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Nr. 3643. Jahrgang Ausgabe B Nr. 1$
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Vorwärts
Berliner Volksblatt
10 Pfennig
Freitag
22. Januar 1926
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Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
Unschuldig hingerichtet!
Dittmanns Enthüllungen im Untersuchungsausschuß: Diebstähle
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Juſtiz
morde- Spitzelwirtschaft- Todesurteile und rechtswidrige Erschießungen.
Die historisch gemordenen Borgänge in der Ma rine non 1917/18 standen heute auf der Tagesordnung des Barlamentarischen Untersuchungsausschusses des Reichstags zur Erforschung der Ursachen des Zusammenbruchs, der nach langer Baufe wieder eine. Sigung abhielt. Neben den ordent fichen Sachverständigen Prof. Hans Delbrüd, General Ruhl und Oberst Schmerbtfeger waren als außerordentliche Sachverständige Bize admiral v. Trotha und Archivrat Bolfmann erschienen.
Der Vorsitzende Philipp( Dnat.) erklärte, daß die Einberufung der Sigung unter Hinzuziehung der Preffe einem einstimmigen Beschluß des Ausschusses entspreche. In der Denkschrift des Reichsmarineamts fei gegen den Abg Dittmann und anderen Abgeordneten der Borwurf, der Mitschuld an jenen Borgängen erhoben worden. Da diese Berwürfe in öffentlicher Sigung erfolgien, habe es der Aus fchuß für angezeigt gehalten, dem angegriffenen Abg. Ditte mann Gelegenheit zu einer öffentlichen Erwiderung zu geben. Nachdem noch Prof. Delbrüld eine furze Erklärung abge geben, um in feinem früher bestätigten Gutachten ein neben fächliches Bort zu berichtigen, nimmt unter großer allgemeiner Spannung der zahlreichen Behörden- und Pressevertreter Genosse Dittmann das Wort zu einem dreistündigen Vortrag.
In dem Saal, der in der Anordnung der Tische halb einem Hörsaal, halb einem Gerichtssaal gleicht, herrscht lauflose Auf mertfamteit. Das gespannte. Intereffe steigert sich von Stunde zu Stunde, plastisch treten die Ursachen der Unruhen in der Morine in die Erscheinung, so die schlechte Berpfle gung der Mannschaft, das Wohllebenber Offiziere, Die vorschriftswidrige Behandlung der Mannschaft, die dienstliche Entwürdigung der alldeutschen Propaganda. Der durch diesen furchtbaren Drud naturgemäß entstandene Gegendrud wurde den unglücklichen Mannschaften zum Verhängnis.
Immer deutlicher treten die blutigen Konturen des Dramas Reichpietsch Roebis hervor, und was man erst dunkel ahnen fann, wird, während Dittmann spricht und wieder spricht, immer mehr zu einer furchtbaren Gewißheit. Diese beiden Matrofen find Opfer eines der grauen haftesten Justiz morde geworden, die die Geschichte
tennt.
Zum Schluß ist allen flar, daß Dittmann feine Ber teidigungsrede hält, sondern eine Antlagerede von solcher Bucht, wie sie noch selten gehört worden ist. Die angebliche USP. Berschwörung zerrinnt in nichts. Die Ber ( chwörung der Marineoffiziere, Lodspiel und Kriegsgerichtsräte gegen Menschlichkeit, Sitte und Recht wird zur aftenfundigen Tatsache. Stärksten Einbrud macht der mit Ueberzeugungsfraft geführte Nachweis, daß die USP. feine Gegnerin der Landesverteidigung gewesen ist.
Der bornierte politische Fanatismus der Offiziere und Kriegsgerichtsräte hat im Kampf gegen einen vermeintlichen inneren Feind unermeßliches Unheil angerichtet und zwei unschuldige junge Menschen ermordet. Kaltblütig, un. erbittlich, ihres Unrechts tlar bewußt, hat sich die Marinejustiz über das Lebensrecht dieser Menschen hinweg. gefeßt. Ja, ihre Hinrichtung war schon vorbereitet, ehe das ungefeßliche, widerrechtliche Todesurteil noch gefällt war.
Mit dieser erschütternden Feststellung schloß Dittmann für heute, um morgen fortzusetzen. Seine heutige Rede, deren Wortlaut etwa 70 Druckseiten füllen mag, sei im ausführlichen Auszug wiedergegeben.
