Abendausgabe
Nr. 319 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 157
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10 Pfennig
Freitag
9. Juli 1926
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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands
Aufdeckung der bayerischen Feme.
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Die Verhaftung Schweikarts bestätigt. Das System Kahr- Roth- Pöhner. München , 9. Juli. ( WTB.) Bon amtlicher Seite wird beftätigt, daß im Zusammenhange mit der am 9. Juni 1921 erfolgten Ermordung des bayerischen Landtagsabgeordneten Gareis gegen den früheren Leutnant Hans Schweitari eine Borunter fuchung im Gange ift. Leutnant Schweifart befindet sich in Haft
Die Zusammenhänge der Mordtat. München , 9. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) Am 9. Juni, nachts zwischen 11 und 12 Uhr wurde der damals der USP. zugehörige bayerische Landtagsabgeordnete Gareis auf dem Nachhausewege von einer Bersammlung vor der Gartentüre seiner Wohnung nieder. geschossen. Zwei Stunden später erlag er seiner Verwundung, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Trotz angeblich eifrigster Nachforschung durch die Münchener Polizei, an deren Spize damals Polizeipräsident Pöhner stand, gelang es nicht, den Mörder zu faffen, so daß das niederträchtige Attentat bis heute feine Sühne gefunden hat. Am Donnerstag abend ist nun bekannt geworden, daß der ehemalige Leutnant Hans Schweifatt megen bringenden Verdachts, Gareis ermordet zu haben, in Untersuchungshaft ge. nommen worden ist.
Tatsache ist, daß dieser Schmeitart por etwa 14 Tagen in München verhaftet murde; ebenso ist Tatsache, daß das bisherige Berhör mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen läßt, daß man in ihm den Mörder des Gareis gefaßt hat. Immer hin sind bis zur Stunde noch nicht alle Zusammenhänge der Mord tat aufgedeckt. Derfelbe Schmeitart war bereits vor Jahren längere Zeit in Untersuchungshaft, weil er des Mordes an dem Dienst. mädchen Sandmeier im Frühjahr 1921 im Forstenrieder Bart verdächtig war, das angeblich Renntnis von geheimen Waffenlagern erhalten hatte, deren Berrat an die Entente befürchtet wurde. Schließlich wurde Schweikart damals mangels schlüffiger Beweise freigelassen. In lezter Zeit ergaben sich aber neue Beweise für seine Schuld und weiterhin auch Anhaltspunkte dafür, daß er auch den Mord an Gareis auf dem Gewissen hat. Denn es stellte sich heraus, daß Schweitart nach dem Mord an der
Tagung des ADGB. in Düsseldorf .
Besprechung der Lage des Arbeitsmarktes. Düffeldorf, 9. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) Die vierte Sigung das Ausschusses des ADGB . wurde am Freitag morgen in Düsseldorf eröffnet. An der Sigung nahmen u. a. der Reichswirtschaftsminister Dr. Curtius, Ministerialdirektor Dr. Weigert und der Präsident der Reichsarbeitsverwaltung Dr. Syrup als Gäfte teil. Die Gigung wurde eingeleitet durch den Vorfizenden des ADGB . Leipart, der den Bericht des Bundesvorstandes erstattete. Im Anschluß daran trat der Bundesausschuß in die Erörterung des Hauptpunktes der Tagesordnung:
Die Lage des Arbeitsmarktes und die Erwerbslofenfürforge ein. Das einleitende Referat hielt der Vertreter der sozialpolitischen Abteilung des Bundesvorstandes Dr. Bruno Bröder. Er führte aus: Der minimale Rüdgang der Erwerbslosigkeit im ersten Halb. jahr 1926 hat die pessimistischen Erwartungen übertroffen. Die Frühjahrstonjunktur für das Baugewerbe und die Landwirtschaft hat eine nur geringe Beeinflussung des Arbeitsmarktes im günftigen Sinne bewirkt. Am 15. Februar betrug die Zahl der Hauptunterstützten 2 058 853, fie verminderte sich bis zum 15. März auf 2017 451, am 15. April auf 1883 626, am 15. Mai auf 1 734 429 und stieg bis zum 15. Juni wieder auf 1749 111. Die Gesamtzahl der Erwerbs. lofen unter Einrechnung der Nichtunterstützten ist noch um 25 bis 30 Prozent höher. Die Zahl der Ausgesteuerten braucht noch nicht allzu hoch angenommen werden. Doch waren am 15. Juni bereits 276 000 Erwerbslose über sechs Monate und 956 000 über drei Monate unterstützt.
