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Nr. 109 43.Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Das Ende eines Wasserweges.

TIC DOGEN

Das Kanalbett in der Zuschüttung.

Der Luisenstädtische Kanal, der jetzt zugeschüttet| umbenannt), aus der die Dresdener Straße geworden ist. Die werden soll, ist nur etwa fünfundsiebzig Jahre alt ge. worden. Er wurde in den Jahren 1845 bis 1852 angelegt und er­hielt seinen Namen von der Luisenstadt, die er durchschnitt. Der Bau dieses Kanals stand im Zusammenhang mit der in den Jahren 1845 bis 1850 ausgeführten Erweiterung des seit Jahrhunderten als Ge­marfungsgrenze dienenden alten Landwehrgrabens, der damals zum schiffbaren Landwehrkanal ausgebaut wurde. Der Luisen städtische Kanal sollte als Slichkanal zwischen Landwehrkanal und Spree die Verbindung der erst im Werden begriffenen Luisenstadt fördern.

Auf dem Köpenicker Feld".

Das von der Innenstadt jüdwärts bis zum Kottbusser Tor und zum Schlesischen Tor sich erstreckende Luisenstadtgelände hieß früher das Köpenider Feld". In der ersten Hälfte des 18. Jahr hunderts wurde es zum Stadtgebiet hinzugenommen und mit von ber neuen Mauer umgrenzt, die damals entstand. Aber noch lange Behielt das Köpenider Feld" feine ländliche Eigenart. Noch im Anfang des 19. Jahrhunderts, wo es in Luisenstadt  " umbenannt wurde, bestand es größtenteils aus Wiesen, Aeckern und Gärten. Um jene Zeit zählte man auf dem ausgedehnten Gelände erst 590 Häuser mit 13 000 Einwohnern, während die Gesamtbevölkerung Berlins   damals bereits 170 000 mar. Hundert Jahre später, zu Be­ginn des 20. Jahrhunderts, wurde die Luisenstadt allein von 300 000 Personen bewohnt. Sie umfaßt die heutigen Standesamts= bezirke Luisenstadt diesseits des Kanals, Luisenstadt jenseits des Kanals westlicher Teil und Luisenstadt jenseits des Kanals östlicher Teil.

Anfänge der Bebauung.

Die ältesten Verkehrswege über das Köpenicker   Feld waren die Landstraße nach Köpenid, die wir in der heutigen Köpenider Straße wiederfinden, und die Landstraße nach Rigdorf( später in Neukölln"

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Onkel Moses.

Roman von Schalom Usch.

Die Mutter reichte Charlie das Hemd und die Hose ins Zimmer, welche beim Ofen trodneten, weil sie Charlie, als er von der Nachtarbeit heimgekommen war, ausgewaschen hatte.

Ich bin gekommen, um Charlie zu einem Bummel in den Park mitzunehmen," sagte Mascha..

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Fahrt lieber nach Coney Island   und nehmt ein See­bad es ist ja heiß zum Erstiden. Ich treibe ihn unaufhör­lich nach Coney Island  , doch er ist schrecklich faul, Mascha, den ganzen Tag hockt er in der Stube bei den Büchern," er­zählte die Mutter.

,, Die Mutter hat recht, Charlie! Wir fahren naft Conen Island. Auf dem Wege hole ich mir zu Hause mein Bade­fostüm. Nimm deines mit, Charlie."

Charlie trat aus dem nächsten Zimmer in voller Eleganz, in seinem frisch gebügelten Hemd und den gewaschenen Hosen, die noch nicht ganz troden waren. Von seinen schwarzen Haren   rannen noch große Wassertropfen auf sein Gesicht nieder, weil Charlie den Kopf unter die Wasserleitung ge­halten hatte..

Ich bin gekommen, um dich nach Coney Island   zum Schwimmen mitzunehmen," sagte Mascha ,,, nimm dein Bade­foftüm mit.

