Ar. 415 ♦ 42. Jahrgang
7. Heilage ües vorwärts
Vonnerstag, Z. September 1425
Woran der Wähler bei den Stadt wahlen denken soll.
Zu Großvaters Zeiten begnügte sich der Bertiner, tnn vorwärts zu kommen, mit der P f e r d e d r o s ch t e. Ging es auswärts aufs Land, bediente er sich woh! des Torwagens oder des Krem- l e r s. Die Fahrt nach Charlottenburg oder Schöneberg bedeutet« damals jchon eine respektable Landpartie. Berlin zählt nach dem Zusammenschoß 1920 rund 4 Millionen Einwohner. Der Verkehr ist riesenhaft gestiegen. Straßenbahn, Autobusse und Hochbahn ver- iwtteln den Verkehr, ohne ihn vollauf und zufriedenstellend bewäl- tigen zu können. Auf diesem Gebiet ist noch unendlich viel zu tun. vie Straßenbahn hat derzeit noch immer den Hauptteil an der Bewältigung de? Ber- kehr?. Ikicht weniger denn l.g Millionen Fahrgäste täglich werden von ihr befördert. Das sind 4S Proz. des gesamten Berliner Verkehrs. Im Jahre l890 kamen im Durchschnitt 110 Fahrten auf den Äopf der Bevölkerung, heute£80. Erst um die Wende des Jahrhunderts wurde in Berlin die Umwandlung des Pferde- in elektrischen Betrieb »ollzogen. Gegen den Willen der sozialdemokratischen Fraktion im Stadtparlament verblieb die Straßenbahn auch dann noch in den Händen der Privatgesellschaft, und die damalige preußisch« Regierung schanzte der Gesellschaft eine außerordentliche Verlängerung der Kon- zcssion zu. Erst 1920 gelangte die Straßenbahn in den Besitz der Stadt. Die Stadt übernahm damit ein gänzlich heruntergewlrt- schosteles Unternehmen. Die Wagen waren verbraucht, mährend des Krieges hatte man die notwendigen Reparaturen unterlassen. Reu- «mschafsungen gar nicht getätigt. Die Gleise befanden sich in jämmer- nchem Zustande. Die Schwicrigkeiten wuchsen mit der fortschreitenden Geldentworiung. Erst monatlich, dann wöchentlich und schließlich mehrere Male die Wocke mußten die Fahrpreise erhöht weiden. Und doch konnte der Zusammenbruch nicht verhindert werden. Er erfolgte September 1923. Der Betrieb mußte vorüber- gehend eingestellt werden. Die neue Belriebsgesellschoit erhielt zwar rein städtischen Charakter, gleichzeitig aber wirtschaftliche Selbständig- keit in einem Ausmaß, daß sie die notwendigen Entscheidungen ohne bureaukratiiche Hemmungen schnellstens treffen kann. Der Betrieb begann in sehr eingeschränktem Maße mit 30 Linien und einem Personal von 3000. Heute sind es wieder über 100 Linien, das Per- fonal zählt zirka 14 000 Köpse. Der IS Psennig-Tarif mit Umsteige- barchligung hat sich bewährt. Die Gesellschaft ist in der Lage gewesen. den Betrieb wieder voll aus die Höhe zu bringen. Die Gleislänge beträgt jetzt rund 1200 Kilometer Einiachgleis, eine Entfernung gleich der etwa von Berlin bis Genua .
