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Kr. 545 42. Jahrgang

1. Seilage öes vorwärts

Mttwoch, 18. November 1H25

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Die Angestellten der Berliner verkehrsunternehmen stehen in einer Lohnbewegung. Für Hochbahn' und Omnibus- g e s« l l s ch a f t sieht ein Schiedsspruch eine Lohnerhöhung von drei Pfennigen pro Stunde vor, die Omnibusfohrer sollen 5 Pfennige pro Stunde erhalten. Die Straßenbahnbetriebsgesellschaft spielt gegenwärtig noch Verstecken mit den Oronnisntionen. Sic wird stch erst am Freitag vom Schlichtungsausschuh einen Schiedsspruch geben lassen, nachdem alle direkten Verhanolungen ohne Erling uueven. Unter den 70 Millionen Fahrgästen, die allmonatlich von der Straßenbahn befördert werden, befinden stch erfahrungsgemäß nicht allzu viele, die das Bedürfnis fühlen, den Fahrer wie den Schaffner nach seinen Lohn- und Arbeltsbedingungen zu fragen. DieV e r n f s s a h r« r", d. h. diejenigen, die die Straßenbahn als Bc- förderungsmittcl nach und von der Arbeitsstelle benutzen, haben mit sich selbst zu tun. Ihnen blühen nach dem Lutherschen Preisabbau auch keine Rosen. Don den.Vergnügungsreisenden* und den.Besorgungssahrern* ist ebenfalls kaum soviel Interesse zu verlangen. Für sie ist der Fahrer.der da vorne* und der Schaffner ein Fahrkartenausgeber mit dem Grundsatz:.Bitte nach vorn gehei.i* Wer aber einmal den Fahrer nötigt, die Anweisung: .Die Unterhaltung mit den Fahrgästen ist dem Wagenführer streng untersagt* zu übertreten, kann viel Interessantes und viel Staunens- wertes erfahren. Neben Iahrkurbel, Stulle und Thermosflal'che. Moraen? um 7 llhr In der 64 an der Endhallestelle In Si-nnens- fladt-Gorleafeld. Eben haben Triebwagen und zwei Anhänger ihre Menschenfracht freigegeben, die Fabriktore verschlangen sie wieder. Kaum S Minuten bleiben unserem Fahrer und Schaffner zum Ausruhen. In der einen Hand die papicrumwickelte Stulle, link» die Thermosflasche mit der.aufgebrühten Blumenerde*. neben sich die abgenommene Fahrkurbel: so geht dos Interview

vor sich. Die Arbeitszeit eine» Stroßenbahniahrer, betrügt neun Stunden soll wenigstens.nur* soviel betragen. In Wirklichkett gleicht sich die neunstündige Arbeitszeit erst in etwa einem bis eineinoiertel Jahren aus. Die dazwischen liegende Zell ist voller Unregelmäßigkeiten, die der Dienst mit sich bringt. Früher hat man dem Fahrpersonol die Vorbereitungen beim Verlassen des Bahnhofs, das Rangieren und den Aufenthalt auf den Endhaltestellen, da» Abliefern der Wagen beim Dienstende, Abrechnungen und die B» kanntmachung des Dienstes am nächsten Tage als Arbeitszeit ge» rechnet und bezahlt. Heute stehen Fahrer und Schaffner jeden Tag neun Stunden auf dem Wagen, und für die genannten Arbeiten. die zumeist außerhalb des eigentlichen.FaHr*dienstes liegen, gibt es eine Entschädigung, die 25 resp. 20 Proz. der Arbeitszeit beträgt. Bei dem gesteigerten Verkehr, bei der Unberechenbarkeit de» Halte» stellenaufenthaltes, bei dem Bedürfnis vieler Fahrgäste. Schaffner und Fahrer bei ltärlstem Andrang als Reisebureau zu benutzen (statt die Haltestellensäulen anzusehen), gehen ost genug die thalte- zelten und damit die Ruhepausen an den Endhaltestellen verloren. .Nicht selten bedeuten neun Stunden Dienst neun Stunden un- unterbrochenes Fahren. Unsere persönlichen Bedürfnisse, also die des Menschen und die des Körpers kommen bei unserem Dienst an letzter Stelle. Am nnangenehmsten ist der.geteilte Dienst*, meinen die beiden Blankbeknopften. Morgens etwa von 6 bis 9 Uhr, nachmittags von 1 bis 7 Uhr, was tut man mit den dazwischen liegenden vier Stunden? Der Weg zur Wohnung Ist ost lang, sehr lang Wenn dann noch zwei Stunden Ruhe im Heim bleiben, Ist man froh. Bei solchem Dienst geht man früh um 5 Uhr aus der Wohnung, schläft mittags nach dem Essen ein« Stunde, trabt mit seinem Freßkober wieder los und landet abends um 9 Uhr im Gleitflug im Bett.* Unser Freund spricht derb, es ist die Sprache des Verbitterten. .Glauben Sie nicht, lieber Mann, daß unsereins auch mal an der Kurbel andere, eigene Gedanken kriegt, obwohl eigentlich auf dem Vorderperron nur die 125 Seiten der.Dienstanweisung* und die 90 Seiten des.Leitfadens* gellen sollen? Aber wir dürfen nur eine Istoschine mit eigener Reranlwarlunq sein. Hier«in Schupo» ann, dort ein vorwitziges Auto, eine alle Frau auf dem Damm, ein rollerfahrendes Kind. Dabei Fahrzeiten innehalten, Weichen stellen, Gleise beobachten, Kontrolleure grüßen. Maßschätzungen bei Gepäckstücken(für die natürlich 15 Pfennig immer zuviel sind) weiß der Teufel, manchmal staune ich über mich selbst.* Hier meldete sich der Schaffner: .Haben Sie schon einmal einen Dankkassierer arbeiten sehen, dem von anderen Leuten die Arme an den Leib gedrückt wurden. daß sie knackten? Gewiß nicht. Aber von un» wird das verlangt. Und dabei soll jeder Fahrgast seinen Fahrschein erhalten, dabei ver- kaufen wirUmsteiger*.Kinder-* und �Hochbahnschcinc*. Dabei sollen wir mit Zangenungetümen auf den Fahrscheinen unler 30. 40 zwölf Ouadralmillimeter großen Feldern das richtige loche«: denn

