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Abendausgabe

Nr. 398 42. Jahrgang Ausgabe B Nr. 196

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Vorwärts

Berliner Dolksblatt

10 Pfennis

Montag

24. August 1925

Berlag und Anzeigen beetlung: Geschäftszeit 9-5 Uhr

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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Die Sicherung des europäischen Friedens.

Diskussion in Marseille über Genfer Protokoll und Paktpolitik.

V.Sch. Marseille, 24. Auguſt( Eigener Drahtbericht). Die Sonntagssigung des Kongresses unter Vorsiz von els gestaltete sich zu einer großartigen Rundgebung der internationalen, insbesondere der deutsch - französischen Frie­denssolidarität und zwar dank der glänzenden Reden Hil­ferdings und Blums, die ähnlich wie ihre Reden in der unvergeßlichen Sizung des Hamburger Kongresses den Höhepunkt der Berhandlungen bildeten. Damals wielen die felben zwei Genossen auf den tragischen Paroxysmus des Ruhrkrieges hin, bei dem es das Schlimmste zu verhüten galt. Jezt gilt es, auf die Friedensschritte bürgerlicher Regierun­gen einen sozialistischen Einfluß auszuüben.

Zunächst referierte Charles Burton- England über ben Spezialpunkt Abrüstung". In furzer, nüchterner Rede nach englischer Art verlangte er, daß der Kongreß nur all­gemeine Direktiven erteile. Er betonte die Notwendigkeit all­seitiger und völliger Entwaffnung und bekannte sich zum Genfer Protokoll, ohne allerdings den Sicherheitspakt direkt zu verwerfen, da dieser einen Fortschritt bedeute. Aus seiner Rede ging die unbedingte Anhängerschaft der Labour- Party zum Bölkerbund, nicht zuletzt als Instrument zur Revision der Friedensverträge hervor.

Nach ihm sprach Hilferding als erster der drei Refe­renten über den Kampf der sozialistischen Arbeiterschaft für den Frieden. Seine Rede war ein Meisterstück im logischen Aufbau und zwang auch durch ihre Argumente und ihre Leidenschaftlichkeit alle Zuhörer in ihren Bann. Sowohl die Rede selbst wie die Uebersetzungen wurden wiederholt durch stürmischen Beifall unterstrichen, der namentlich aus dem zahlreich erschienenen Marseiller Publikum erschallte. Be= fonders wirkungsvoll waren die Stellen, in denen Hilferding erklärte, daß die Arbeiterklasse jetzt durch ihre Fortschritte auf dem Boden der Demokratie Kriege unmöglich machen fönne, wenn sie sich nur ihrer Macht bewußt werde und sich auf diese Macht stütze. Ebenso wirkungsvoll war der Hin weis auf den Pattgedanken, als wichtigste Etappe zum Genfer Protokoll, für den die deutsch - französische Entspannung die Voraussetzung sei, aus dem sich Friedenssicherungen ganz von selbst ergeben würden. Auch die Gefahr einseitiger Abrüstun­gen wurde von Hilferding sehr glücklich formuliert. Einerseits berge sie die Gefahr in sich, daß Starfe ihre llebermacht miß brauchten und andererseits, daß die Nationalisten der besieg­ten Länder nicht die Abrüstung bei den Siegern, sondern die eigene Aufrüstung erstreben würden.

