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1. Seilage ües vorwärts

Gokwabeat, 14. September 1925

Don früh an P die.Tormonnstraß« belebt, trotzdem fie nicht im Geschäftsviertel liegt. Die Häuser sind niedriger alssonst m Berlin , zwei-, höchstens dreistöckig, man sieht dort wenig Geschäft«, nur»n den Straßenkreuzungen liegen ein paar Gastwirtschaiten, die das Schild einer bekannten Brauerei trogen. Aber ungefähr in der Mitte der nicht zu langen Straße erhebt sich ein großes, rotes Backsteingebäude im Stile der Berliner Gemeiitdeschulen. Hierhin wandern die meisten Menschen. Diel« haben es eilig, sie suchen so schnell wie möglich vorwärts zn kommen und sind froh, wenn sie andere überholen, einige lassen sich Zeit, sie bleiben zuweilen stehen und hören sich den Ausschreier an, der fünf Kopierstifte für einige Pfennige verkaufen will, machen Witze und beschäftigen sich mit ihren Zigarettenstummeln. Manche ober gehen mit scheuem Schritt vorüber, sie haben den Hut tief in die Stirn gezogen, sie möchten nicht erkannt werden. Man sieht es ihnen an. daß dieser Gang ihnen schwer ist. Als ob sie sich im geheimen schämten. All« Jahres- llassen sind unter diesen Wandernden zu finden. Jungen, die eben die Schule verließen, und alte, müde Männer und geborene Sieger» naturen, die Widerwärtigkeiten schnell überwinden, lind sie alle gehen in das groß« rote Gebäude hinein, sie alle suchen«in einziges Gut: Arbeit. Der städtische Stellennachweis soll sie ihnen ver- Mitteln: alle hegen die Hoffnung, daß sie diesen Tang zum letztenmal gehen, und daß ihnen der heutige Tag die ersehnte Stellung schaffen würde. Sic gehen wie zu einer Lotterieziehung, au» der auch ihnen »in Treffer zufallen kann. Das Zentrum öes /lrbektsmarttes. Hier In der Eormannstraße liegt das Zentrum de, Arbells- marktes. hier tonzentriert sich Nachfrage und Angebot, hier kann man am klarsten erkennen, wieviel Arbeitzkräite in Berlin unbenutzt liegen. Nor dem Hause liegt so etwas wie ein Garten. Im Border- gebäude find die Zimmer' der Aerwallung und der Aachweis für TIlelallarbeiicr und Jugendliche. Dann gebt es durch einen finsteren Gang, der unwillkürlich an den Danteschen Lers:Ihr, die ihr eintretet, laßt olle Hoffnung hinter euch!* erinnert, nach den hinteren Gebäuden, in denen die Ilachweise für Handwerker. Transportarbeiter. Däcker, Zlcifcher und ungelernte Arbeiter unter- gebrocht find. Ständig kommen und gehen Menschen. Manche hatten einen Zettel in der Hand und sehen sich bereits im Besitz der Stellung. Auf dem Hof stehen Gruppen und unterhalten sich, lleberall ge- drückte Gesichter, überall dasselbe: großes Angebot von Arbeitskräften und wenig Aachsrage. Wird es noch schlimmer werden? In der Kantine, in den Sälen und auf dem Hof spricht man darüber. Manche sind unbeugsame Optimisten, die bestimmt behaupten, daß die Zu- stände sich bessern müßten. Andere haben alle Hoffnungen begraben. Was ist zu tun? Alan muß warten. Und all« warten. Sie sitzen auf den Bänken, die an der Wand der Säle entlanglaufen oder

sehen zum Fenster hinaus und warten, bis ein Angebot einläuft. Diele zeigen Geduld und Ergebung in ein unentrinnbares Schicksal. viele werden nervös, gehen herum, verlassen den Saal, kommen sofort wieder und verbrennen beinahe vor schwer oezügelter Ungeduld. Dann kommt da» Angebot irgendeiner Firma, Kenner lehnen es ab. sie wiflen, daß dort wenig zu holen ist, ein Neuling nimmt es freudig an und hofft als erster bort zu sein, die anderen schütteln über ihn den Kopf. In ollen Sälen die gleich« Atmosphäre der Erwartung und Spannung. Mögen die Menschen, die sich hier zufällig treffen