Der Barlamentarische Untersuchungsausschus des Reichstags zur Erforschung der Ursachen des 3ufammen bruchs von 1918 hielt nach langer Bause heute wieder eine Sigung ab, bie fich mit der Borgeschichte der Marinemeute zeten von 1918 beschäftigte. Reben den ordentlichen Sachver. ständigen Professor Hans Delbrüd, General Kuhl und General Schwerdtfeger waren für diese Sigung als außerordentliche Sachverständige hinzugezogen Bizeadmiral v. Trotha und Archivrat Boltmann vom Reichsinnenministerium.
Der Borfizende Abg. Philipp( Dnat.) wies darauf hin, daß die Einberufung dieser Sizung unter Hinzuziehung der Presse einem einstimmigen Beschlusse des Ausschusses entspreche. In der Dent. fchrift des Reichsmarineamts jei gegen den Abg. Dittmann und andere Abgeordnete der Vorwurf der Mitschuld an den Vor. gängen erhoben worden, die fließlich zu den Marinemeute. reien von 1918 führten. Da diese Vorwürfe in öffentlicher Sigung erfolgten, habe es der Ausschuß für angezeigt gehalten, dem angegriffenen bgeordneten Dittmann Gelegenheit zu einer öffentlichen Grmiberung zu geben,
Bor Eintritt in die Tagesordnung nahm der Sachverv. rosigt in einer Kommandeurverfammlung empfohlen worden. ständige Brofeffor Hans Delbrüd das Wort, um eine Berichti gung zu feinem früher erstatteten Gutachten zu Protokoll zu geben.
Hierauf nahm das Wort
Abg. Dittmann( Soz.):
Nach den Aften find von Kriegsbeginn bis Ende 1917 bei der Marine folgende Strafen verhängt worden: 10 Todesurteile, von denen zwei volftredt worden sind, 181 Jahre Zuchthaus und 180 Jahre Gefängnis. Die Freiheitsstrafen, die später durch Am. Atten von 47 Schiffsprozessen und zahlreiche Attenbände des Reichs neftie erledigt wurden, gingen bis 10 und 15 Jahre. Ich habe die Aften von 47 Schiffsprozessen und zahlreiche Aftenbände des Reichsmarineamts und des Reichsgerichts, insgesamt etwa 25 000 Aftenfeiten, durchgearbeitet und will auf Grund dieser Kenntnis berichten. Der Winter 1916/17 war eine Zeit der schlimmsten Not. Während in den Offiziersmeffen immer noch gut gegessen wurde, litten die Mannschaften furchtbar. Der zum Tode verurteilte und später zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigte Oberheizer Sachse fagte mir Später, die Berpflegung im Zuchthaus fel besser gewesen als die an Bord. Darüber kam es zu viel unzufriedenheit und zu Hungerstreifs, die politisch gar nicht beeinflußt waren, fondern einfach aus den Ber hältnissen selbst hervorwuchsen. Erst die Kriegsgerichtsräte haben die Dinge auf ein anderes Gleis gebracht. Die angeblichen USB. Organisationen auf den Schiffen waren die feit Juli 1917 offiziell eingerichteten Renagetommiffionen, die einander befuchten und ihre Erfahrungen austauschtert. Daß es auch habet zu Aeußerungen der Unzufriedenheit tam, ift nicht zu wundern. Auf dem Schiff Rheinland " hatte der Kommandant auf eine Be schwerde geantwortet: Obfie verreden oder nicht, ist uns egal, Leute sind Nebensache, die tönnen wir haben so viel wir wollen." Cin Offizier von Friedrich der Große " fagte bei gleicher Gelegenheit: " Freßt Stelne statt Brot."
Ein Obermaat desselben Schiffs, der infolge Niederkunft seiner Frau den Urlaub um einige Stunden überschritten hatte, befam 10 Tage ftrengen Arrest. Offizieren geschah aber bei viel schlimmeren Berfehlungen nichts. Der befannte Fabrikant A. Bosch in Göppingen , deffen Schn auf dem Schiff Kaiserin" diente, tlagte in einem Brief an den Abg. Baner über schlechte Kost und schlechte Behandlung als Ursache der Gärung bei den Mannschaften. Der junge Bosch felbst betam später wegen Teilnahme an einer 3ufammenkunft drei Monate Gefängnis. Der Abgeordnete der Bayerischen Bolkspartei Dr. Pfleger richtete an den Staatssekretär v. Capelle einen Brief, in dem er über schlechtes Beispiel der Offiziere, vorschriftswidrige Behandlung, schlechte Berpflegung und Nichteinlösung von Urlaubsversprechungen scharfe Beschwerde erhob.