Die lebhaft applaudierte, inhaltsreiche Rede Hilferdings wird noch in ausführlichem Wortlaut wiedergegeben werden müssen, ebenso die hinreißende Rede Blums, der übrigens viel länger sprach und wiederholt Ovationen hervorrief. Be sonders eindrucksvoll war, wie Blum darlegte, was die sozia­listische Internationale, namentlich seit dem Hamburger Kon­greß tatsächlich erreicht hat. Die Frankfurter Fünf- Länder Konferenz vom Jahre 1922 war der erste Schritt zur Lösung des Reparationsproblems durch das Dames- Abkommen. Der Sicherheitspaft ist legten Endes eng verwandt mit den Vor­schlägen der Berliner Fünf- Länder- Konferenz 1923. Ueberall zwingt die sozialistische Internationale die bürgerlichen Regie­rungen, sich allmählich ihre Vorschläge zu eigen zu machen. Auch diesmal müsse die Internationale die bevorstehende Bölterbundstagung beeinflussen. Blum richtete einen Appell an die englische Arbeiterpartei, der sozialistischen Einheitsfront in der Pattfrage beizutreten und nicht, wie Burton angedeutet hatte, die Handlungsfreiheit für sich zu beanspruchen. Dies dürfte die heikelſte Frage des Marseiller Kongresses sein, da aus der Rede Burtons die Tendenz der Engländer hervorgehe, den Sicherheitspakt zwar nicht zu bekämpfen, aber auch nicht positiv zu unterſtüßen. Demgegenüber wies Blum unter tofendem Beifall des Kongresses auf die deutsch - franzö sische Einheitsfront in der Pattfrage hin, die neuer­dings dadurch in die Erscheinung getreten sei, daß er als französischer Deputierter eigentlich dieselbe Rede gehalten habe, wie soeben Hilferding , und dies, obwohl er ein ebenso guter Franzose, wie Hilferding ein guter Deutscher sei. Wegen vorgerüdter Stunde wurden die Uebersetzungen der Rede Blums auf Montag morgen vertagt, wo noch Hil­quitts drittes Referat zu diesem Punkte der Tagesordnung gehalten werden soll. Am späten Abend trat unter Friedrich Adlers Vorsiz die Kommission für Ostfragen zu­sammen, in der zunächst Otto Bauer , wien , sehr wirkungs­voll die Kriegsgefahren auf dem Balkan , sowie in der Nachbar­fchaft Sowjetrußlands schilderte und die Vorschläge für eine Resolution skizzierte. Nach ihm vertrat Dan als Vertreter der russischen Sozialdemokratie den Standpunkt, den bereits Bauer angedeutet hatte, daß die Autofratie in Som jetrußland an sich Kriegsgefahren in sich berge und daß die Internationale, um den Östfrieden wirklich zu sichern, auch die demokratische Entwicklung in Rußland fördern müffe.

Marseille , 23. August.( Eigener Drahtbericht.) Der erste eigent­fiche Arbeitstag des Internationalen Sozialistentongresses war der Friedensidee gewidmet. Bevor Genosse Wels als Vorfigen­der das Wort zur Tagesordnung erteilte, wurden mehrere Glüd­

wunschtelegramme bekannter Parteifreunde aus dem Auslande ver­lesen, denen sich die Trauerbotschaft von dem am Sonnabend erfolgten Tode des holländischen Genossen van Kol anschloß. Der Ver­storbene war einer der alten Kämpfer, der bereits 1894 der ersten ländischen Partei die Treue gehalten hat. Sie verehrte in ihm, wie Sektion der Internationale beitrat und bis zu diesen Tagen, der hol­nahm, einen ihrer besten Vertreter, dessen Name in Holland und in man qus einer furzen Gedächtnisrede des Genossen Bliegen ent­der internationalen Arbeiterbewegung unvergeßlich sein wird. Als letzte Ehrung und letzter Gruß soll am Grabe van Kols im Auf­trage des Kongresses ein Kranz niedergelegt werden. Bei starker Anteilnahme der Delegierten wurde dann vom Eng­länder Burton der erste Punkt der Tagesordnung:

Die internationale sozialistische Friedenspolitik" behandelt. Burton ist in Uebereinstimmung der englischen Arbeiter­partei mit uns Deutschen in dem großen Ziele einig, den Frieden durch Schiedsgerichtsverträge und allgemeine Abrüftung sichern zu helfen. Er sieht aber allein im Genfer Protokoll die Möglichkeit einer ausgesprochenen Verständigungspolitik, während der jetzt zur beschränkte Verständigung gestatte. Deshalb will die Debatte stehende Sicherheitsvertrag nach seiner Meinung nur eine englische Arbeiterpartei an dem Genfer Protokoll festhalten. Das System der beschränkten Garantien soll überhaupt nur dann ihre Zustimmung finden, wenn es begleitet ist von einem Einvernehmen, das eine Revision der Friedensverträge gestatte, wie sie im Art. 19 der Völkerbundsakte vorgesehen ist. gleitete Rede des Genossen Die groß angelegte und wiederholt mit stürmischem Beifall be­

Hilferding

zeigte trotz gewisser Meinungsverschiedenheiten die starke Ueberein­stimmung mit dem von allen Parteien der Internationale erstrebten Ziele, der Sehnsucht nach Sicherung des Friedens. Er bezeichnete den Kampf gegen den Krieg als ein Stück Eristenzgrundlage der internationalen Arbeiterbewegung. Heute wie früher ist uns dieser Kampf heilig. Was sich geändert hat, ist die Methode des Kampfes. In besonders glücklicher und allgemein verständlicher Form wußte Hilferding das näher darzulegen.