Am schwersten betroffen find immer noch das Baugewerbe mit nach der freigewerkschaftlichen Statistit 22,9 Proz. Arbeitslosen, Bekleidungsarbeiter mit 23,2 Broz., Tertilarbeiter 19,9 Proz., Hut arbeiter 36,04 Proz., Schuhmacher 32,3 Broz., Leberarbeiter 25,2 Prozent, Sattler und Bortefeuiller 31,7 Broz., Tabatarbeiter 87,8 Brozent, bei den Metallarbeitern schließlich 20,6 und bei den Holzarbeitern 28,9 Proz. Die Zahl der Kurzarbeiter entspricht ungefähr der Zahl der Arbeitslosen.
Das Bauprogramm der Reichsbahn.
Zur Erleichterung des Arbeitsmarktes. Bie aus dem Arbeitsprogramm der Reichsregierung hervor. geht, wird das Reich der Reichsbahngesellschaft ein Darlehen von 50 Millionen Mart zur Fertigstellung begonnener Bahnbauten zur Verfügung stellen. Nach einer Mitteilung der Reichsbahngesellschaft sollen zunächst in der Hauptsache folgende Streden ausgebaut werden:
Sandmeier ins Ausland flüchtete, von wo er am Tage der Er. mordung Gareis' nach München zurückgekehrt war, um tags darauf, also am 10. Juni, wiederum mit falschem Paß, diesmal nach Ungarn zu flüchten. Die beiden falschen Päffe wurden ihm von der Polizeidireffion München ausgestellt, die damals unter der berühmten Leitung Pöhners und feines Gehilfen Frid, des Hitler - Butschiften und jetzigen nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten, stand.
Daß in den Jahren 1920 bis 1923 die Münchener Polizei direttion der Unterschlupf für alle möglichen rechtsraditalen Berschwörer in größtem Umfange gewesen ist und daß eine Reihe von Paßfälschungen für diese Banditen direkt auf Böhner zurüdgehen, wurde wiederholt in aller Deffentlich. feit nachgewiesen, ohne daß es amtlich jeweils bestritten oder widerlegt wurde. Es darf also mit größter Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, daß mit der Aufdeckung der Mordtaten an Gareis und der Sandmeier das ganze forrupte Syftem, das damals in Bayern herrschte, auf die Anklagebant tommen wird, jenes System, das unter dem glorreichen Triumvirat Kahr- Roth- Böhner seine höchsten Triumphe gegen Gerechtigkeit und Wahrheit feierte und das mit dem Hitler Butsch das ganze Reich an den Abgrund zu bringen drohte.
Wenn nicht alle Zeichen trügen, ist jetzt der Zeitpunkt nahe, mo die Beweise restlos dafür erbracht werden fönnen, daß unter dem Ministerpräsidenten des Hochperrats Rahr, der sich als Statthalter der Wittelsbacher Monarchie fühlte, in München und Bayern unter der Proteftion der maßgebenden Regierungsstellen geheime Mörderbanden fich organisieren und politische Morde aus führen konnten. Einem dieser Femeorgane, die in engster Berbin dung mit der Münchener Polizeidirektion Pöhner- Frid standen, ist auch Gareis zum Opfer gefallen. Durch die Aufdeckungen dieser ruchlojen Mordtaten führt der Kampf der Sozialdemokratie in Bayern , die gerade um dieses Kampfes willen Jahr um Jahr den gemeinften Schmähungen und schlimmsten Verdächtigungen ausgefegt war, zu einem Sieg der Gerechtigkeit über politischen Haß und verbrecherische Korruption.
Mit der Elektrifizierung der Berliner Borortbahnen wird eben falls sofort begonnen. Dabei wird der Umsteigeverfehr zwischen der Borort und der Ringbahn erleichtert. Die Finanzierung der Ber.. liner Bahnbauten hofft die Reichsbahn zum Teil aus dem vom Reich in Aussicht gestellten weiteren Hundertmillionen- Kredit zu Neubauten deden zu fönnen.
Die
Heute Abstimmung über Caillaux. Mehrheit für ihn wahrscheinlich.- Eine Milliarde Mehrforderung für Beamtengehälter.
Paris , 9. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) Der Freitag wird voraussichtlich den Abschluß der Finanzdebatte und die End abstimmung bringen. Von unvorhergesehenen Zwischenfällen abgefehen, kann die Regierung auf eine Mehrheit für ihr Bro. gramm zählen. Denn in dieser Kammer hat außer der fozia liftischen Partei niemand eine Meinung über das Finanz problem. Dieselben Parteien, die Caillaug eine Ovation brachten, haben Blums Darlegungen lebhaften Beifall gezollt.