Die Hoch- und Uatergrvnübahn. Für das schnell flutende Leben der Großstadt genügt die Straßenbahn aber längst nicht mehr. Das rastlos arbeitend« Berlin oerlangt vor allem schnellere Verkehrsmittel. Di« auf besonderem Lahnkörper laufenden Wagen der Hoch- und Untergrundbahn legen 25 Kilometer in der Stunde zurück gegen 13 Kilometer der Straßen- bahn. Die erst« Strecke der Hochbahn, Warschauer Brücke— Zoologischer Garten, wurde 1902 dem Verkehr übergeben. Bis 1913 war für die Linie bis zur Schönhauser Allee (Nordring der Stadtbahn) ausgebaut, im Westen die Zweiglinie nach Schönebera, Wilmersdorf , Dahlem und nach dem Stadion, heule hat die Stadl durch die Finanzierung der Nord- füdbaho bereits größeren Einfluß auf die Hochbahn gewonnen. Der Verkehr stieg auch hier dauernd bis auf 163 Millionen Personen im Jahre 1924. Die geplanten Erweiterungen werden aber erst die volle Ausnutzung der Schnellbahnen bringen. Pankow und Lichten- berg, Tempelhof , Neukölln und Gesundbrunnen . Moabit und Treptow sollen noch in das Netz einbezogen werden. Die Autobusse haben in den letzten beiden Jahren großen Aufschwung genommen. Die Zahl der Fahrgäste stieg in den beiden letzten Jahren von 23,4 Millionen auf 48,4 Millionen. Zurzeit sind 18 Linien im Betrieb. weilere 20 sind noch geplant. Der Autobus hat vor der Straßen- bahn den Vorzug, daß er nicht ans Gleis gebunden ist. Er vermag sich in den Siraßen der inneren Stadt leichter dem verkehr anzupassen. Aber er kann bei weitem nicht die große Zahl von Personen aufnehmen, kann nicht, wie die Straßenbahn, durch einen Trieb- wagen einen oder mehrere Anhängewagen befördern. Jeder Wagen braucht 2 Mann Bedienung und der Gummiverschleiß ist bei den schweren Wagen ein so großer, daß der Betrieb bei weitem teurer wird, als der der Straßenbahn, die also als hauptsächlichstes Masten- beiörderungsmittel auch in Zukunft und so lange in Betracht bleiben wird, bis bessere und schnellere Verkehrsmittel, wie Hoch- und Unter- grundbahnen in genügendem Ausmaß geschaffen sind. * Alle setzt vorhandenen Verkehrsmittel, einbegrifsen auch die Stadt- und Ringbahn, genüge« nicht mehr. Die geplanten Erweite- rungen der Hoch- und Untergrundbahnen müsten schnellstens in An- griff genommen werden. Die Straßenbahn ist nicht überlebt, wie manche meinen, aber ihre Ausdehnung und ihr« Schnelligkeit wird gehemmt durch die unglückselige Anlag« unserer Stroßenzüge. Um-
fangreiche Straßendurchbrüch« sind notwendig, um ihr Raum und Bewegungsmöglichkeit zu schaffen. Wie bei den übrigen Werken, so ging auch hier das Streben der bürgerlichen Parteien im Rathaus dahin, die Straßenbahn dem Privatkapital zu überantworten. Daß dies nicht gelang, ist im wesentlichen dem energischen widerstand der Sozialdemokraten in der Stadtverordnetenversammlung und im Magistrat zu danken. Sehr zum Nutzen der Bevölkerung. Eine Privatgesellschaft hätte nur immer die einträglichen Linien betrieben. Di« städtische Verwaltung war darauf bedacht, dem Verkehr zu dienen, auch dann, wenn die betreffenden Linien weniger Einnahmen bringe«. Namentlich haben die Außenbezirke davon Vorteil gehabt, so Spandau , Köpenick , Zehlendors usw. Das gilt auch in bezug auf Autobuslinien. So haben z. B. die Villenorte Cladow und Gatow , wo lange Zeit das von interessierter Seite geschürte„Los von Berlin " ertönte, mit Hilfe der Stadt erst die dringend notwendige Verbindung durch Auwbus und Motorboot mit Alt-Berlin erlangt. Das»Los von Berlin" ist verstummt, zu offensichtlich sind die Bor teil «, die m der Konzentration der Kräfte für die einzelnen Glieder liegen. Denkt daran bei den Stadtverordneten wählen.
Aufhebung üer öeherbergungssteuer. Ab t. Oktober. Aus einem gemeinsamen Runderlaß der Preußischen MinisierS des Innern und des Finanzministers an die Ober- und Regierung- Präsidenten, Landräte. Gemeinde- und Kreiskommunalverwaltungen teilt der Amtliche Preußische Pressedienst folgendes mit: Durch Art. IV Z 1 Nr. 16 des Reichsgesetzes zur Aenderung der Verkehrs- steuern und des Berfahrens vom 10. August d. I. hat ß 44 des ReichSumsatzsteuergesetzeS folgenden Zusatz erhalten:„Länder und Gemeinden fGemeindverbände) dürfen keine Steuern mehr vom Entgelte für die Gewährung eingerichteter Schlaf- und Wohn- räume in Ga st Höfen, Pensionen oder Privathäusern erheben". Diese Vorschrift tritt nach Art. II§ 3 Abs. 1 des Gesetzes am 1. Oktober d. I. in Kraft. Infolgedessen treten die in Ge- meinden oder Kreisen bestehenden kommunalen Seher- bergungSsteuerordnungen vom 1. Oktober 1925 ab ohne weiteres außer Kraft.
