Abendausgabe
Nr. 283 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 139
Bezugsbedingungen und Anzeigenpreife Find in der Morgenausgabe angegeben Hedaffion: Sm. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Dönhoff 292-297 Tel.- Adresse: Sozialdemotrat Berlin
SW
Vorwärts
Berliner Dolksblatt
10 Pfennig
Freitag
18. Juni 1926
Berlea und Anzeigenabteilung: Geschäftszeit 9-5 Uhr
Berleger: Borwärts- Berlag GmbH. Berlin S. 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher. Dönhoff 292-297
Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Zurück zur Zigarrenkiste.
Die reaktionäre Wahlparole zum Volksentscheid.
denz äußerte sich darüber im Jahre 1903:
"
Die Terrerparole der Stimmenthaltung beim| 3orn aller Reaktionäre. Die parteiamtliche tonservative Korrespon Boltsentscheid kommt ihren Urhebern wahrscheinlich sehr originell und genial vor. Sie beabsichtigen dadurch, daß sie ihre Anhänger auffordern, der Wahl fernzubleiben, jeden, der das Abstimmung Total betritt, als„ Dieb und Räuber" zu fennzeichnen oder, wie das offen ausgesprochen ist, ihn als Sozialdemokraten und Kommunisten zu brandmarken".
Nun ist dieses Verfahren zwar heute belanglos, denn es gibt in Deutschland nicht mehr jene Zustände, wie sie einst zur Zeit der
Herrschaft der Nationalliberalen und Konservativen verhanden waren. Die ungeheure Beteiligung an der Einzeichnung zum Boltsbegehren hat gezeigt, daß die Furcht vor der Schredens herrschaft konservativer und nationalliberaler Unternehmer in erheblichem Maße geschwunden ist. Das ist ein Zeichen von der völli gen Umstellung im politischen Denken des Volkes. Die Republik hat auch hier eine sehr erfreuliche Er piehungsarbeit vollbracht, und die Sozialdemokratische Partei fann stolz darauf sein, daß sie das
Selbstbewußtsein der arbeitenden Maffen
ebenso gestärkt hat wie ihr politisches Berantwortungsgefühl.
Nichtsdestoweniger bleibt die Parole der Stimmenthaltung ein nichtsnußiger Versuch, die Deffentlichkeit der Wahl wieder einzuführen, wie sie früher in ganz Deutschland gang und gäbe war und den fonservativen und liberalen Scharfmachern ihre Borherrschaft sicherte. Nicht nur in Preußen mit feinem öffentlichen Dreiflaffenwahlsystem, sondern auch im Reich mit seiner Stimmzettelwahl war die Deffentlichkeit der Stimmabgabe die Regel, solange nicht der gestempelte Umschlag und die Wahlzelle eingeführt waren. Die Atten des Reichstags über die Wahlproteſte enthalten so viele Einzelheiten schamloser Gewaltherrschaft, daß es wert wäre, aus diesem Schage einiges wieder auszugraben zur Be leuchtung der volksparteilichen und deutschnationalen Abstimmungsparolen von heute.
Das alte Reichstagswahlgesetz enthielt zwar die Vorschrift, daß die Abstimmung durch Stimmzettel erfolge, aber die Lieferung der Stimmzettel war jeder Partei überlassen, so daß
schon durch die Größe und die Papierstärke des Zettels die einzelne Partei gekennzeichnet
mar. Die Wahlvorsteher in fleinen Orten, besonders auf dem Lande, pflegten denn auch von der Kenntnis, die ihnen der Anblick des Stimmzettels verfchaffte, nachträglich entsprechenden Gebrauch zu machen, ganz abgesehen davon, daß auch die Beobachter der Ronservativen und Nationalliberalen schon an der Färbung und am Format des abgegebenen Zettels beim Wähler feststellen fonnten, welcher Partei er feine Stimme gegeben habe. Gegen den Unfug, der mit dieser sogenannten geheimen Wahl", die in Wirklichkeit eine öffentliche war, getrieben wurde, hat die sozialdemokratische Bertretung im alten Reichs . tag immer wieder angefämpft. Lange Zeit vergeblich. So lag schon 1877 ein Antrag unseres alten Wilhelm Liebknecht dem Reichstag vor, der
das Wahlgeheimnis fidhern
wollte, 1878 felgte ein gleicher Antrag Blos- Moft und so fast jedes Jahr ein neuer. Meist blieben die Anträge ganz liegen, ohne erörtert zu werden. Später gelang es zwar, fie gelegentlich zur Befprechung zu bringen, aber sie wurden von der tonservativ. nationalliberalen Mehrheit des Reichstags regelmäßig abgelehnt. Während des Sozialistengsetes wurden
fogar fozialdemokratische Stimmzettel, die nur den Namen des Kandidaten enthielten, als verbotene sozialistische Schriften" tonfisziert
und das gefügige Reichsgericht erklärte diese Konfiskation auf Grund des Sozialistengefeßes für zu Recht bestehend. Erst ein Beschluß des Reichstags, dem der Bundesrat im Jahre 1884 zustimmte, nahm die Stimmzettel von der Liste sozialdemokratischer Schriften" aus.