aufstellte, im Geiste der Ueberwindung der zwischenstaatlichen Der ganze Rongreß stimmte Hilferding zu, als er die Forderung Anarchie zu arbeiten und an die Stelle des bürgerlichen Nationali tätenprinzips das proletarische Nationalitäten prin. zip zu sehen, d. h. die Arbeiterschaft solle in nationalem Sinne die Kultur der Länder achten, unter denen sie groß geworden ist; aber darüber hinaus nicht das hohe Biel , die Sicherung des Friedens, vergeffen. Die Souveränität des einzelnen Staates folle sich unter ordnen unter die Souveränität der Gesamtheit. Damit ist ausge­sprochen, daß es feine Kriegserklärungen mehr geben darf, und deshalb forderte Hilferding mitzuhelfen, daß der Völker­ bund endlich das wird, was er sein soll. In diesem Zusammenhang agitierte er für den Eintritt Deutschlands , Rußlands und vor allem fachlichen Kritik an dem jezigen Bölkerbund zu enthalten. Er will der Vereinigten Staaten in den Völkerbund, ohne sich einer frog der Mängel allgemeine Achtung vor der bestehenden Institution, die leider durch die Machtwillkür einzelner Regierungen an Ansehen

eingebüßt habe. Immerhin dürften die Mängel behoben werden, je stärker die Arbeiterbewegung wächst und je größer ihr Ein. fluß auf die Regierungen der Länder wird.

reitschaft, das Genfer Protokoll verwirklichen zu helfen, entschlossen deutsche Sozialdemokratie trok ihrer grundsäglichen Be­Als Hilferding dann die Gründe auseinandersetzte, warum die Burton sagte, der beschränkten Verständigung" vorlieb zu nehmen, ist, auch mit dem gegenwärtig erörterten Sicherheitspakt oder wie Seine Worte dürften auch hier nicht ohne Eindruck geblieben sein. erweckte er bei der englischen Delegation besondere Aufmerksamkeit. In ihnen wird der Abschluß eines West pattes als erfter Schrift zum Genfer Protokoll,

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zur Politik der Dreifaltigkeit wie Hilferding sich ausdrückte bezeichnet. Es ist in der Tat ein Schritt auf dem Wege zur all­kommenen Abrüstung unter Kontrolle des Völkerbundes. Daß diesem gemeinen Sicherheit durch Schiedsgerichtverträge und einer voll­Schritt ein zweiter folgt, ist Aufgabe der internationalen Arbeiter­

bewegung.

Der nun folgende Redner

=

Leon Blum

gangenheit ein, um den gewaltigen Fortschritt auszuzeigen, den die leitete seine Ausführungen mit einer kurzen Reminiszenz an die Ver­internationale Situation seit dem letzten Kongreß der Internationale gemacht hat und die den Sozialismus troz aller Sorgen um die Bukunft zu erfreulicher Genugtuung berechtige, um so mehr, als es im wesentlichen sein Werk gewesen sei, das zur Entspannung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten beigetragen habe. Der Dawes Plan wäre unmöglich gewesen ohne die Arbeit der Frankfurter Konferenz, und die jetzt in das Stadium der Verhand­fungen eingetretenen Bemühungen um die Regelung der Sicher= heitsfrage würden erfolglos geblieben sein, wenn nicht die Sozialistische Internationale werftätige Vorarbeit ge­leistet haben würde. Auch die französischen Sozialisten bedauerten, daß das Genfer Protokoll nicht Wirklichkeit geworden fei. Auch fie betrachten den an seiner Stelle vorgeschlagenen auf die Weſtmächte beschränkten Garantiepatt als die weniger wirksame Lösung. Aber einer so wichtigen Frage den Parteien der einzelnen Länder volle er müsse Burton aufs schäffte widersprechen, wenn dieser glaube, in Handlungsfreiheit lassen zu müssen. Blum fommt fodann auf die Kontroverse zurück, die zwischen den französischen und englischen Sozialisten seit Jahren über die Frage der isolierten Berträge ge­führt worden ist. Heute handle es sich nicht mehr um einen Vertrag zwischen ehemaligen Allierten des großen Krieges, nicht mehr um die ausschließliche militärische Garantie, sondern um einen Bertrag, der die Feinde von gestern in einem auf voller Gegenfeiligkeit begründeten Abkommen vereinige und der ein diplomatisches Instru­ment im Geiste des Genfer Protokolls sei. Der Redner bezeichnete es als ein Verhängnis, wenn angesichts der Einmütigkeit, die wischen den Sozialisten Deutschlands und Frankreichs über die Not­englischen Sozialisten sich abseits halten würden. Die von deutscher wendigkeit des Garantiepaktes als einer 3wischenlösung bestehe, die Seite gegen das Battprojeft gemachten Einwendungen, insbesondere bezüglich der Frage der autonomen Sanktionen und der: ein­

Wirth trennt sich vom Zentrum.

Eine Demonstration gegen die Rechtsschwenkung der Zentrumsfraktion.