Das unbegreifliche Ich. 2i] Geschichte einer Jugend. Roman von Tom Kristevsen. (Berechtigte Uebersetzung aus dem Dänischen von F. T. Bogel .) Ich wartete wochenlang geduldig und setzte jedem blonden Schimmer, der vor mir auftauchte oder den ich mir vor- phantasierte, nach, und wenn ich schließlich müde und mutlos war, ermunterte ich mich dadurch, daß ich mir unbekannte Straßen entlang nach Haufe ging: aber der Zufall, der mich in diesem Leben nicht den Weg des goldhaarigen Mädchens kreuzen lassen wollte, machte sich den Spaß. Sejrs Better gerade an einem Rost zu einem Kellerschacht herumhantieren zu lassen, als ich, um mich über meine innere Oede hinweg- zulrösten, eine mir unbekannte Straße entlangging. „Potztausend, Waldemar, was machst du denn hier?" fragte er.„Ich habe nämlich mein Tafchenmesser verloren." Ich half ihm, well es eine Ehre war, einem älteren Jungen zu helfen, und als das Meffer unten zwischen den Papierstücken im Kellerschocht gefunden und der Rost wieder heraufgelegt worden war, wagte ich in einem Anfall von Hochmut hindurchschimmern zu laffen, daß die Falltür im Keller mir wohlbekannt sei. Ich blinzelte überlegen, klopfte fünfmal gegen die Mduer und stieß mit dem Fuß einmal hart auf das Pflaster.~ „Bist du verruckt geworden? nef der Vetter. Ja aber Sejr sogt doch, daß eine Höhle unter dem Keller ist, und daß ihr da Mädchen habt." „Hat das Sejr gesagt? Dann ist er das größte Lügen- maul, das jemals auf zwei Beinen gegangen ist!" grinst« der Vetter, und bann stieß er durch sein krummes Horn von «ner Nase nach ein paar Lachiöne aus. „Sejr kann sehr nett fem: aber er ist ganz verlogen." fügte er hinzu.,. Als wir an da- Haus kamen, wo der Vetter wohnte, sagte «. baß ich heruntergehen und mich selbst überzeugen könnte. er wollte mir den Kellergang zeigen.. Als wir herunterkamen, sah'ch. daß da weder em Knopf an der Wand, noch eine Falltür im Boden war. . Das Ding hat Sejr gut gedreht." grinste der Vetter, und ich ging bestürzt fort.'.< �. An, nächsten Tag vennied ich Seft aus dem Schulhof. Ich hatte die größte Lust, ihn auszuschimpfen, und überlegte Mir verschiedene Male, was ich sagen wollte; aber jedesmal,
wenn ich ihn sah, wurde ich zaghast, und alle Kraft wich von mir. Ich staich mit keinem meiner Kameraden sonst in Ver- bindung. Ich war nur mit Sejr befreundet aeroesen, und deshalb trieb ich mich nun wie in einem leeren Raum herum und wurde nach und nach zu einem berüchttgten Jungen hin- gezogen, der stets an den Zaun gelehnt stand und mit mit- leidigem Lächeln unsere Spiele verfolgte. Er hieß Charles. Ich konnte ihn nicht leiden. Er hatte schwarze, glänzende Locken, die wie gleichmäßige runde Räder waren und fest an seinen Kopf angeklatscht lagen, und er hatte ein faules und zugleich verächtliches Lächeln. Seine Stellung in der Klasie war sehr eigentümlich. Seine Faulheft oerlieh ihm eine unerschütterliche Würde, seine Verlogenheit machte ihn undurchdringlich: es war ihm schwer beizukommen. Die Lehrer wußten weder aus noch ein mit ihm, und wir Jungen bewunderten seine Frechheit und haßten sein Lächeln. Ein« Zeitlang hatte es den Anschein, als ob er die ganze Klasie beherrschen sollte. Es wurde Mode bei uns. uns gegen den Zaun zu lehnen, und da standen wir alle zusammen in einer Reihe die ganze Pause hindurch mit den Händen tief in den Taschen oder mit der einen Hand hinterm Nacken, während