Das Wahlgeheimnis war in feiner Weise gesichert, solange die Stimmzettel zwar zusammengefaltet, aber ohne Umschlag abgegeben merden mußten. Um aber auch den letzten Rest von Wahlgeheimnis zu beseitigen, verfielen die junkerlichen Wahlvorsteher auf immer neue Trids. Da nicht eine bestimmte Wahlurne vorgeschrieben war, so stand es in ihrem Belieben, welches Gefäß Sie zu diesem Zwede benußen wollten.
Zigarrentiffen und Suppenferrinen
maren die beliebtesten. In fie fonnten die abgegebenen Stimmzettel schön sorgsam der Reihe nach gelegt oder aufgeschichtet werden, so daß man am Schluß des Wahlafts auf Grund der Reihenfolge Der Abstimmenden genau feststellen tonnte, ob der einzelne oppositionell oder für die herrschende fonservative Partei gestimmt hatte. Die Wirkung auf die abhängigen Wähler besonders auf dem Lande und in Kleinstädten tann man sich denken!
Mehrfach hat der Reichstag in den neunziger Jahren, nachdem fich der konservative Terror auch gegen die Liberalen und das Zentrum richtete, in Entschließungen die Regierung aufgefordert, das Wahlgeheimnis zu sichern. Endlich entschloß sich diese dazu, vor der Wahl von 1903 die
Einführung der amtlichen Wahlumschläge und der Wahlzellen anzuordnen. Die Ankündigung dieser Erweiterung des Wahlregle ments durch den Reichstanzler Bülow erregte jedoch den heftigsten
Die Wahrung des Wahlgeheimnisses" durch amtliche Um schläge und Dunkelfammern ist bisher von der Rechten immer nur von der humoristischen Seite betrachtet worden. Man wird zu geben müssen, daß die Gewährung dieses überflüssigen Verlangens gerade im jezigen Augenblick der Komit nicht entbehrt."
Wahlterroristen marschiert, erklärte das Borgehen des Reichskanzlers Und die„ Kreuzzeitung ", die auch heute wieder an der Spitze der für sehr bedauerlich", während der Reichsbote" verlangte, daß, wenn schon eine Aenderung des Wahlgesetzes in Betracht käme, zunächst das
Wahlalter vom 25. auf das 30. Lebensjahr hinaufgefeht werden müßte. Die Konservativen erfanden für die Jfolierungszelle das schöne Wort vom Wahlflosett" und bezeichneten den ganzen Aenderungsentwurf als das„ Klosettgesetz".
