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nc.ll 43. Jahrgang
1. Seilage ües vorwärts
Ireltag, 8. Januar?42ö
DerGasmann' arbeitet jetzt für zwei oder drei, weil auch die Gaswerke einen großen Teil des Personals aus Sparsamkeitsgründen abgebaut haben. DieGasmänner' sind Kassenboten der Werke: sie sind in Vertrauensstellungen, die sie erst nach langer Dienstzeit er- reicht haben und darum meist schon in vorgerückten Jahren. Tag für Tag steigt solch alter Mann treppauf, treppab Entfernungen, die die Zugspitzenhöhe und wieder herab erreichen. Aus seinen Beruf ober läßt keiner etwas kommen. Eintönig? Alles andere! Immer bietet er neue Abwechslungen, neue Erlebnisse. Nichts Menschliches bleibt dem..Gasmann' fremd. Er wird allerdings Philosoph über seiner Tätigkeit, aber das ist kaum ein Nachteil. Ueberall erhält er Einblick wenn fluch nur auf Minuten in die verborgenen Ecken und Winkelchen der Häuser und ihrer Bewohner. Wenn dann seine Taschenlampe sekundenkurz aufblitzt, dann wirft sie zugleich ein Schlaglicht auf die Menschen, deren Behausungen er betritt und ihr Leben. Das Geheimnis des Kellers. Noch immer bewegt es ihn, wie wenn es erst gestern gewesen wäre, als er einmal vor Jahrzehnten in einem Keller im alten Berlin  , dumpf und modrig, mit glitschigen Wänden, dicht am Gas­messer eine lebensgroße Wachsfigur erblickte. Ein- Wachsfigur von folchsr Naturtreue, daß er mit seiner Lampe noch einmal hinleuchtete. warum man sie wohl hier in den Keller geworfen hatte. Sie war bekleidet. Er faßte sie an und griff in Nebrige» Blut... Ein Mord schrie noch Sühne!... Der alte Gasmann hat sich dann nach einem anderen Revier versetzen losten. Ihn bannte das Grauen vor jenen modrigen Kellern in den alten Häusern am Wässer. Der dicke Gasmesser. Warum er aus dem neuen Revier ging? Das ist ein lustiges Stück und ein Kapitelchen aus dem Wachstum der großen Stadt. Seingrößter Kunde' war es, der ihm dort zu schaffen machte. Ein Gasmesser, groß wie ein Kastenschrank, der irgendwo in einem Gewölbe der Friedrichstadt   stand. Der beinahe an dreihundert Gas- flammen speiste und der nun längst durch einen schnurrenden Elektrometer ersetzt ist. Der Keller war groß und geräumig gewesen. aber plötzlich hatte die Untergrundbahn die Hälfte weggenommen. An der anderen Seite hatten die Tiefbautechniker die dicken schwarzen Schlangen ihrer Wasterrohre gezogen und zuletzt hatte die Post mit ihren Fern prechleitungen und die neue Ouerlinie der Schnellbahn das letzte bißchen Platz aufgefresten. Berbanl und verbarrikadieri stand der Zähler noch immer auf seiner Stell«, ober die Gaswerke konnten nur ihre jüngsten Beamten zur Kontrolle hinschicken, denn man mußte schlank sein, wie ein Salamander, um sich bis zur Meter- scheide vorzuzwängen.
Das billige Gas. Die Berliner   sind ehrlicher geworden,' resümiert der alte Gas- mann.Bielleicht aber auch nur furchtsamer!' Früher war es nichts Seltenes, daß die gewaglesten Manöver mik dem Gaszähler vorgenommen wurden. Daß Gas durch Nebenleitungen noch heute in genügend Fällen unter Umgehung de» Messers verbraucht wird, ist nichts Unbekanntes. Ehemals aber waren derartige Fälle weit häufiger als jetzt. Man bezog sein Gag durch einen Zähler, der inmitten des Gerümpels eines Kellers verborgen stand, zugedeckt mit Kohle oder Kartoffeln. An sichtbarer Slelle jedoch stand ein zweiter Messer, irgendwo einmal von einem Abbruch oder aus leer- stehenden Räumen gestohlen und durch die Zuleitung so eingerichtet, daß aus seinen Zifferblättern nur immer ein Bruchteil der wirklich verbrauchten Gasmenge angezeigt wurde. Bis in die Jnflations- aeit hinein war da» ein oft angewendeter Kniff, der erst bei der späteren Nummerntontrolle ausgerottet werden tonnte. Kostspielige FußwSnner. Freilich hat derGasmann' einen Blick für den Verbrauch feiner Kunden. Das Bureau, das nachmittags um 5 Uhr schließt, der Laden, der bis 7 Uhr geöffnet ist und der Im Schaufenster mach Licht bis tl behält, verbraucht andere Mengen, als selbst eine kleine Budike, in der noch bis Mitternacht gekocht und gebrannt wird. Der Gasmann merkt es. wenn plötzlich eine Rechnung zu niedrig oder zu hoch wird. Ist sie zu gering, dann wird er zum Detektiv und die
D/e JPIBtte" als Ofen.