Den Abgeordneten gegenüber wurde jeder Mißstand abgeftritten. 3n einem Geheimerlaß gab aber Admiral Scheer zu, daß grobe Fehler gemacht worden seien. In einer Konferenz mit Regierungsvertretern äußerte Herr v. Ca pelle Sorgen über die Beratung in der Budgetkommission. Es fönnte dort auch von Ohrfeigen, die ausgeteilt wurden, die Rede fein. Deffentlich wurden aber immer alle Klagen beiseite geschoben und als Bagatellen behandelt.
Das Werk der Dobring und Zoefd).
Diefe Vorgänge wurden durch fünstliche Konstruktionen mit politischen Bestrebungen und angeblichen Absichten auf gewalt. fame Lahmlegung der Flotte in Verbindung gebracht. Hauptverantwortliche dafür find die Marinehilfskriegsgerichtsräte Dr. Dobring, jett Landgerichtsrat in Berlin , und Dr. Loesch, Man veranstaltete Haus jezt Oberregierungsrat in Eberfeld. fuchungen und fand fozialdemokratische Zeitungen, Broschüren usw., mas fein Wunder war, da sich die Mannschaften aus Arbeiterfreisen refrutierten. Es handelte sich um material, das von der 3enfur genehmigt war, troßdem wurden 15 unabhängige und 8 mehrheitsfozialistische Zeitungen verboten. Natürlich wurde auch an Bord über den Inhalt der Druckschriften diskutiert. Man sprach über die russische Revolution, die sich damals noch in der Serensti- Periode befand, über die Friebensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 und über die Internationale Sozialistische Friedensfonferenz in Stocholm, auf die man große Hoffnungen fette. Es wurden Liften in Umlauf gefeßt, in die sich diejenigen eintragen follten, die sich mit dem Ziel des annegionslosen Friedens einverstanden erklärten und der Stockholmer Konferenz Glüd wünschten. In dem vorgedruckten Text war von Aufforderungen zu ungefeßlichkeiten mit teinem Worte die Rede. ( Der Rebner verlieft diesen Tert, um das zu beweisen.) Uebrigens find derartige Listen in Stockholm nicht angelangt. Es handelte fich einfach um eine
war. Offiziere und Manfchaften haben also dasselbe getan. Aber müffen, was die Offiziere als unveräußerliches Menschenrecht für fich die Mannschaften haben dafür mit Zuchthaus und Todesstrafe büßen in Anspruch nahmen.
Kalmus.
Der Verschwörungsschwindel.
Mit der Aufstellung der Listen für Stockholm hat die 3entrale der USB. nie etwas zu tun gehabt. Die Anklagevertreter sahen aber in dem Matrosen Reich pietsch den Berbindungsmann zwischen USB.- Zentrale und Mannfchaften, ebenso in dem Oberheizer Sachse und dem Matrosen Das einzig Wahre daran ist, daß Reichpietsch im Juni 1917 auf Urlaub nach Berlin fam und sich bei beiden sozialdemo fratischen Barteien über die neuen Menagefommissionen erfundigen wollte. Er hat damals mit mir, Bogtherr, Frau 3ieg und auch mit dem mehrheitssozialistischen Abgeordneten Studien ge fprochen. Daraus hat die Anflage eine Parteifonferenz" gemacht. Mit Sachse und Kalmus, die beide in Uniform waren, habe ich in Borraum des Haushaltsausschusses ein paar Worte gesprochen. Daraus hat man die große Flottenverschwärung" gemacht. Im Untersuchungsverfahren gegen Frau zieh erklärte der Amisrichter Dr. Holthöfer, daß zur Zeit, als Reichpietsch nach Berlin reiste, nach ( einen Feststellungen eine eigentliche Organisation der Mannschaften gar nicht bestanden habe.
Es ist eine niedrige Unterstellung, daß wir vorsichtig aus dem Hinterhalt angebliche hochverräterische Pläne der Matrofen gefördert hätten. Wie fonnte man dergleichen gar der Frau Sieg unterftellen? Ihr Menschlichkeitsgefühl hätte sich leidenschaftlich gegen den Gedanken aufgebäumt, mit dem Leben junger Menschen zu pielen. Und dasselbe fann ich auch von uns anderen sagen. Mit militärischer Sabotage hatte unser politischer Kampf nichts zu tun. Durch sie hätten wir ja unser Ziel, den Berständigungsfrieden, gefährdet. Das war ja für uns Sozialisten das furchtbare Dilemma, daß mir fagen mußten: Siegt eine Seite durch die Niederlage der anderen, so ist das Resultat ein Siegerund Gewaltfrieden.