"
Die Wut der Konservativen und Nationalliberalen über die größere Sicherung des Wahlgeheimnisses war begreiflich. Denn als sich erst die Wähler daran gewöhnt hatten, daß sie wirtlich unbeobachtet ihre Stimme abgeben fonnten, und besonders als in einer späteren Verfügung auch
die Suppenterrinenwirtschaft abgeschafft und einheitliche Wahlurnen von bestimmter Größe vorge schrieben waren, ging der Einfluß der Reaktionäre dauernd zurüd. Um so lebhafter flammerten fie fich dann an das preußische Dreitlaffenwahlsystem, das Ideal aller derer, die die breiten Massen des Voltes von der Mitbestimmung im Staat ausschalten wollen. Hier konnte der Terror sich noch frei entfalten. Die verschwindend geringe Beteiligung der Wähler an den preußischen Wahlen sicherte den Konservativen ihre absolute Vorherrschaft. Desmegen hielten die Junker auch bis zur Revolution an diesem Privilegium- Wahlsystem fest und teine vaterländische Erwägung, die ihnen Bethmann nahelegte, fonnte sie veranlassen, ihren Standpunkt zu ändern. Der Intrigant Loebell, der als Minister des Innern den Ministerpräsidenten Bethmann zu vertreten hatte, spielte ihnen dabei in die Hände. Jetzt möchten sie das
demokratische Stimmrecht in der Republik aushöhlen durch ihre Enthaltungsparole beim Boltsentscheid. Sie möchten wieder einmal ihre alte Herrschaft aufleben lassen und dort, wo ihr wirtschaftlicher Einfluß start genug ist, die abhängigen Wähler einschüchtern und vom Stimmrecht verdrängen. Würden die Wähler darauf hineinfallen, so werden sie später erklären daß das Fern bleiben großer Wählermassen Zustimmung zum Fürstenraub am Bolte bedeute. Sie werden sich aber täuschen. Die Wähler von 1926 find nicht mehr die von 1900! Krieg, Revolution und republitanische Erfahrung haben das alte Untertanenbewußt. fein beseitigt. Nur Feiglinge bleiben zu Hause! Die anderen aber gehen am Sonntag zur Abstimmung und sorgen dafür, daß auch die Sch mantenden und Unentschlossenen mit tommen, um ihre Stimmen abzugeben für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten . Die Abstimmung ist geheim, froh aller Machinationen der Reaktionäre. Deshalb:
Das Kreuz in den Ja- Kreis!
Neuer Putsch in Portugal . General Gomez de Costa sett Major Cabecadas ab.. Bortugal hatte schon lange feinen Butsch gehabt. Der letzte war nämlich vor knapp drei Wochen erfolgt. Aber der Leiter der neuen Regierung, Major Cabecadas, ist gestern durch die in Lissabon einrückenden Truppen des Generals Gomez de Costa gezwungen worden, abzutreten. Der General erklärt seine Bewegung für„ rein republikanisch". Das hatte auch sein Vorgänger behauptet das wird wohl auch sein Nachfolger tun. In Wirklichkeit handelt es sich um die Rivalität zwischen militaristischen Cliquen, die mit Republit nichts zu schaffen haben.
Reaktionäre Moral.
MILLIONEN
MILLIONEN
-
VOLKSVERMOGEN
LF
CINBRECHER
MILLIONEN
VOLKSVER MOGEN
- und läßt du dir das nicht gefallen, so bist du ein Räuber und ein Dieb.
und
Es wird für immer ein Brandmal ärgster Schande für große Teile der Intellektuellen bleiben, daß sie sich in den historischen Tagen des Volksentscheids, da die Geschichte das deutsche Bolt dazu berief, sein Befreiungswert um einen entscheidenden Schritt weiterzuführen, sich von der Sache des Boltes getrennt und sich zu den traurigsten Fürstenknechten gemacht haben. Und dieses flägliche Schauspiel ist um so jammervoller und empörender, als es gerade diejenigen fchen Idealismus überfließt. Aber niemals ist es deutSchichten sind, deren Mund fortwährend von dem Bekenntnis zum Deutschtum, zur deutschen Volkssache und zum deutlicher geworden als in diesen Tagen, daß dieses Prunken mit nationalen Ideen und Gefühlen nichts anderes als ein Phrasenschwall ist, der eine im Grunde volksfeindliche junkerliche herrschsüchtige Stellungnahme verhüllen soll, die auch nicht im geringsten vom Atem deutscher Kultur und deutscher Geistesart angehaucht ist. Das zeigt sich schon in der völligen Unfenntnis der eigenen deutschen Geistesgeschichte, die ihnen sonst die Schamesröte ins Gefiajt treiben müßte über den Berrat, den ihr verächtliches Eintreten für die Fürsten , d. h. für die historischen Mißhändler ihres eigenen Volkes bedeutet. Wer nicht nur mit Deutschtum und deutscher Kultur bloß prahlt, um seine eigene Untultur zu decken, sondern die müheund opfervolle Entwicklung ihrer Geschichte tennt, der müßte wissen, daß die glanzvolle klassische Zeit der Dichter und Denter, der Sturm und Drang der Freiheitskriege, das mutige und unerschrockene Eintreten der alten deutschen Burschen schaft für Freiheit und Gleichheit in der vormärzlichen Zeit daß alle geistige und politische Vorwärtsentwicklung sich stets und die großen Freiheitsstürme des Jahres 1848, furz, sichtsloseste Verfolgung seitens der deutschen Fürsten nur gegen den brutalen Widerstand und gegen die rückhat durchsetzen können.