Charlie zeigte feine große Luft dazu. Er lächelte ver= legen und sagte, er müsse etwas in der Stadt besorgen und habe keine Beit. Die Antwort wirfte auf Mascha wie ein falter Wasserstrahl und sie erhob sich, um zu gehen. Die Mutter gab ihrer Verwunderung Ausdruck, daß Mascha bei diejer Hize in der Stadt blieb und warum sie nicht aufs Land gefahren war; fie beantwortete es. sich selbst mit der Ver­mutung, es sei wohl wegen der Aussteuer:

,, Man hat mir gesagt, daß sehr bald deine Hochzeit sein wird. Sie möge in einer glücklichen Stunde sein!"

Mascha antwortete nicht. Sie wurde rot und schwieg. Dann aber sagte sie plöglich trotzig und sah dabei Char­

lie an:

,, Ich habe soviel in der Stadt zu tim vor der Hochzeit und der Onkel..." Doch was der Onkel tat oder nicht tat, das sagte sie nicht mehr. Wieder errötete sie und brach mitten im Saz ab. Und statt des Troges und der lleberhebung, welche das Wort ,, Onfel" ausdrüden sollte, fam etmas her aus, was Mitleid für Mascha ermedte. Charlie bekam Mitleid mit Mascha, und es tat ihm leid,

Gegend der Neuen Roßstraße, der Neuen Grünstraße, der Alten Jakobstraße, der Neuen Jakobstraße war schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts viel mit Häusern besetzt. Am Nordrand, auf dem Landstreifen zwischen Köpenicker Straße   und Spree, ließen sich be= sonders Gewerbetreibende nieder, die der Lage am Wasser be­durften. Aber der Kern des ehemaligen Köpenicker   Feldes blieb bis an die Mitte des 19. Jahrhunderts ländlich. Als dann auch hier die städtische Bebauung einsetzte, erleichterte der Luisenstädtische Kanal die Heranschaffung der Baustoffe. Später fam er den in der Luisenstadt zahlreich entstehenden gewerblichen Betrieben zugute, die ihre Rohstoffe auf dem Wasserwege bezogen.

Das Engelbecken.

Als Hafen erhielt der Kanal im nördlichen Teil das Engel­beden, das so benannt wurde, weil die benachbarte Kirche dem Engel Michael  " geweiht ist. Beim Bau des Engelbeckens fam es im Oktober 1848 zu einem Krawall, wobei die Erdarbeiter sine die übereifig eingreifende Bürgerwehr darauſlos schoß und zu den Ausschachtungsarbeiten verwendete Maschine zerstörten. einige Arbeiter tötete, dhritt die erregte Menge, der Märzkämpfe sich erinnernd, in der Köpenicker Straße   und einigen angrenzenden Straßen zum Bau von Barrikaden. Die Bürgerwehr nahm sie im Sturm, und unter ihren Kugeln fielen noch mehrere Arbeiter.

Der Kanal heute ein Zwergenbauwerk.

Erst im Jahre 1852 wurde der Luisenstädtische Kanal fertig. Bei den damaligen Schiffsgrößen war die neue Wasserstraße aus­reichend, heute aber ist sie für die Schiffahrt nicht mehr zu ge­brauchen. Die Schleuse des Kanals hat nur 50 Meter Länge und 5,65 Meter Torbreite, während auf der Spree die im letzten Jahr­zehnt des 19. Jahrhunderts gebaute große Mühlendammschleuse 115 Meter Länge und 9,60 Meter Torbreite erhielt. Der Kanal erscheint gegenüber den neueren Schiffsgrößen wie ein Zwergbau­wert. Er ist ja auch längst der Schiffahrt entzogen.

daß er sie so fühl empfangen hatte; daher sagte er zur Mutter:

,, Du hast recht, old chap," dabei klopfte er der Mutter auf die Schulter ,,, es ist heiß. Komm, Mascha, ich nehme dich zum Schwimmen mit."

,, Siehst du, Mascha, so nennt mich mein Sohn. Alter Kerl! So nennt man in Amerita seine Mutter." ,, O, du old fool!" Charlie hob die Mutter auf den Arm und trug sie durch das Zimmer.

"

Laß los, um Gottes willen, laß mich los, du wirst mir etwas antun," flehte die alte Frau.