und sich vielleicht nie«ehr sehen werden, noch so verschieden sein, sie bilden trotzdem in den stunden, in denen sie zusammen sind. eine einzige Aamille, die große Familie der Arbeitslosen. Alle, die hier versammelt sind, sehen da» Schreckgespenst der Jtot vor sich. woher sie auch stammen und welch« Unterschied« sich rein menschjsch zwischen ihnen auftun mögen. Die Wartevüen. Da gibt es Stammgäste, die nicht glücklich sind, wenn sie nicht monatlich einmal die Stelle wechseln können, sie werden durch nicht» peinlich berührt, sie stehen lachend herum, unterhallen sich und wissen genau, daß auch sie einmal an die Reihe kommen, sie treten mtt großer Sicherheit aus und verlieren nur fetten ihre gute Laune. Doch sie bilden Ausnahmen, sie sind Menschen, die nur für sich zu sorgen haben und die über das beneidenswerte Temperament ver­fügen. alles leicht zu nehmen; für sie ist das Euchen einer Stellung ein« Art von sportlicher Betättgung. Daneben gibt e» aber andere, die immer um ihre Zukunft zittern, die jede Adresse ausschreiben. sofort sich bewerben gehen und doch zu spät kommen oder im vor- au» wissen, daß sie nicht eingestellt werden. Und dieses Wisse» gibt chneu«in« scheue Unsicherheit, sie wagen nicht mehr zu hoffen. und trotzdem gehen sie sedeu Tag zum Nachweis. Diese Gezeichnete» sitzen zusammengesunken auf den Bänken, hin und wieder fahren sie auf und stellen an den Beamten schüchtern» Fragen und kehren müde auf ihren Platz zurück. Sie warten, bis das Bureau geschlossen wird und verlassen nur ungern den Raum, aus Furcht, sie könnten etwa» versäumen. Sie sind nicht immer all. ihr Verhalten ist eher Sache de» Temperaments als die des Alters. Und wieder andere können es nicht verstehen, daß gerade sie entlassen worden sind: in ihnen lebt irgend etwas Ehrgefühl, das ihnen nicht erlaubt, ihre Entlassung als unverschuldete Tatsache hinzunehmen, sie fühlen sich beleidigt und glauben, ihre Tüchtigkeit sei nun in Frage gestellt. Sie zeigen sich rauher, as» sie siind und verbergen ihren Gram hinter Gleichgültigkeit. Aber auch die anderen, die gleich- gültige oder lächelnde Gesichter machen, verbergen damit nur ihre Sorgen. Zwei Männer stehen an der Kamine und unterhalten sich: sie sind sehnig, schlank und in Sport geübt. Augenblicklich haben sie keine Arbeit, aber sie hoffen, daß sie nicht allzu lange zu warten brauchen, sie wissen, wa« sie leisten, sind von sich durchdrungen. Nein, sie baden es nicht nötig, irgendeine Stellung anzunehmen, nur um unterzukommen, in ein paar Tagen werden sie haben, was sie wollen. Warum sollen sie Angst haben? Aber auch hinter ihren Worten klingt ein Zweifel, da» Warten zermürbt, das Angebot ist übergrvß, es kommt kaum noch auf persönliche Tüchtigkeit an. » Und neben die Sorge>tm dos tägliche Brot tritt bei ollen, die dort Arbett suchen, da» niederdrückende Gefühl, in ihrer Kraft lahm- gelegt zu sein, einen bloßen Svielboll in der Hand großer, Wirtschaft- licher Mächte zu bilden, das Gefühl der Ohnmacht einem mächtigen Moloch gegenüber, dem rücksichtslos Hekatomben geopfert werden.

