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Nr. 123 43. �obrgang
2. Heilage öes vorwärts
Sonntag, 14. März 1926
Einfragungsliste für ein Volksbegehren nach§ 1 Nr. 3 des Gesetzes über den Volksentscheid.
vle Cinzeichnungszeit geht am Sonntag von IS Uhr vormittags bis 5 Uhr nachmittags. Die Cinzeichnungsstellen sinü an öen Plakatsäulen zu ersehen. Mf zur Massenemzeichnung!
Der NaKeoSi-prozeß. Begründung des Rücktritts der Zivilpartei. Borbehalt der zivilrechtlichcn Aktion gegen alle Schuldigen. Der Abgeordnete Genosse Modigliani  , als Vertreter von Matteottis Sohn Eiancarlo, hat dem Prä» sidenten des Schwurgerichts von Chieti   die nachstehenden Erklärungen zugehen lassen, die die italienische Presse nicht hat abdrucken dürfen: Der Sachverhalt der verbrecherischen Handlung, die in dem gewaltsamen Tode Giacomo Matteottis gipfelte, die sich unmittelbar an die Tat anschließenden Erklärungen der infolge des Ver» brechens aus der Regierung ausgetretenen Per» sonen, die teilweisen Geständnisse von einigen Verhaf- teten, die schwerwiegenden Zeugenaussagen des früheren Generaldirektors der Polizei und schließlich die durch die Presse ver- breiteten Denkschriften, die von den Verfassern nie dementiert, sondern viclniehr bestätigt worden sind, hätten zwei verschiedene Wege zur Feststellung der Verantwortlichkeit vorschreiben müssen. Den gemeinen Gerichten mußte es obliegen, die Verantwortlichkest der Personen sestzustellen, die ihrer Kompetenz unterstanden, während die mit Reglerungsmaßnahmen verknüpfte Rerank- wortiichkeit durch jenes außerordentliche verfahren festgeskellk werden mußte, das die Verfassung für diese Fälle vorsieht. Diese zweite Form der Untersuchung, die ihrem Wesen nach der privaten Initiative entzogen ist, ist o ö l l i g u n t e r- blieben, und die Zivilpartei kann sich daher weder mit den Ergebnissen beschäftigen, die sie hätte zeitigen können, noch mit den Gründen, um dcretwillen sie unterblieben ist. Aber niemand wird in Abrede stellen können, was die Zivilpartsi behauptet, daß näm- lich dieselben Gründe des geschichtlichen Milieus und Klimas, die die außerordentliche Untersuchung vereitelt haben, einen deutlichen, schwerwiegenden Rückschlag auch auf die unter das ge- meine Recht fallende Untersuchung ausgeübt haben. Das ist nicht sofort zutage getreten. Vielmehr wurde die Voruntersuchung in der ganzen ersten Phase ohne Rücksicht und mit der größten Entschlossenheit geführt. Später aber, nach- dem bereits das schwerste Belastungsmaterial zutage gefördert war und vielleicht gerade aus Grund dieses Ergebnisses, das in allem wesentlichen durch die nachfolgende Untersuchung des Obersten Ge- richtshofes Bestätigung fand wurde die gerichtliche Beweisaufnahme unheilbar gelähmt. Man versetzte d i e R i ch t c r, die sie in der eisten Phase ' geleitet hatten, ließ die Ergebnisse der Voruntersuchung des Obersten Gerichtshofes   unbeachtet, unterließ die administrativen und diszipli- naren Maßnahmen, die sich aus der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes   ergaben, ehrte durch Berufung in ein hohes Amt den Mann, den der Oberste Gerichtshof   wegen mangelnden Schuld- bewelses freigesprochen hakte, erstickte jede Kontrolle durch die Presse und durch die öffeMliche Meinung, trieb die Einschüchte- r u n g durch die osfiziellen und nichtosfiziellen Würdenträger des Regimes auf die äußerste Spitze und stellte dann die Richter einer klug abgekarteten Amnestie gegenüber, die die moralisch am schwersten Belasteten jeder Strafe entzog und jede Untersuchung über die vor-- geschichte des gewaltsamen Todes verbot. Die Z i o i l p a r t e i hat nicht vgrfehlt, den Vertretern der An­klage in der Voruntersuchung diese Erwägungen zu unterbreiten, in- dem sie bewies und ausdrücklich erklärte, daß man durch ihre Nicht- achtung das endgültige Urteil zu einer unerträglichen Rechtsverhöhnung machen würde. Aber gerade in der Schlußphase der Voruntersuchung wurde von oben ein Fingerzeig gegeben für eine weder der Wahrheit noch der Gerechtigkeit entsprechende Lösung und dem- entsprechend wurde das Hauptverfahren nur gegen die materiellen Vollzieher der Gewalttat eröffnet, mit einer Formel, die jede Untersuchung über die Vorgeschichte und über die
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Onkel Moses. Roman von Schalom Asch  .