der Mann mit dem Flügelrad an der Mtltze und dem grünen Kragen, der Herr Kontrolleur, paßt höllisch tchars aus. Meldung, Meldung, Meldung, das ist unser Zubrot. Wir Schaffner sangen mit 63 Pfennigen pro Stunde an und kommen bis 70. Und der Fahrer kriegt 10 Pfennige mehr, muß sich dafür aber»selbst» verschuldeten Bruch* am Wageuzug abziehen lassen. Beide erhallen wir«in« Sozialzulag« von je drei Pfennigen für Frau und Kind. Rund 18 Proz. Abzüge sind auch ein bißchen viel. Wenn nun dreist die drei Pfennig« Zulage kommen du lieber Gott, der Winter und Weihnachten stehen vor der Tür.*-- Roch beim Abklingeln gab der Schaffner die letzten Auskünfte; der Fahrer war schon wieder ganzDienstanweisung*. vlenft auf Hoch- und Untergrund. Der Dienst bei derGesellschaft für elektrische Hoch» and Unter» grundbahnen in Berlin *(der Tiiel ist fast so long wie da» Bahn » netz!) ist regelmäßiger. Hier hindert Pardon regelt kein Schupo den Verkehr, kein« gefallener Gaul hindert am Weiterfahren. Der Fahrplan wird innegehalten, und deshalb weih der Hochbahner auch, wann fein Dienst zu Ende ist. Rur alle acht Tage Ist einmal ein freier lag eingeschoben, der Straßenbahner soll im jähr- l i ch e n Ausgleich jeden siebenten Tag frei haben. Auch der Hoch» bahner klagt über sein Gehalt: 179 bis 194 Mark nach 11 Dienst­jahren sind für einen Zugsahrer wahrlich nicht zuviel, und der Zug- beqleiter kann mit seinen 164 bis 173 Mark keine Sprünge machen. Zugabfertiger, Wagenwäfcher usw. haben natürlich noch weniger. Die Fahrkarlenausgeberlnnen stehen mit 124 bis 136 Mark im Etat der Hochbahn. Es ist eine nervenaufreibende Tätigkeit, dieser Schalterdienst. Würde sich der Dienst lediglich aus die Ausgabe der Karten beschränken, wäre manche Klag« der Mädchen hinter der Sprechöfsnung* hinfällig Mit einem zu Briesmarkensormot zu- sammengesalteten Geldschein fliegt der kategorische Imperativ:.Einen Block* durch die kleine Oeffnung. Nun entspinnt sich folgende» Zwiegesvräch. da» man am besten unter die IleberschriltWie der Fahrgast die Ausgeberin bebandell* letzt. Also:Wohin?* Zweiter Klassel*.Lang oder kurz?*Machen Sie schnell, der Zug kommt gleich!*Bitte, lange oder kurze Strecke?* Endlich kommt die richtige Antwort:Fehrbelliner Platz! Donnerwetter, ist das ein« Fragerei!* Inzwischen trampeln. schimpfen, rumoren die Dahinterstehenden Im Fortissimo. Der Endeffekt ist, daß alle nervös werden und die Ausgcberin sich gegenüber einer Beschwerde verantworten muß. Wenn eine Aus- geberin dieses neckische Spiel jeden Tag sieben Stunden lang mit- niacht, dabei 600 Mark Kasse(an guten Schaltern) und 1200 Fahrgäste bedient hat. sind die 450 Mark Tagelohn redlich verdient. Bei 230 Dienststunden im Monat macht die erwirkte Zulage ganze 6 90 Mark im Monat au». Aber vielleicht kommt doch noch irgend- ein Preisabbau.

