des Lehrers Adern nach der Melodie: sein Fieber schlägt den Takt zu den Klängen de« Marsche «: der Lehrer musiziert mit seinem ganzen elenden Leben aus�der Orgel. Als zöge sich ein goldiger,
seidiger Vorhang vor dos Fenster: der sonnige Strahl oerschwindet. Kühle weht durch die Bänke. Pon der Decke strömt jetzt der Marsch, zürnt gegen die dummen, schönen Mädchen. Anklagend singen sie alle: alle fühlenden Klugen der Welt, die Armen, die Kranken, die Mageren, die mit den warmen Augen— singen gegen das volle, weiße Fleisch, gegen rote Lippen, weiße Zähne, blitzende Augen, wo- von frei zu werden doch so gut wäre, was geringschätzig zu belächeln und zu verachten, zu lassen, zu vergessen, auszulachen so gut wäre — wenn wir nur nicht Männer wären, junge Männer wärenl Der Lehrer klagt an, beschwert sich, weint droben auf der Orgel, und der Atem seiner gerechten Not schlägt gegen das üppige Mod- chen. Einen Augenblick hat sie dos Gefühl, als wäre Ludwig Schön ein großes Stück Diamant. Jetzt erhebt sie sich von ihrem Platze und vergräbt das Gesicht in die Blumen. Vor die Kirchentür fällt ein Schatten. Ludwig Schön kommt. Er nickt mit dem Kopfe. Das Mädchen geht ihm langsam ent- gegen. Sie geht aus der Kirche hinaus. Draußen zwischen den weißen Grabsteinen küssen sie einander. Arm in Arm kommen sie von dem kleinen Hügel herunter. Sie gehen langsam, ruhig dahin. Noch tönt hinter ihnen die Musik, aber sie sprechen schon von Rechts- anwasi Homorodi, der gerade mit seiner Frau zur Hochzeit aus Pest gekommen ist. Bald sind sie verschwunden. Jetzt spielt der Lehrer noch einige Akkorde. Dann endet er. Ein paar letzte Töne summen noch zwischen den Wänden. Der Lehrer wartet, bis sich der viele geweckte Widerhall niedergeschlagen hat, wie der feine Staub nach einem Ball. Langsam füllt Stille wieder die tülilen Winkel. Der Lehrer tritt aus der Kirche heraus und blickt umher. Sein mageres, kluges Gesicht ist sehr rot. Er zündet sich eine Halbekreuzerzigarette an, tut einen Lungenzua und hlöttert in den Roten. _ Dann setzt er sich auf die Steinbank und denkt, daß Ludwig Schön zweihundert Iobre leben wird.— Sonst geschieht gar nichts weiter, dos war da» Ganz«.
verbrecherseminare. Schon im Jahre 1914 hat Prof. Dr. Aschaffenburg. Köln , der Autor des bekannten Buches„Das Verbrechen und seine Bekämpfung* der Schaffung von„V e r b r e ch e r k l i n i k e n* das Wort geredet. Die studierenden Juristen sollten hier die Möglichkeit erhalten, ähnlich ihren Kollegen von der medizinischen Fakultät, den rechtsbrccherischen Menschen in seiner Gesamtpersönlichkeit, in seiner physischen und psychischen Struktur umer sachkundiger Führung des Strafrechtslehrers und des kriminalistisch orientierten Psychiaters kennenzulernen. Vorlesungen aus dem Gebiete der Kriminalogi« sollten den klinischen Hebungen das nötige Rückgrat gewähren. Das
Problem war damals Gegenstand eifriger Diskussion. Es fehlte auch nicht an Versuchen, in Ferienkursen oder in episodischen Vorlesung»- reihen der Verwirklichung dieser Forderung in Deutschland näher- zutreten. Im allgemeinen aber blieb alles beim alten. Das Verdienst, bahnbrechend auf dem Gebiet der kriminalistischen Vorbildung zu wirken, gehört Oesterreich . Dort lebte und lehrte ia auch in Graz der bekannte Kriminalpsycholo�e Pros. Groß, der eigentliche Vorkämpfer auf dem Gebiete der Kriminalogi«. Sa ist denn in Graz unter Leitung von Pros. Lenz ein Kriminal- biologisches Seminar* ins Leben gerufen worden. Allwöchentlich finden im Gefängnis unter Teilnahme eines Psychiaters zweistündige praktische Hebungen statt, bei denen vier bis sechs Sträflinge demonstriert werden: diese werden unter einem bestimmten Gesichts- punkt ausgewählt. Bald sind es solche, deren körperliche oder neuro- patische Konstitution zum Gegenstand der Erörterung gemacht werden, bald ist es die intellektuelle Beschränktheit oder die Ge> sühlsstumpfheit. die sie eint. Dann sind es wieder die Verwahr- losten oder die Erregbaren, die Triehhaften, die Alkoholiker oder die Landstreicher usw. Der Einführung folgt die aktive Teilnahm« der Zuhörer. Die Demonstration besteht aus der Widergabe des Verbrechentatbestandes und des Urteils durch den Berichterstatter, der den Fall aus dem Studium der Gerichlsakten und dank der Fühlungnahme mit den straffälligen und den Strafvollzugsbeamten bereits kennt: ferner aus der körperlich neurologischen Untersuchung, aus der autobiographischen Erzählung und aus dem Befragen des Demonstrierten.'Nach einer Abführung folgt die zusammenfassende Darlegung des Leiters. Der Demonstratio» geht am Vormittag ein zweistündiges Kolleg über ein entsprechendes kriminalbiologisches Problem voraus. Aehnliche klinische Hebungen, wenn auch nicht ganz gleich- wertige. bestehen in Wien . Auch in Moskau ist in Verbindung mit dem„Kabinett zur Erforschung des Verbrechens und des Ver« brechers* eine Kriminologische Klinik* geschaffen, in die Unter- suchungsgefangene zwecks psychologischer, anthropologischer und sonstiger Untersuchungen eingeliefert werden. Die Resultate der Durchforschung des Patienten werden bei Gelegenheit der Demon» ftration einem größeren Zuhörerkreis zugänglich gemacht. Es er- scheint jedoch fraglich, ob Untersuchungsgefangene geeignete Objekte ssnd. Es wäre an der Zeit, auch in Deutschland ahnliche Versuche wie in Oesterreich anzubahnen. L. R.