Der Nachweis in oer Oormauastra&e

Der»tote Monteur"'. Vena die Liebe nicht war... Eine böse Suppe hatte sich der verheiratete Monteur Erich eingebrockt der von einer Berliner Firma drei Wochen auf Montage nach einem bei F r e i« n w o l d e in Pommern belegenen Gut ge> schickt worden war. Um sich jedenfalls die Langeweile auf dem Land« zu verlreiben, hatte er auf dem Gut« mit einer 20 Jahre alten Dienstmagd Minna F. ein Liebesverhältnis begonnen und Gegen- liebe gefunden. Doch so leicht es gewesen, sich die.Braut* anzuschaffen, so schwer war es auch, sie wieder los zu werden. Als H. wieder noch Berlin zurückfuhr, gab es einen tränenreichen Abschied, und nur sein Ver- sprechen, für Minna sofort in Berlin eine Stellung z» besorgen. damit sie stets in feiner Nähe weilen konme, beruhigte üe einiger- maßen. Einige Briefe, die das Mädchen an H. sandte, beantwortete er nicht. Endlich ober war ihm die Sache doch zu bunt und er wollte Schluß machen. Er überredete seinen Montagehelfer an das Mäd chcn zu telegraphieren, daß er veningläckl und im Dirchaw-Kranken- Kons verstorben sei. Minna erhielt am Donnerstag das Telegramm: sie war umröftlich und hatte nur den Wunsch, ihren Erich nochmcl zu sehen. Freitag früh begehrte sie im Krankenhaus Einlaß: doch da wußte man von dem toten Monteur nichts. Nun fuhr Minna zur Fabrik: als sie sich im Kontor befragte, ließ man dentoten

Das unbegreifliche Ich. 38) GeschichteeinerJugenb. Roma» von Tom Sriflensea. (Berechtigte llebersetzung aus dem Dänischen von F. E. Boges.) Za, das tonn man wohl sagen. Das kann man wohl. Doch sie kommt in fünfzehnhundert Jahren wieder auf die Erde, und dann werden wir uns wieder treffen."- Wer wird sich treffen?"'! , /Deine Mutter und ich werden uns treffen." Und ich?" Ja, das weiß ich wirklich nicht," antwortete Samuelfen. Hhcr ich habe deine Mutter schon früher getroffen. Ich war der Priester des Feuers und sie kam mit Blumen zum Tempel. Ihretwessen brach ich mein Keuschheitsgelübde, und nun siehst du die Strafe: ich bin so weit gesunken, daß ich Zigarren verkaufen muß: aber das Feuer, das Feuer ahnst du den Zusammenhang? Und deine Mutter macht Stoffblumen, künstliche Blumen, da siehst du die Strafe." Er lehnte sich in den Stuhl zurück und lachte. ,Das war verdammt komisch, als ich die anderen Priester onführte und deine Mutter hinter dem Götzenbilde küßte. Haha!" Haben Sie Mutter geküßt hinter dem Götzenbild?" »fragte ich verwirrt. Ja, ich besinne mich darauf, als ob es erst gestern ye- schehen wäre. Ich bin schon immer ein Durchgänger gewesen. Aber, Waldemar, dir kann das ja ganz gleich fein. Sie ist bloß deine Muttsr, und du bast sie und deinen Dater auf Grund einer zufälsigen, seelischen Verwandtschaft gewählt. Sieh mal, davon weißt du auch nichts. Na, biblische Geschichte und Gesangbuchoerse und Luthers.Katechismus herunter- plappern lernt ihr: aber die Wirklichkeit." Was reden Sie bloß für Quatsch." rief ich dazwischen und wurde gleichzeitig verwirrt über meine Frechheit. Samuelfen lachte. --Haha. och ja! Lang zu, du! Du mußt schönen Hunger haben! Aber du hast reckt. Ich quatsche. Ich wollte dir bloß das Verhältnis zwischen deiner Mutier und mir erklären. denn das siehst du sicher in einem verkehrten Licht." Mutter hat gesagt, daß Sie im Grunde gut wären, und daß die Männer ein rechtes Pack wären!" antwortete ich. Das kleine Zimmer mit einem sehr breiten Bett und tziner großen Weltkarte an der Wand machte mich gesprächig.