Die sozialistische Fraktion hat am Donerstag einen An= trag ausgearbeitet, für den fie in der Kammer die Priorität( erste aller Abstimmungen) verlangen wird. In dem Antrag werden aus der Aussprache die politischen Konsequenzen gezogen und als Haupt punkte einer Finanzjanierung gefordert: Kapitalabgabe, da neben Verwerfung der Auslandsanleihen und des Bashingtoner Schuldenabkommens. In der Ab. ſtimmung für oder gegen die Priorität dieses Antrages wird bereits die politische Entscheidung fallen.
Die Kritik Leon Blums an Caillaug' Sanierungsprogramm hat bereits eine prinzipielle Bestätigung durch Caillaug selbst erfahren. Bahrscheinlich um die von ihm angefündigte Sparjamteitsära" einzuleiten und eine Inflation unter allen Umständen zu vermeiden, hat Caillaug am Donnerstag auf die Anfrage eines Abgeordneten wegen der Verschleppung der Gehaltserhöhungen für die Poft beamten erklärt, die Regierung werde in fürzester Zeit von der Rammer einen Kredit von einer Milliarde Franken zu allgemeinen Erhöhung der Beamtengehälter verlangen.
Vergebliche Sanierungsversuche in Belgien . Brüffel, 9. Juli. ( Eigener Drahtbericht.) Im Senat machte am Danerstag Finanzminister houtart Ausführungen über die Finanzlage und Reformpläne der Regierung zur Frankenfanierung. Wesentlich neues brachte die Erklärung nicht, die auf die Sozialisten einen ungünstigen Einbrud machte, da die ganze Weisheit darin besteht, fernere Kapitalflucht durch immer meitergehende Steuertonzeffion an die Befizen Dortmund- Breußen- Münffer, Witten - West- Barmen, werden den zu vermeiden. Bemerkenswert ist die Erklärung, daß die Regie -Rothenburg . Merseburg - 3öschen, Goldap - Szitikehmen, Zwijel rung den Franten schließlich zum Rurse von 150 das Pfund zu -Bodenmais , Eisenberg- Enfenbach, Borna - Großbothen , Bober- stabilisieren hofft. Am Donnerstag verlautete übrigens gerüchtweise, Kunewald- Löbau und einige bisher stillgelegte Nebenbahnen in daß außer der Eisenbahn auch das staatliche Fernsprechwefen Bürttemberg und Baden, darunter die Murgta Ibahn in eine Aftienunternehmung umgewandelt werden soll.
Notwehr gegen Faschisten.
Politische Nachbetrachtungen zu einem Freispruch. Lugano , Anfang Juli.
Am 17. Juni ist von den römischen Geschworenen ein Anarchist mit Namen Pietro Ghinazzi freigesprochen worden, der in den Tagen des faschistischen Marsches auf Rom einer Gruppe bewaffneter Faschisten Widerstand geleistet und einen der Faschisten getötet hatte. Die Gechworenen haben angenommen, daß er im Zustande der Notwehr gehandelt hat; der Oberstaatsanwalt hatte dagegen die Ansicht vertreten, daß Ghinazzi den Faschisten aufgelauert und dann aus dem Hinterhalt auf sie geschoffen hatte. Ueber die Grenzen der Antlage hinaus, die auf Totschlag lautete, wollte der Oberstaatsanwalt die Berurteilung wegen Mordes durchsetzen.
Der Freigesprochene hat eine lange tragische Vors geschichte. Zu Anfang des Jahres 1921, als die faschistischen Gewalttaten eben begonnen hatten, schleuderte er eine Bombe gegen ein Lastauto voll Faschisten, wobei mehrere verwundet wurden. Ghinazzi wurde in Abwesenheit zu 19 Jahren Zuchthaus verurteilt, aber von einer vorfaschistischen Amnestie begnadigt. Nach dem Verbrechen lebte er unter falschem Namen in Rom und arbeitete als Maurer in der Gartenstadt des Aniene. In der Nacht des 29. Oftober 1922 fehrte er mit zwei Gefährten aus Rom zurüd, um sich an seinen Arbeitsort zu begeben, der sog. Kathedrale des Papstes Alexander, 10 Kilometer von Rom entfernt. Im Dunkel der Nacht treten ihm 6 mit Gewehren bewaffnete Faschisten entgegen; auf ihren Anruf gibt der Arbeiter Feuer und tötet einen von ihnen. Die Faschisten feuern faft gleichzeitig und eine Rugel zerschmettert den Oberschenkelknochen Ghinazzis. Diefer entkommt im Dunkeln, trotz der schweren Verlegung, und wird erst nach zwei Tagen von den Carabinieri halb griffen; von einem von ihnen, einem Burschen mit Namen verblutet aufgefunden. Die beiden Gefährten werden er Ubaldo, hat man nie mehr etwas gehört und weiß nicht, ob er lebt oder tot ist. Der andere, Rulli, wurde von den Faschisten erschossen. An der Leiche wurden sieben schwere Schußverlegungen und weiter Verwundungen durch Kolbenhiebe festgestellt.