meisten Fälle von Gasdiebstahl sind durch die unvermuteten abend- lichen Kontrollen der Gaswerksangestellten aufgedeckt worden. Es kommt aber auch vor. daß die Rechnungen unvermutet hoch sind und dann ermißt er mit fachmännischem Bl/k die Bedürfnisse, um schließlich festzustellen, daß der Zähler falsch anzeigt. Allmonatlich werden 100 bis 200 solcher schadhafter Messer erneuert, obgleich sie bis zur Aufstellung nicht weniger als dreimal geprüft und geeicht werden. Da aber rund 700 000 Gaszähler in Berlin   stehen, ist es nicht verwunderlich, wenn hier und da das Zählwerk zu schnell oder zu langsam läuft. Ist aber alles intakt, dann stellt derGasmann' seine Recherchen an und dann ergibt es sich mitunter, das Frida. Minna oder Auguste Tag und Nacht Gas brennt, daß in einem Falle ein Mädchen die Gasplälte unker dem Fußende de» Bettes stehen halte, um sich imGassöhn' die Füße zu wärmen. Der Gasmann weiß ober nicht, ob die.�Herrschaft' eine Lehre aus diesem Vorfall zog und dem Mädchen einen Ofen in das kalte Zimmer setzen ließ. * Menschliche», allzumenschliches tritt dem..Gasmann' entgegen. In mancher bitteren Not ist er verständnisvoll. Wenn die Gas- rechnung wieder und wieder nicht bezahlt worden ist und er die kümmerliche Flamme, über der die vielköpfige Familie das karge Mahl kocht absperren soll. Der alte Gasmann erzählt dabei etwas, das als Dienfwergehen bezeichnet werden muß. Aber er ist ein braver Mann. verlaufen. Weißes Kätzchen verlaufen. Bitte wiederbringenl Liesbeth K.. Dorolheenstraß«... III l.' Mtt den forgfälttgen und unbeholfenen Schriftzeichen de« Kindes war diese rührende Bitte auf das Blatt eines Rechenheftes gemalt und an eine Reklamescheibe neben einem Tanzkasino dicht bei derWeidendammer Brücke' gehestet. Freudlos war das naßkalte Wetter des Januarmorgens und freudlos dos Gesicht der vorübereilenden Menschen. Ein garstiger Windstoß kam über den Kanal, riß das kleine Papier ab, stieß seine Inschrift in trüben Gossenschmutz und zeigte rückwärts eine gleich- gülttge Rechenaufgabe. Ein Paar, das die Nacht durchtollt hatte, bestieg ein Auto: das rollende Pneumatik schleppte den Fetzen durcH spritzende Tümpel und lieh ihn dann schmatzend als unkenntliches Knäuel im Rinn- stein liegen. Arme unglücklich« Nein« Liesbeth! Du wirft dein weiße, Kätzchen nicht mehr wiedersehen! Schwarz-Not-Holö im /tastatid. Eine Lektion für unserenationalen' Nestbeschmutzer. Unsere schwarzweißrvtenPatrioten' kennen bekanntlich kein höheres Ideal, als ihr republikanisches Baterland in Wort und Schrift durch die Gosse zu ziehen. Geistlose Schmähverse, von Haus- dichtern der monarchistischen Tlique aus Bestellung fabriziert, ver- suchen die schwarzrotgoldene Reichsfahne zu beschmutzen, dernatio- nale' Bierbankpolitiker tobt gegen die.Iudenrepublik' und grüne Jungen» drillen sich beim Platzpatronenschießen aus das Abkillen mißliebiger Republikaner   ein. Das ist so die Perspektive für dos, was die royaliftischen Heuchler unternationaler Ausbaupolitik' ver- stehen. Das Ausland denkt ebenso, kreischt die Monarchistenpress� und wenn irgendein Dreimännersiat in einem südafrikanischen Kaffernkraal oder ein norddeutscher Oberlehrer in Südamerika   eine ellenlange Protestresolution gegen dasneudeutsche Regime' im Kreisblättchen produziert, so läuft der Erguß dieser Helden als warnende Stimme des Äuslanddeutschtums' durch den ganzen menarchistischen Blätterwald. Da geht uns aus Spanien   eine Auswahlsendung von papiernen Apfelsinenhüllen zu. deren Fabrikant. Herr Manuel Gallego, unseren schimpfenden Patentpatrio- ten eine amüsante Lettion erteilt. Auf einer der Papierhüllen ist das Signum der Firma von zwei breiten schwarzrotgol- denen Fahnen gesäumt, oberhalb thront der neue Reichs­adler als Abschluß. Eine andere Papierhülle zeigt den Reichs- vrösidenten Hindenburg Im Kreise diverser Enkelkinder, auch dieses Bild ist schwarzrotgold umrandet. Der spanische Kaufmann also ehrt die Farben des Deutschen Reichs. Der deutsche Hinterwäldler jedoch, der sogenanntedeutsche Mann', glaubt für sich das Privileg in Anspruch nehmen zu können, sie zu besudeln.