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Die Passion. Roman von Clara Diebig.

Olga war erleichtert und doch wollte ihr eine innere Ruhe nicht kommen. Sie konnte die ganze Rächt nicht schlafen. Am Morgen bat sie im Geschält, sie für den Nach- mittag zu entschuldigen. Sie wollte mit Eva zum Augenarzt gehen. In die Poliklinik. Am liebsten wäre sie zu dem be- rühmtesten Professor gegangen, aber das kostete viel Geld, ach, viel zu viel Geld! Wie die das Kind mal wieder'rauspußt,* dachte Frau Ella. Sie hatte recht; Olga»og Eva ihr bestes Kleidchen an und die feinen helledernen Stiefeliben. die oben zugebunden wurden mit seidenen Ouästcben. So hübsch wie eine Pupve im Schaufenster, dachte die Mutter, als sie dem Kind die Locke vorznpite un�er der seidenen Kanotte. An der Hand der Mutter ging mm die kleine Eva, ging zum erstenmal in ihrem Leben durchs Tor der Charit�. Wenn das Kind mit der Mutter allein war. wurde es lebendig, es hatte dann zu erzählen und immer etwas zu fragen. Olga staunte, wie wißbegierig ihre kleine Eva war. Albert hatte ganz recht wenn er feine Schwester Irma, die doch schon lange zur Schule ging, dumm nannte dagegen. Ena interessierte die vielen roten Gebäude, die, umaeben van großen Höfen mit umbuschten Anlagen standen.Wer ist da drin»* fciicit« sie. .Lranke,* sagte die Mutter und erschauerte. Gerade fuhr ein Krankenwagen langsam an; der Portier drückte auf d's Klingel, Schwestern in weißen gestärkten Leinenhauben stürzten heraus, eine Bahre wurde beranaslchuhen, etwas, mit Lak-n Verbiilltes wurde ausgeladen. Ein Krank»?, ein Derunalückter? Oder war es eine weibliche Person? Schreck- lich! Die UnalückNche! Olga kniff die Augen zu, sie mochte nichts sehen, sie eilte hastig vorüber. Aber das Kind ließ sich nur weiterbringen, indem die Mutter es zerrte, es wollte sehen, ergründen, was sich da abspielte.W as fehlt der?* Ich wein es nicht. Komm, komm dock, nur* mahnte die Mutter. Sie machte sich Vorwürfe, li» hätte dock, lieber zu einem Prioataugenarzt gehen sollen. Es war'v schauer- lich hier, so traurig hier, diese stillen Höfe, diese Veranden, die sich in doppelter Reihe übereinander um die Fronten der roten Häuser zogen, und auf die Betten hinausgeschoben waren, wie es schien mst verdeckten Gestalten.