Auf fremde Leute kann man sick nie recht verlassen, ja, Aaron,  " wiederholte der Onkel gleichgültig, erhob sich, trat zum Spiegel und besah sich darin. Nach seiner Gewohnheit, die er nicht loswerden konnte, spuckte er in die Hände, glättete sein graumeliertes Haar, welches am Nacken sehr dicht wuchs und an den Wurzeln noch schwarz war. Lieber Moses  , tu mir das Vergnügen, und koste meine Milchkrapfen; ich habe sie speziell für dich gemacht," warf Rosa ein; seit Moses Maschas Bräutigam war. ging Rosa sehr vertraulich mit ihm um und duzte ihn, was ihr Mann Aaron unter keinen Umständen über sich gebracht hätte. Der Onkel antwortete nichts; er ging zur Tür von Maschas Zimmer klopfte an und rief in befehlendem Ton: He, Child, komm, das Auto wartet!" Aaron wurde wieder kreidebleich. Doch Rosa beruhigte ihn mit einem Seitenblick. Des Onkels Stimme schien Mascha unterwürfig gemacht zu haben. Die Tür öffnete sich, und bleich trat Mascha ins Zimmer. Sie ging langsam, trat auf den Onkel zu und blieb stehen. Der Onkel hob mit seinen kurzen dicken Fingern ihren Kopf empor und betrachtete sie: Whai: is tbe matter witli von, Mascha?" Mascha heftete plötzlich ihren Blick auf den Onkel. Ihre Augen waren größer als sonst, und große Tränen füllten sie. Sie sah den Onkel fest ins Gesicht und sprach: Muß ich denn heiraten? Ich kann nicht, ich kann nicht!" Dicke Tränen" perlten über Maschas Wangen. Bleich und wortlos stand der Onkel da. Mascha, mein Kind, was tust du?" Mascha, Mascha!" begannen Bater und Mutter zu schreirn. Laßt sie in Ruhe!" herrschte der Onkel beide mst einem harten, verächtlichen Blick an. MI riRht, kid, geh schlafen!" sprach er zu Mascha und ging, ohne die fasiungslosen Eltern eines Blickes zu würdigen. 12. Vom Teufel geholt. Der Onkel kam spät in sein Geschäft. Er war sehr ernst und setzt« sich an seinen Schreibtisch, um die Aufträge durch- zusehen. Sein Personal erschrak vor feinem bösen Blick und
seinem schweren Atem. Unaufhörlich brachte er seine Leute in Erregung und war noch mißtrauischer als sonst. SeinAd- jutant" Sam wich nicht von seiner Seite. Wenn dem On'el etwas nicht recht war, machte er Sam Vorwürfe. Dabei richtete er seine Worte an ihn, seinen Blick jedoch auf den, dem die Vorwürfe galten: das genügte, und der Missetäter wünschte sich, in die Erde zu versinken. Onkel Moses   ging zu den Schneiden: im obersten Stock- werk. Es war die Zeit der toten Saison, und der Onkel ließ auf Lager arbeiten, damit die Landsleute Arbeit hätten. Wie stets, wenn der Onkel auf Lager arbeiten ließ, ging er auch diesmal übelgelaunt umher, und alle hatten Furcht vor ihm. Seit der Onkel iedoch Bräutigam war, war er lässiger, und er war während der heißen Tage nicht in die Werkstätte ge- kommen: daher wirkte sein Eintritt jetzt unerwartet. Die Schneider hatten gemeint, der Onkel sei gar nicht im Geschäft. Sam hielt, seit der Onkel sich verlobt hatte, die Zügel nicht mehr so straff und war dem Onkel nicht mehr so ergeben, wie früher. Daher erlaubten sich die Schneider, ein wenig faulenzen. Es war auch einer der heißesten Tage. In der langen, niedrigen Werkstätte, welche aus einem Dach- boden zu einem Arbeitsraum umgestaltet war, war die Hitze unerträglich. Das Ziegeldach, welches hart über den Köpfen der Arbeiter lag, strömte dampfende Hitze aus. In dem ganzen Werkstattraum war ein betäubend süßlicher Gasgeruch, welcher aus den Gummischläuchen drang, mit denen die Plätt- eisen der Bügler an die Gasleitung angeschlossen waren. Die