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Die Passion. Romall von Clara Bicbig.
Eva lag jetzt wieder wie früher in einem Saal mit vielen anderen. Aber es war nicht der Saal Nr. 3 der inneren Station, den sie so gut kannte, und die liebe Schwester Jo- hanna war es auch nicht mehr: sie war jetzt in einem ganz anderen Haus, das als Ouergebäude den letzten Hof schloß. Seine Insassen mußten nicht alle immer zu Bett bleiben, sie konnten umhergehen und sich mit etwas beschäftigen, aber sie waren doch alle krank. Lauter Mädchen, die meisten von ihnen in den Zwanziger: auch ältere gab es, und welche, die besonders häßlich aussahen, sie hatten eine entstellte Haut, ge- narbt von verheilten und noch nicht verheilten Pusteln. Oft weinten welche: aber Eva fragte nie:Warum weint ihr?' Es war merkwürdig, mit den Kranken auf Saal 3 hatte sie sich so gut gestanden, mit denen hier tonnte sie den rechten Ton nicht finden: es trennte sie von ihnen eine Kluft. Manche waren hier darunter, die schienen recht frech: die älteren waren stiller, die jünotten die frechsten. Kaum, daß keine Aufsicht da war, fingen sie an zu trällern, halblaut erzählten sie sich etwas untereinander, worüber sie dann unmäßig lachten, sich anstießen und mit den Augen auf Eva hinwiesen. Was sollte Eva eigentlich hier? Und doch gehörte Eoa hierhier. Der Winter war darüber zu Ende gegangen. Eva ver- lebte ihn wie betäubt, durch das stete Emerlei erngelulll: auf­stehen. anziehen Bettmachen. dannderGangzum Arzt in den Umersuchungsraum. dort Behandlung. Blutmessung- alle Stationen durchmachen der Kur, die man mit ihr vor- genommen hatte. Einer neuen Kur. Wozu? Weswegen? Was fehlte ihr? Sie duldete still, sie erduldete alles. Ihr Körper war so wenig ihr Eigentum, wie sie sonst ein Eigen- trnn hatte? nicht einmal ihre Schamhaftlgtelt behielt sie mehr, durch zu viele Aerztehände war sie schon gegangen, ging sie alltäglich. Aber der Arzt sah ja nicht ihre Nacktheit, er sah nur ihre arme kranke Menschlichkeit, und sie selber sah in ihm nicht den Mann, nicht einen anderen Menschen über- Haupt, sie sah in ihm nur den Helfer aus ihrer Not, den Erretter. Arzt sein ist doch ein schöner Beruf, so dachte Eva oft. Wenn sie ein Mann wäre, wäre sie auch Arzt geworden. sticht umsonst hatte sie in den Krantensälen herumgelegen, war so und so oft zur Untersuchung gewesen, kannte die In-
strumente dies war für das und das für jenes ihr flößte nichts mehr Schrecken ein, sie kannte alles. Wenn sie doch wenigstens Schwester sein dürfte hier in der Eharitö, sie wußte ja so gut Bescheid! Nur über sich selber wußte sie nicht Bescheid.   Der Frühling kolpfte ans Fenster mit dem Finger eines sich begrünenden Baumes, der dicht am Hause stand. Schon wieder Frühling? Wenn man im Hof spazieren ging, so sah man unter den Büschen, die dort um die Bänke gepflanzt waren, eine Amsel hüpfen, sah sie ihren goldenen Schnabel in die gelockerte Erde bohren. Ob sich denn gar keiner bei mir sehen läßt? dachte Eva. Haben sie mich denn ganz vergessen? Es ist doch jetzt schon Frühling. O, wie sehr lange hatte sie von denen da draußen nichts mehr gehört! Zu Weihnachten hatte sie von Frau Lesse! ein Paket bekommen: eine Schachtel mit Konfekt, Lebkuchen, Aepfel und Nüsse, etwas Geld und ein schönes Pelzkrägelchen mit passendem Muff dazu: der war weiß, überall mit kleinen schwarzen Schwänzchen darauf. Es sah wunderhübsch aus, froh und jugendlich. Eva hatte dies Geschenk sehr bewundert, so etwas Reizendes hatte sie noch nie besessen aber was sollte sie hier damit? Sie packte Kragen und Muff gleich wieder ein und schickte sie nach der