wir mit schlappem Lächeln die anderen beobachteten. Eine Art Zauber ging von uns aus, und in den anderen Klassen strebten sie danach, das gnädige Nicken oder die herab- lassende Anerlenimng zu gewinnen, die wir jedem zollten, der einem Lehrer einen Schneeball in den Hals warf oder eine Fensterscheibe zerbrach. Die Lehrer haßten uns. Aber schließlich hatte unsere ursprüngliche Frische sich wieder Babn gebrochen. Es war langweilig sich zu lang- weilen, und damit hatte Charles Herrschaft ihr Ende erreicht. Er hatte nur mit fauler Verachtung darauf geantwortet: „Daß euch das Spaß macht!" In meiner Einsamkeit kam ich dem Zaun immer naher und näher. Ich lehnte mich gegen einen Pfahl und lang- wellte mich, und sein starrer Blick wurde lauernd. Wir näherten uns einander. Er sprach ein überlegenes Urteil über einen von unseren Kameraden aus, und ich lächelte leise darüber. Er sah mich fteundlich an und bezwang mich gleichzeitig durch sein schiefes Lächeln, und eines Tages er- wies er mir schließlich die Ehre, meine häuslichen Arbeiten zu leihen und sie mit seinen eigenen zu vergleichen. „Die sind richtig!" sagte er wohlwollend, als er sie ab- geschrieben hetle; aber ich hatte kerne Kraft, ihn wegen semer
Schwindelei zu verhöhnen; denn er hatte mich am Arm gepackt und schüttelte mich hin und her, als ob er eine besondere Vor- liebe für mich gefaßt hätte. „Du bist wohl kitzlich," grinste er. Im Anfang traten große Pausen in unseren Gesprächen ein, wobei wir uns musternd ansahen. „Du siehst wie ein Mädel aus. Schade, daß du keins bist." sagte er. und sein Lächeln und sein Blick tasteten mich ab. Wieviel verstand ich? Konnte man mit mir reden? Aber ich verschloß mich ihm. Sejr, der ebenso einsam wie ich war, ging immer kreisförmig im Schulhos herum, und jedesmal, wenn er in unsere Nähe kam, hatte er den abwesenden Blick von einem, der lauscht, aber es zu verbergen sucht. Endlich näherte er sich mit einem unsicheren Lächeln. Er ahnte nicht, daß seine Redereien über den Vetter entlarvt waren und konnte meine Zurückhaltung nicht verstehen. Ich hatte Charles als Rückhalt und fühlte mich stark. Ich würde ihn mit Worten überwinden, während der andere zusah. Da sagte Charles ganz unerwartet:„Du Sejr, was ist das für ein Loch, das du in der Schläfe hast?" Sejr trat einen halben Schritt nach rückwärts und fein Blick wurde unruhig: und sofort entdeckte ich, daß hier seine schwache Stelle war. „Da kommt gewiß nochmal ein Wurm herausgekrochen. ein richtiger, feuchter Wurm!" rief ich voll heftigen Ekels, und Charles lachte laut. Ich fühlte sofort, daß ich gesiegt hotte, so wunderlich war das Mienenspiel in Sejrs Gesicht. Er zeigte Gekränktheit, aber auch Kummer, als ob er etwas verloren hatte, was ihm teuer gewesen war, und ich war mir klar darüber, daß ich jetzt einen guten Freund mit Schmutz bewarf. Ich war im Zweifel, ob ich nicht den Verkehrten traf. Er hatte vielleicht bloß gelogen, well wir beide uns zu dem Unbekannten hin- gezogen fühlten. Aber jetzt war es zu spät, und ich lachte höhnisch. Sejr ging seines Wegs. Er zog die Beine langsam nach, und sein Rücken sah betrübt aus. „Das saß!" sagte Charles anerkennend. Von nun an näherte sich Charles mir auf eine unheim- liehe, fast übernatürliche Art. „Was steht da oben an der Tafel? Ichosehc so schlecht," rief er mitten während der Stunde. Alle waren überrascht. (Fortsetzung folgt.)