Ich habe stets diese Art Zimmer ohne Gemütlichkeit gern gehabt. Samuelfen saß mit gerunzelten Brauen und grübelte. Es ist doch merkwürdig, daß sich deine Mutter nicht auf die Geschichte hinter dem Götzenbild besinnen kann. Die war doch recht kompromittierend.' Ich habe sie so oft daran er­innert; aber sie kann sich nicht darauf besinnen. Merkwürdig!" Mutter glaubt nicht an so was," warf ich ein. Sie hat eben ein schlechtes Gedächmis. Sonst hätte sie dich auch nicht mit dem oerrückten Theologen bekommen." Ich sah böse zu ihm hinüber. Gott , war der verrückt, und ein kleiner, schmieriger Schwindler war er obendrein auch noch. Er lebte davon, indem er Artikel über Jesus schrieb, und dabei scherte er sich den Teufel um ihn." Sie dürfen nicht üher ineinen Dater reden, verstehen Sie," antwortete ich und stand auf. Aber plötzlich stutzte ich und drehte mich mit einem sehr vielsagenden Iungenslächeln zu ihm um. Ich hatte einen Unterrock bemerkt, der sich auf dem Bett herumtrieb. Samuelfen streckte ein Bein aus und schob das verrate- rische Kleidungsstück unter das Bett. Liederliche Trine!" murmelte er. . Dann sah er mich an und lächelte zweideutig. Ja, so bin ich nun, und das hat dos Gastze zerstört. Nach der Geschichte mit deiner Mutter wurde ich rein verrückt. Ich schleppte olle möglichen Mädchen in den Tempel. Ja, es ist schwer, so was einem Jungen wie dir zu erklären; aber es ist gitt, wenn du es weißt. Das Zentrum der Seele sitzt hier am Nabel, und daniber balancieren alle die edlen Eigenschaften und darunter sind alle die erotischen. Wenn nun die edlen Eigenschaften stark entwickelt sind, wird die Balance so schwierig, daß sie mit der größten Leichtigkeit nach der anderen Seite umkippen können, und dann dreht sich die Seele herum. ganz herum, verstehst du, und das Fleischliche kommt nach oben. Darin leigt die große Gefahr für Propheten und Genies. Deshalb gehen so viele von ihnen zugrunde, wenn sie sich mit Mädels vergnügen wollen." Ich lachte laut, aber seltsam gellend, Mutter war ja krank. Ach, solch ein Quatsch!" rief ich. Samuelfen nahm noch einen Schnaps, und dann lochte er mich. .Ja. du bist bloß ein Junge, und es ist viel verlangt, daß du das schon verstehen sollst. Aber das macht nichts. Du hast ja noch eine lange Zeit vor dir, dein ganzes Leben und viele andere Existenzen."

Ich verfteln: kein Wort," antwortete ich müde und ver- wirrt. Nein," fuhr er mich an,aber Gott und Jesus , Himmel und Hölle, Taufe und Konfirmation, nicht wahr, das ist etwas für dich." Nein, das auch nicht. Ich kann Gott in dem unendlitfret Naum nicht finden. Er muß weit weg fein, und ich Hobe aui- gehört, mein Vaterunser zu beten, denn das kann ihn ja doch nicht erreichen; und jetzt ist Mutter krank und ich bin ganz allein." Ich war dicht am Weinen. Samuelfen kniff feine Augen dicht zusammen, und aus irgendeinem merkwürdigen Grunde hüpfte feine klumpige Nase jedesmal, wenn er das tat, ein Stück nach oben. Ich bc- antwortete diese clomnartige Grimasse mit einem frechen Jungengrinsen. Du bist genau so wie deine Mutter. Man weiß nie, ob du traurig bis oder ob du einen bloß anführst," sagte Sa- muelsen. Ich fiihlte mich von warmen Wellen durchströmt. Es war herrlich, so rätselhaft zu sein. Und ich antwortete mit einer Stimme, die aus grundlosen Tiefen zu kommen schien:Ich bin immer traurig." Dazu hast dn wahrhaftig gar keine Veranlassung!" lachte Samueisen,weshalb soll man das Leben so ernst nehmen' Ich fluche und ttinke und liebe na ja richtig, du bist ja man imr ein Junge. Du bist gewiß schläfrig und das nennst dn dann traurig." Ich war so verwirrt und so empfänglich fiir alles, daß ich sofort merkte, wie schläfrig ich war, als er das sagte. Er hätte mir vorwerfen können, daß ich ausgelassen sei, und sofort wäre ich aufgesprungen und hätte herumgetobt. Du kannst gern schlafen gehen." sagte er freundlich. Drüben in der kleinen Kammer steht«in Sofa, das für dich zurechtgemacht ist. Schlaf gut und erzähle mir am nächsten Morgen, was du geträumt hast. Was man das erstemal an einem neuen Ott träumt, ist immer von Bedeutung." Ich bekam ein brennendes Licht und ging in ein schmales Zimmer. Dott stand ein Sofa mit einigen Kissen und Laken. An der Wand befand sich ein kleines Regal mit verschiedenen blauen und gelben Büchern. Was stand dn? Re in kar Nationen? Karma? War dos ein Mädchenname? Im Vor- Hof? Atlantis? Ach. das war Geographie. Der Mensch und die sieben Grundsätze? De ea me ron? (Fortsetzung folgt.)