,, Nicht früher, als du ,, old chap" sagst." ,, Was liegt daran, chap! Meinetwegen chap, nur laß mich los, du wirst mir noch etwas antun." ,, Und jetzt den Salut". Ich lasse dich nicht früher los, bevor du nicht den Salut" sagft."

"

pledge allegiance to my flag," mühsam stammelte Genendel die Worte hervor, welche Charlie sie gelehrt hatte, als er noch ein Knabe war und in die Volksschule ging. ,, So ist es recht. Und jetzt lasse ich dich los, old chap!" Borsichtig fegte Charlie die Mutter auf einen Stuhl.

"

Da siehst du, Mascha, wie mein Sohn mich behandelt," flagte die alte Frau ,,, mir nichts dir nichts feßt er mich auf feine Schultern wo foll ich denn die Kraft hernehmen gegen ihn?"

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Nun, jetzt fomm, Mascha. How do you do?" fragte Charlie Mascha, als hätte er sie jetzt erst gesehen.

Die Tante wohnte in Haarlem  , in einer der armen Juden­gaffen. Als Charlie und Mascha aus dem Haustor traten, spürten sie erst die Hize. Es war einer jener New Yorker Sommertage, da sich schon am frühen Morgen eine, schwere, feuchte Hiße auf die Stadt legt, die feine Hoffnung auf Er frischung und Ausruhen läßt. Aus den offenen Fenstern blickt schmutziges Bettzeug, und auf den Feuerleitern trocknen Wäschestücke; auf den Fenstern stehen Töpfe mit vertrocknetem Essen von gestern. Auf den Treppen der Häuser, auf den Schwellen der Haustore und weit in die Straße hinein lungern wie weggeworfene Fetzen oder zerbrochenes Gerät Frauen und Kinder. Halb nadt gleiten und huschen sie über die Treppen auf die Gehsteige. Die Mütter versuchen, die Kinder mit Kupferstücken über das Mißveranüoen hinweg­zutäuschen, das ihnen die Hize bereitet. Die Kupferstücke verwandeln sich sehr schnell in Honigzuckerstangen. Die zer­gehen in den Kinderhändchen und beschmieren die Gesichtchen; die weißgebügelten Hemdchen, welche die Mütter bei Nacht hergerichtet haben, find klebrig vom zerfloffenen Buder. Die Kinder flüchten von dem glühend heißen Gehsteig, den die Sonne immer mehr erhitzt, und suchen Rettung auf dem

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Sonnabend, 6. März 1926

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lag der Luisenstädtische Kanal   für Berlin   ebenso draußen, wie jezt der von der Dahme zur Unterhavel führende Teltowkanal noch draußen liegt und der zwischen der Spree   und der Oberhavel   geplante Nordkanal Köpenick­Tegel noch lange als draußen liegend gelten wird. Auch das Werden und Bergehen des Luisenstädtischen Kanals, der heute mitten in der Stadt und in einem ihrer bevölkertsten Teile liegt, ist ein Stück Geschichte Berlins  .

Die Umgestaltung des Kanalgeländes.

Die geplante Zuschüttung des Kanals erfordert eine vorherige Berlegung der jetzt in den Kanal einmündenden Notauslässe. Bei der Adalbertbrücke ist ein Notauslaß im Bau, der am Engelbecken vorbei durch die Annen-, Neue Roß-, Breite Straße bei der Kur­fürstenbrücke am Schloßplatz in die Spree geführt wird. Zur Ver­meidung jeder Geruchsbelästigung, vor allem während der Sommer­monate, geht die Abwässerführung unterirdisch durch das gebräuch­tiche Gußbetonrohr von ovalem Querschnitt bis ein Meter Höhe. Ebenfalls zur Unterdrückung der Ausdünstungen macht sich eine neue Borflutung der Notauslässe notwendig, die, eine Wasserführung von der höher liegenden Spree her, durch eine Drumme geschaffen wird. Als solche baut man durch den ganzen Kanal längs eine Spundwand, 4 meter breit bleibt die Wasserrinne und so wird es möglich, ohne Aufenthalt mit der Zuschüttung des Kanals beginnen zu können. Später wird man die Vorflutung durch aus den Bau­gruben gepumptes Grundwasser erzielen. Zurzeit wird an dem Notauslaß von der Mündungsstelle am Schloßplatz und von der Adalbertbrücke her gearbeitet.