Bügler standen halbnackt und plätteten mit ihren heißen Eisen die neuen Wollstoffe. Der Dampf der befeuchteten Stoffe machte die Luft feucht und die Menschen müde. Die Müdigkeit drang in alle Glieder und schläferte ein. Alle wollten schlafen, be- täubt vom Gas- und Schweißgeruch. Diele konnten sich auch der Müdigkest nicht mehr erwehren und waren über die schmutzigen Maschinen gebeugt, eingenickt. Die Stückmeister hielten sich mit einem Liedchen wach. Ieckel, der Sohn des CHasen, hatte sich an eine aste Melodie des Mussaf Gebets im Roschhaschanah erinnert, welches sein Vater, der Ehasen, in der Schill' von Kusmin   gesungen hatte; die uralle Melodie weckte viele aus- dem Schlaf, und sie gedachten des Roschha- schanah in Kusmin  . Die Melodie weckte süße Erinnerungen an Fisch« mit Zwiebeln, Psalmen, grüne Felder und den kühlen Fluß zu Roschhaschanah-Zeit; und dann kamen viele süße Erinnerungen an die Heimat, an ihren Himmel, an den alten Friedhof von Kusmin   zur Tischabeawzeit, an Rostnenwein, an die Mitwah und die Sehnsucht stieg empor. Die Seha»
sucht gab ihnen Krast, den Kampf gegen den süßen, ein- schläsernden Gasgeruch und den feuchten Kamps zu führen und ihre Energie wachzuhalten. Ein Gespräch von der Heimat begann. Kusmin   erstand mit allen seinen Dörfern, Wegen, Schenken und Fischreusen. Der alte Rabbi von Llusmin lebte wieder auf und Reb Lei- buschl der Dajan  , der alte Chasen, alle Gäßchen und Winkel von Kusmin   erstanden wieder. Auf dem Friedhofe von Kusmin   standen die Toten wieder auf, welche unter den Grab- steinen ruhten, und ihre Seelen schwebten zwischen den Platt- eisen und den Nähmaschinen, den Mänteln und zugeschnittenen Hosen. Die Kusminer hörten gar nicht, daß der Onkel ein- trat. Sie sahen nicht seinenZldjutantcn" Sam, sie lebten im alten Kusmin  , in den Abenden zwischen dem Mincha- und Maariwgebet im Beth Hamidrasch von Kusmin  . He, Kusmin  , was geht da vcr?!" schrie Sam.Natür- lich, der Onkel läßt auf Lager arbeiten, damit die Schnorrer zu fressen haben, da haben sie ja recht! Warum sollen sie arbeiten man braucht ja die Arbeit ohnedies nicht! Wenn der Onkel mir folgte..." Doch der Onkel unterbrach seine Rede mit einer Hand- bewegung und betrachtete Kusmin  . Alle, die hier saßen, kannte er aus seiner Kindheit. Mit einigen von ihUN war er in den Eheder gegangen, hatte zu- sammen mit ihnen auf der Straße gespieit, mit ihnen ge-- meinsam die Stände der Obsthändler vom Markte getragen und dafür angesaustes Obst bekoinmen. Viele von ihnen hatte er gekannt, als sie im Reichtum und Wohlstand lebten, und nicht gewagt, sich mit ihnen zu vergleichen. Alle kannte er sie und jetzt waren olle seine Diener und hatten Furcht vor ihm, zitterten, wenn er eintrat. Onkel Moses   hatte plötzlich selbst Lust, von Kusmin   erzählen zu hören alte Geschichten, die er gehört hatte, als er noch ein Kind war. Es war ihm, als hätte er kein anderes Leben gehabt, außer dem seiner Kindheit, von der sie hier erzählten. Erzählt, Reb Schlojme, erzählt weiter von Kusmin,  " murmelte der Onkel nach langem stillen Nachdenken. Doch Reb Schlojme blieb stumm. Die Landsleute waren nicht gewöhnt, mit dem Onkel wie mit ihresgleichen zu sprechen. Sie beugten die Köpfe tief über die Röcke und Hosen, die sie nähten.' und erfüllten die Werkstatt mit dem Klappern der Maschinen; die Bügler fuhren hastig mit dem Plätteisen, von denen das Pfeifen des ausströmenden Gases zu hören war, über das feucht-dampfende Tuch. (Fortsetzung folgt.;