-
Streben und hohen Flug des deutschen Geistes antun fonnten, Noch das Mindeste, was diese Fürsten dem idealen war ihre völlige Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit für feine Werke. Bekannt ist die Klage Schillers, in der er die ganze innere Beziehungslosigkeit des großen" Hohenzollern Friedrich II. zum klassischen deutschen Zeitalter darlegte. Und so wie Schiller haben auch die anderen großen geistigen Führer dieser Zeit über ihre Fürsten geurteilt. Wollen wir einige diefer Stimmen der Bergangenheit wieder zu Gehör bringen: vielleicht sind sie geeignet, auch heute noch manche beffere Erkenntnis in gedankenlosen und von Phrasenschwall umnebelten Gehirnen hervorzurufen.
So schrieb Immanuel Kant , dem ,, sein" König Friedrich Wilhelm III. den Mund verbieten wollte, in seiner Pädagogik: Die Fürsten betrachten ihre Untertanen nur wie Instru= mente zu ihren Absichten.... Sieht hin und wieder doch noch mancher Große sein Volk gleichsam nur für einen Teil des Naturreiches an und richtet also auch nur darauf sein Augenmert, daß es fortgepflanzt werde. Höchstens verlangt man dann auch Geschicklichkeit, aber bloß, um die Untertanen dann noch besser für seine Absichten gebrauchen zu können." Und an einer anderen Stelle spricht er von der Verantwortungslosigkeit der Fürsten in einem Staate nach ihrem Sinne, d. h. ohne Verfassung, wo das Regieren und Kriegführen ,, die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist, an sin en Tafeln, Jagden, Luftschlössern, Hoffesten u. dgl. durch den Krieg nicht das mindeste einUrfachen beschließen und der Anständigkeit wegen dem 6. diefen also wie eine Art Lustpartie aus unbedeuterden desselben gleichgültig überlassen fann." dazu allezeit bereiten diplomatischen Korps die Rechtfertigung
-
als das deutsche Bolt sich in den Kampf gegen Napoleon In der tiefbewegten Zeit der deutschen Freiheitskriege, sondern nach dem Sturz der Fremdherrschaft bei sich die stürzte, nicht, um die Landesväter zu befreien, eigene Verfassungsfreiheit aufzurichten, welche die Fürsten ihnen feierlich versprochen hatten, um dann nach dem Siege ihr Wort schmählich zu brechen, damals schrieb Johann Gottlieb Fichte in ahnender Boraussicht dieses treulofen Wortbruchs der Fürsten die folgenden Worte: Wenn wir nicht im Auge behielten, was Deutschland zu werden hat, so läge an sich nicht so viel daran, ob ein französischer Marschall mie Bernadotte, an dem wenigstens früher begeisternde Bilder der Freiheit vorübergezogen sind oder ein deutscher aufgeblasener Edelmann ohne Sitten und mit Roheit und frechem Uebermut über einen Teil von Deutsch land gebiete." Was aber Deutschland werden soll, das sagt Fichte im selben Zusammenhange, nämlich ,, ein wahrhaftes Reich des Rechtes, wie es noch nie in der Welt erschienen ist, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschen antlig trägt." So hatte also Fichte, der mit Recht als einer der gewaltigsten Berkünder deutschen Wesens verehrt wird, doch so wenig für die deutschen Fürsten übrig, daß ihm sogar die französische Fremdherrschaft ersprieß licher schien, weil sie doch die Herrschaft von Menschen war, die durch die französische Revolution hindurchgegangen waren und aus ihr den Sinn für Freiheit und Bolfsrecht in sich bewahrt hatten, als die Herrschaft der angestammten Fürsten, die in ihrer Gesamtheit eine gänzlich von dem Gluthauch der Revolution unberührte und unberührbare Menschengattung darstellten. Und ganz im selben Sinne spricht Fichte mitten in der nationalen Begeisterung des Jahres 1813 in seiner