Das ganze Kanalgebiet bleibt selbstverständlich der Bebauung entzogen und wird in eine Grünfläsche mit Promenaden umge­wandelt. Das Engelbecken wird dann mit dem Kaiser- Franz­Grenadier- Platz und dem Michaelkirchplatz zusammen eine einheit­liche Anlage bilden. Mit Rasenplätzen und Kinderspielplatz werden den Bewohnern der Luisenstadt umfangreiche Erholungsanlagen geschaffen. Der ganze Kanalzug von der Spree   bis zum Urban­hafen im Landwehrkanal wird als ununterbrochene Promenadenan­lage ausgeführt. Die Zuschüttung des Kanals wird bis zum Herbst dieses Jahres durchgeführt sein. Begrünung des ganzen Gebietes ist aber vor 1927 nicht zu erwarten. Die übergroße Nüchternheit der Luisenvorstadt wird durch die neue Anlage etwas gemildert werden.

Engelbecken.

breiten Fahrweg. Alle fahren, der eine auf einem Rad, der andere auf einer alten Kize, ein anderer wieder in einer Heringstonne; und wer ein altes Wagenrad erwischt, der lädt alle seine Kameraden von der Straße zu einem ,, Raid" durch die Straße ein. Der Staub und Schmutz der umge­fehrten Gaffen wirbelt durch die Bewegung empor und legt sich auf Gesichter und Hände, auf Steine und Fenster, bis es die nackten Brüste der Mütter erreicht, welche den Schmutz und Staub der Straßen ihren Kindern zusammen mit der Muttermilch als Nahrung geben..

Charlie und Mascha schritten stumm durch die Gassen und bahnten sich mühsam einen Weg durch die Kinder, die mit Rädern an den Füßen geboren zu sein schienen und zwischen den Pferdén, Frachtwagen und Rohlenfuhren ein­herglitten, welche ihre Route durch diese Straße nahmen. Einer perstand fein Wort vom anderen infolge des Lärms und der staubigen Hiße, die ebenso grell und schreiend zu sein schien mie der Straßenlärm ringsum, wie die Eisenräder, melche durch die Straßen tollten.. Doch je meiter fie famen, desto stiller und reiner wurde die Straße, desto ruhiger und sauberer wurden die Häuser, und bald mar der Lärm ganz verstummt. Sie famen zum Ende der Straße, das über die 5. Avenue zum Park führt.

Die Häuser, welche gegenüber dem Park standen, waren von Bäumen beschattet, große Fenster blickten auf die Straße hernieder; doch die Fenster maren geschlossen, mit dunkelgrünen Borhängen bedeckt. Um die Häufer war es fühl und still, doch in den Häusern wohnte niemand, sie waren den ganzen Sommer hindurch verschlossen.

Lange gingen sie durch die Straßen, welche sich an dem Park entlang zog. Es war sehr angenehm, dort spazieren zu gehen. Die Straße war. in den beweglichen Schatten der Blätter gehüllt, den die großen Bäume auf den Gehſteg marfen. Es war ganz still. Cine feftliche Stille herrschte, welche die Bäume um sich verbreiteten, tein Hauch war zu firen, Türen und Fenster der Häuser waren fest verschlossen; jo lagen verschlossene Häufer und Plätze ganze Straßen lang da, alle an dem tühlen Zentralpart entlang, und fein leben­des Wesen hatte Nuzen davon.

Charlie begann lächelnd:

Die Häuser hier sind der beste Beweis dafür, wie un­entwickelt die amerikanische Kultur ist."

,, Was meinst du damit, Charlie?" " Diese Häuser sind ein schreiender Beweis, wie unge­recht die Gesellschaftsordnung ist, in welcher wir leben. Das fehen wir Tag für Tag Millionen von Menschen sehen diesen schreienden Beweis der Ungerechtigkeit, und wir schweigen.".

( Fortsetzung folgt.)