Liegen da welche?" fragte Eva.Heut scheint die Sonne da so drauf, dann ist es nicht kalt, nicht wahr? Dann liegt es sich schön da, Mutter, nicht wahr?* Olga gab keine Antwort. Unruhig flogen ihre Blicke. Daß man auch so hier herumirren mußte! Wo war denn die Augenklinik, wo? Sie war falsch gegangen. Ein schlorrender Schritt kam hinler ihnen her. sie drehte sich rasch um, da konnte sie so einmal fragen, aber ebenso rasch fuhr ihr Kopf wieder zurück: o Gott , der hatte ja keine Rase! Zerfresien das ganze Gesicht, man sah es trotz des Verbandes. Man ahnte es mehr, aber der Ekel, das Grausen schiittelie sie. Der Mann im verwaschenen Krankenkittel, große Filzpantinen an den Füßen, war dicht an ihnen vorbei- geschlorrt, sie hätte ihn fragen können. Aber dazu entschloß sie sich nicht. O wieviel Jammer bargen diese Häuser mit den Veranden, mit den großen Fenstern, die jetzt in noch winterlich hartem Sonnenlicht wie Metallscheiben blinkten! Wieviel Elend war über diese Höfe geschli-hen, war zu senen Bänken gewankt, die in den umbuschten Anlaaen standen! Fort von hier, nur fort! War hier denn wirklich der Ort, um Heilung zu finden, Genesung? Ach hier war man nur krank, nur krank. Gesundheit und Leben, die waren draußen! Hier sind auch Kinder." sagte Eva.Siehst du. Mutter?" Und sie zeigte mit der kleinen Hand. Ja, da waren auch Kinder. Olga iah welche, sie spähten hinab in den Hof, drückten ihre Rasen dicht ans Fenster; eine Schwester trat heran und holte sie fort. Bleiben die immer hier?" O Gott, nein! Das wäre ja schrecklich, Kinder immer in solch einem Haus!Die bleiben mir so lange hier, bis sie wieder gesund sind." Ein seltsames Gefühl ließ Olgas Stimme gepreßt klingen.Dann kommt ihre Mutter nnd hott sie wieder nach Hause.* Aber wenn ste keine Mutter haben und keit Zu Hanse ?* fragte die kleine Eva. 'Dann sind sie sehr unglücklich." sagte Olga. Das ent- whr ihr so wider Willen. Dies Schmerzliche a?f-< h/er zu sehen und das ewige Fragen von Eva maihi» /eregt; es bewecne ste heute auch alles so.Latz itzoch das ftragen, Kind!" Sie war ungeduldig und ganz nervös. Endlich war da die Augennoliklinil, sin Schild wies i zurecht. Sie hätten viel näber herkommen können,.gleich- von der Liustnstraße her durchs Tor. Gott sei Dank, aber nun waren sie ja da. Sie saßen im Warteraum: er war gepfropft voll mit Menschen. Sie mußten lange warten.

Olgas Blicke folgten einer jungen Frau, die, von ihrem Mann geführt, eben In die Tür des Sprechzimmers ging. Man sah es dem unsicheren Gang an, der Haltung des Kopfes, den sie ein wenig vorstreckte, als wolle ihr Bück so besser eindringen, daß sie nicht gut sah. Blind, " sagte eine Frau in Kapotthut und Pelzboa. die neben Olga saß und anscheinend sehr das Bedürfnis hotte, sich zu unterhalten.Die ist schon so lange hier in Be- Handlung wie ich auch. Bei mir ist es ja nun bester, bei mir war's ja auch nur Star. Bei ihr nicht. Als Mädchen soll sie ganz gut gesehen haben." Blind so jung und hübsch und bllnd?! Ein grenzen- loses Mitleid quoll in Olga auf, und auf einmal auch eine grenzenlose, sie jäh überfallende unverständliche Angst. Etwas schnürte ihr die Kehle.zu. O. wie war das doch schrecklich, hier so lange zu warten! Kaum daß sie fragen tonnte:Wo- her ist die denn blind eworden?" Die Redselige dämvfte die Stimme; sie zuckte die Schultern, sie flüsterte:Gesagt hat es keiner. Vielleicht* jetzt zog sie die Schuttern hochna, man weiß ja schon, woher so was kommen kann. Sie sind ja noch jung" ein musternder Blick glitt über die ganz blaß gewordene neben ihr.Sie misten das vielleicht noch nicht so. Aber unser einer hat schon zu viel gehört. Ueberhaupt hier!* Sie fastete die Hände über ihrer Rundlichkeit und seufzte tief.Das kann ich Ihnen sagen, wenn ich'ne Tochter zu verheiraten hätte, da müßte mir der Mann erst mal'n Gesundheitsattest bringen denn sonst nachher die Kinder! Ja, das müßte er!* Die vcrbro"chte Lust des überfüllten Wartezimmers beengte Olga. Sie konnte nicht mehr frei atmen.Sie sind ja so blaß geworden* sagte die Frau. Kannte man hier denn nicht bleich werden? Olga griff nach der Hand ihres Kindes und hielt sie krampfhaft fest in der ihren. Es würde doch nicht schlimm mit Evas Auge sein? Ihre Blicke flogen unruhig forschend umher: da saßen noch oiele, die hier waren wegen der Augen. Einige trugen große dunkle Brillen, ober bei denen sahen die Augen noch viel kränker aus. Und da gegenüber der Knabe mit den entzündeten, in den Höhlen wie blutige Kugeln rollenden Augäpfeln kam ihr besonders ent- fetzlich vor. O wäre sie doch lieber woanders hingegangen! Gerade hierher kamen die schlimmsten Fälle. Sie stand-"f. sie wollte schon fortgehen, da war sie an der Reibe, v�r Diener, der die Tür zum Sprechzimmer öffnete»nd jenwß, winlie ihr:Sic sind jetzt dran!" Sie fühlte sich über die Schwelle geschoben. (Fortsetzung folgt.)'