Köln , 24. Auguft.( Eigener Drahtbericht.) Aus Marienbad | Wege des Zenirums nach rechts. Der Austritt Wirths aus ging dem Reichskanzler a. D. Fehrenbach als Vorsitzenden der Reichs­tagsfraktion des Zentrums folgendes Schreiben von Dr. Wirth zu:

,, Dem Vorstand der Zentrumsfraktion des Reichstages: Getreu der von mir übernommenen politisch demokratischen Cinie im deutschen Boltsstaat beehre ich mich, dem Bor­stand der Zentrumsfraktion des deutschen Reichstages mitzuteilen, daß ich außerhalb der Frattion des Zentrums im Reichstag ftehend mich fernerhin als Vertreter des sozialen und republikanischen Zentrums bezeichnen werde." Die Kölnische Volkszeitung", das offizielle rheinische Organ der Bentrumspartei, schreibt zu dieser Erklärung:

,, Borstehende Erklärung kommt denjenigen nicht überraschend, die die Stellungnahme Dr. Wirths zu der politischen Entwicklung der legten Zeit eingehender verfolgt haben. Mehrfach schon hat er aus seinem persönlichen Urteil in den verschiedensten politischen Situationen teinen Hehl gemacht. Er galt immer mehr als er ponierter Bolititer von besonderer Eigenkraft. Dr. Wirth hat sich von der Fraktion des Zentrums im Reichstage Dr. Wirth hat sich von der Fraktion des Zentrums im Reichstage getrennt, bekennt sich aber nach wie vor als Vertreter desselben, nur unter besonderer Hervorhebung des sozialen und re­publitanischen Gedankens. So zieht er deutlich auch nach publitanischen Gedankens. So zieht er deutlich auch nach außen hin das Fazit unter seine bisherige Haltung. Wenn auch wir nicht alles billigten, was Dr. Wirth tat, so haben wir uns doch seinem großen Können und vor allem seiner intuitiven Fähigkeiten als Politiker nicht verschließen können."

Joseph Wirth hat die Folgerungen aus der Rechts­schwentung des Zentrums gezogen. Die immer enger wer­dende Verbindung des Zentrums mit den Rechtsparteien, seine Teilnahme an der Vergewaltigung der Rechte der parla­mentarischen Minderheit im Zollkampf, seine Mitverantwor­tung für die unheilvolle Steuer- und 3ollgesetzgebung, deren Wirkungen jetzt schon sichtbar werden, find, Marfsteine auf dem

der Zentrumsfraktion, seine Erklärungen des Schrittes unter­streichen die Tatsache, daß das Zentrum sich auf dem Wege nach rechts befindet. Seit einiger Zeit geht zwischen hervor ragenden Vertretern des Zentrums eine Diskussion darüber, ob es im Wesen des Zentrums liege, demokratisch und sozial zu sein. Wirth greift in diese Diskussion ein, indem er sich als Vertreter des sozialen und republikanischen Zen­trums" von der Zentrumsfraktion trennt und ihr gegenüber­tritt.

"

Der Austritt Wirths aus dem Zentrum ist die Form, in der die impulsive Persönlichkeit Wirths die Rebellion der Massen der Zentrumswähler gegen die Politik der Partei und der Interessen, der das Gefüge der Zentrumspartei er­zum Ausdruck bringt. In dem großen Konflikt des Geistes schüttert, hat er für sich persönlich eine Lösung gefunden. Seine politisch zweckbewußte Handlung gedacht ist, oder ob er nur furze Erklärung läßt nicht erkennen, ob dieser Schritt als politisch zweckbewußte Handlung gedacht ist, oder ob er nur der Klärung der Frage der Verantwortung vor dem Richter­stuhl des eigenen Gewissens dient. stuhl des eigenen Gewissens dient.

Wie dieser Schritt auch gedacht sein mag: er wird ganz allgemein als eine Warnung an das Zentrum, als eine Demon­stration gegen die undemokratische und unsoziale Haltung des Sentrums in den letzten parlamentarischen Kämpfen begriffen Kreise der Zentrumsarbeiter, deren Interessen hinter die des werden. Er weist die Massen der Zentrumsanhänger, die agrarisch- großkapitalistischen Flügels des Zentrums zurüd­gestellt worden sind, mit großem Nachdruck darauf hin, daß der innere Konflikt im Zentrum zu einer politischen Lösung geführt werden muß.

Wirth hat durch seinen Schritt der Idee des sozialen und demokratischen Volksstaates symbolischen Ausdruck ge­geben. Dieser Idee in den Steihen der Zentrunisanhänger politisches Leben und politische Kraft zu verleihen, ist eine Aufgabe, die eines Staatsmanns würdig ist.