So wenig wir einen deutschen Gewaltfrieden wünschen fonnten, fonnten wir auch eine Niederlage Deutschlands wünschen. Es ist eine dreiste Unterstellung, menn Kriegsgerichtsrat Dr. Dn bring in einem Bericht vom November 1917 behauptet, die USB. lehne die Kriegstredite ab, weil sie den Verteidigungsfrieg verwerfe. ( Der Redner verlieft zum Gegenbeweis zahlreiche Zitate aus Reden und Schriften der USB.) Die Anklagevertreter unterstellten uns unsinnige Biele, wenn sie behaupteten, wir betrieben eine Propaganda für die erweigerung des Dienstes und die Matrofen hätten sich von uns dazu mißbrauchen lassen. Belastende Aussagen wurden durch einen unglaublichen
Terror der Untersuchungsführer erpreßt. Man drohte den Angeklagten mit Erschießung und lebenslänglichem Zuchthaus, menn sie nicht nach Wunsch aussagten. Trogdem wurden aufgenommene Brotokolle von den Angeklagten später Der Korvettentapitän Behnke voni für gefälscht erklärt. Reichsmarineamt erklärt in feinem Bericht das Verfahren im Progeß gegen den Matrofen Rebe für befremdlich, da Dobring einen auf acht Jahre Zuchthaus lautenden Antrag weiter gar nicht begründet hatte. Dobring aber erflärte, er bedauere, Rebe zu anständig be handelt zu haben. Das veranlaßte den Staatssekretär v. Capelle an den Admiral v. Scheer zu schreiben:
„ Ich ersuche, dem Marinehilfskriegsgerichtsrat Dobring eröffnen zu lassen, daß ich dieses Berhalten nicht billigen tann." Roch schärfer haben sich Bertreter der Reichsanwaltschaft über Dobring geäußert. Aehnlich hat Loesch gearbeitet; hat dieser Herr spruch getan: doch in einer Verhandlung laut Stenogramm den klaffischen Aus
Der Fluch einer jeden Berhandlung ist immer, daß durch Aushändigung der Anklageschrift die Angeklagten merken, worauf es ankommt."
so wenn es um Leben und Tod geht, sollen die Angeklagten nicht merken, worauf es ankommt. In einem Falle lehnten sämtliche als Offizialvertreter bestellte Rechtsanwälte den Auftrag ab, weil man ihnen feine Zeit ließ, das Material durchzuarbeiten. Im letzten Augenblic sprang der deutschmationale Justizrat Buddenberg ein. Bier Todesurteile wurden verhängt, die später in Zuchthaus abgeändert sind. Dobring und Loesch organisierten förmlich
Menschenjagd und Menschenfallen, wobei sie sich eines eeres Don Lodipigeln bedienten. Der Lockspinel Adams putschte die Mannschaften auf, indem er sagte, man müffe eine Handgranate in die Offiziersmese schmeißen. Die Lockspigelei dieses Mannes ift aftenmäßig bewiefen. Unter anderem arrangierte dieser Spitzel eine Bersammlung, für die die Kieler Bollzei das Lokal besorgte. Sein Gerichtsoffizier, Oberleutnant Engel, gab ihm Instruktionen mit, die eine Aufforde rung zu gewaltsamem Widerstand barstellten. Nash blefen aftenmäßigen Jeffstellungen ist man berechtigt zu sagen, daß Offiziere zusammen mit Dr. Loesch die angebliche friegsverräterische Lufftandsbewegung felber erst großgezüchtet haben. Begen ber Kieler Bersammlung wurden schwere 3uchthausstrafen verhängt. Als aber in einem der Prozesse der Berteidiger an einen und Straflosigkeit versprochen feien, wurde Offizierzeugen die Frage richtete, ob dem Spigel Adams Vorteile
Gegenagitation gegen die alldeutsche Propaganda für den Gewaltfrieden, die von den Offizieren eifrig betrieben wurde. Wie das geschah, zeigt drastisch ein Artikel, ben ein Mairose bem Borwärts" gefchickt hatte, und der zurückgegangen war. Der Brief wurde von der Borbzenfur angehalten, und der Schreiber murde wegen Erregung von Mißvergnügen zu sechs Monaten Ge fängnis verurteilt! Gegen die Verbreitung allbeutscher Bro Schüren auf dem Dienstwege hatte sich Staatssekretär v. Capelle in einem Geheimerlaß ausgesprochen. Prinz Heinrich von Preußen verweigerte aber die Ausführung und sprach in einem Antwort. schreiben von einem ungerechtfertigten Eingriff in die Kommando gewalt. Aehnlich ging es Herrn v. Capelle, als er den Eintritt von Offizieren in die jogenannte Baterlandspartei zu ver hindern suchte, beren reichliche Unterstügung vom Admiral Gegen Adams wurbefein Berfahren eröffnet, Rach
die Antwort unter Berufung auf das Dienstgeheimnis verweigert.