Für die Faschisten kam die Weihnachtsamnestie von 1922 in Anwendung, die alle zu nationalem 3wed" ausgeführten Verbrechen amnestierte. Ghinazzi wurde nach fünf Monaten Hospital in Untersuchungshaft gehalten. Mit dem Prozeß beeilte man fich nicht, weil es fast unmöglich schien, eine Berurteilung durchzusehen, gegen einen Arbeiter, der in dunkler Nacht von 6 Bewaffneten angegriffen wird. Und so inszenierten die Faschisten von Bologna inzwischen einen anderen Prozeß. Vor dem Bombenattentat Ghinazzis war nämlich in Bologna ein städtischer Polizist getötet und wegen dieser Tat ein Faschist mit Namen Calvi verurteilt worden. Die Faschisten bringen nun Zeugen bei, die Ghinazzi der Tötung des Polizisten beschuldigen, eine Revision durchsetzen und im April 1926 Ghinazzi auf Grund von Hörensagen und laffen. Der einzige Augenzeuge des Totschlags hat auch bei ohne Beweismaterial zu 21 Jahren Buchthaus perurteilen der Revision auf seiner ersten Aussage bestanden, daß er nur Calvi gesehen und mit Deutlichkeit erkannt hat. Calvi wird freigesprochen.
endlich der Prozeß wegen der Episode des Marsches auf Nach dreieinhalb Jahren Untersuchungshaft tam nun Rom . Da beide Gefährten Ghinazzis tot waren, wäre es für ihn leicht und auch nicht unehrenhaft gewesen, diesen die Schuld zur Last zu legen. Aber Shinazzi erklärt: ,, ich allein war bewaffnet, ich allein habe geschossen". Gleichzeitig sagt schuldig ist. Der Verteidiger des Anarchisten sagt den Geer noch einmal, daß er an der Tötung des Polizisten unschworenen: Das Geständnis des Angeklagten beweist nichts, wenn fein weiteres Beweismaterial dazukommt. Ghinazzi tönnt ihr nicht verurteilen, ohne zuzugeben, daß die Faschisten seinen Gefährten Rulli unschuldig getötet haben." Aber die Geschworenen haben den Tatbestand der Tötung durch Ghinazzi als bewiesen angesehen und ihn trotzdem freigesprochen, weil sie den Zustand der Notwehr annahmen. Selbst wegen der Führung eines falschen Namens haben sie den Ghinazzi nicht verurteilt.
einzig dar. Pflegen die Geschworenen doch unter teinen Um Dieser Wahrspruch steht im faschistischen Regime fast ständen das Recht auf Notwehr gegenüber faschistischen Angreifern anzuerkennen. Und nun gar während des Marsches auf Rom !
Zu diesem Freispruch ist weiter zu bemerken, daß er ausschließlich in einer großen Stadt möglich war; in einem fleinen Orte hätten die Faschisten in der Nacht nach dem Wahrspruch die Wohnungen der Geschworenen verbrannt und verwüstet. Weiter dürfte zu ihm wesentlich der Umstand beigetragen haben, daß der arme Ghinazzi ohnehin nicht in Freiheit gesetzt werden tann; in der Tat nüßt in solchen Fällen das Freigesprachenwerden menig. Vor einem Jahr ist ein Kommunist in Spezia freigesprochen worden; man fand ihn aber menige Tage darauf tot auf der Landstraße. Die Geschworenen rechnen mit dieser Arbeit des Nach richters", die sich die faschistische Partei bei Freisprüchen vorbehält. Auf alle Fälle gereicht aber der Wahrspruch von Rom den Geschworenen zur Ehre; er rehabilitiert ein wenig die Institution der Geschworenengerichte, in die die italienische Arbeiterschaft heute foft alles Bertrauen verloren hat.