Alexanderstraße an Tonte Ella mit der Bitte, ihr die aufzu­bewahren, bis sie wieder herauskäme. Ach, die gute, liebe Frau Lessel, die wußte es noch, daß sie sich einstmals eine Pelzgarnitur gar sehr gewünsckst hatte! Sie schrieb einen dankerfüllten Brief. An Frau Bayer hätte sie auch gern ge­schrieben, ihr zum neuen Jahr Glück gewünscht, aber sie traute sich nicht. Tante Ella hatte ihr zu wissen getan, als sie ihr auf einer Karte mitteilte:deine Sachen sind bei mir ange­kommen, ich stelle sie solange auf den Hängeboden" wie sehr böse Frau Bayer auf sie war. und daß die nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Das schmerzte Eva sehr, sie hatte darüber geweint, aber war es nicht ihre gerechte Strafe? Warum war sie so unsinnig gewesen, sich au« dem Fenster zu stürzen warum? Einer Dummheit wegen. Und weil sie sich über die Auguste geärgert hatte. Hier in der Charit� sah Eoa es ein. wie töricht, wie kindisch sie damals gewesen war. Sie schickte sich darein, daß Frau Bayer böse mit»hr war, ebenso wie sie sich darein schickte, daß ihre Verwandten gar nichts mehr von sich hören ließen. Jetzt würde sie wohl bald hier herauskommen, dann ging sie nur noch einmal nach der Alexanderstraße und holte sich ihre Sachen. Was sie dann weiter anfing, darüber machte sie sich noch keine Ge­danken. Sie hoffte auf Frau Lessel.
Als sie heute zur Untersuchung war beim Professor, sah der sie durch seine scharfen Gläser durchdringend an.Nun. so weit wären wir ja, Wilkowski. Wie fühlen Sie sich denn?" Gut," sagte Eva. Er nickte befriedigt, und dann wandte er sich an mehrere jüngere Herren, die zugegen waren und interessiert zusahen: Sie sehen hier einen Fall von' was er lateinisch sprach, konnte Eva nicht verstehen. Aber sie erriet, daß er jetzt über ihre Krankheit sprach. Die jungen Herren hörten aufmerksam zu und sahen dabei auf ihren entblößten mageren Körper, dessen gelbe 5)aut nichts von der Frische eines zur Reife erblühten jungen Weibes hatte. Der Professor, der immer freundlich gewesen war, legte die Hand auf Evas Kopf, dessen Haar jetzt schon gewachsen war zu einer lockigen kurzen Mähne. Mein Kind, was wir tun konnten, haben wir getan. Sie werden jetzt entlassen. Wieviel Kuren haben Sie doch gleich gemacht?' Acht Kuren zu je sechs Einreibungen mit Merkurial- salbe.' Der Professor lächelte:Der reine Medikus selber?' Die Herren lächelten auch. «Ja, Wilkowski weiß gut Bescheid." lobte der Professor. Sie und Bescheid?! Das freilich. Aber was sie für eine Krankheit hatte, das wußte sie jo doch nicht. Und das wollte Eoa jetzt wissen, mußte sie wissen. Schon lange hatte sie es gequält und quälte sie mit jedem Tan mehr: warum lag sie in diesem Saal bei den häßlichen Mädchen, warum hatte man sie gerade dieser Klinik zugeteilt? Gab es denn kein anderes Plätzchen für sie in der ganzen großen Charitö. Sie hatte sich hier oft geekelt. Oft in den Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte, wenn auch Schmerzen sie nicht störten, hatte sich etwas an sie herangeschlichen, vor dem sie sich nicht retten konnte, wenn sie auch noch so fest die Hand auf das pochende Herz drückte und sich ganz unter der Decke verkroch. Es kam, es fand sie, es packte sie an: eine unklare Angst, ein unbestimmtes Entsetzen was tat sie hier was fehlte ihr. ihr? Nun war der Äugenblick da, der Professor war freund­lich. schien besonders guter Laune zu fein, er war heute aus­nahmsweise einmal nicht so eilig, jetzt konnte sie ihn fragen. Mußte sie ihn fragen. Aber sie waren nicht allein, die an­deren Herren waren noch da. Und jetzt auf einmal scheute Eva vor ihnen.'* lFartsetzung folgt.I