Donnerstag 12. August 1926
Unterhaltung und Wissen
Der Bienenschwarm.
Bon Edgar Sahnewald.
In die Großstadtstraße verirrte sich ein Bienenschwarm. Er tam dahergeflogen wie ein Haufe, ohne Ahnung davon, daß auf dem Asphalt zwischen steinernen Mauern keine Blumen für Bienen blühen. Wundervoll war dieser braufende Schwarm in seiner Disziplin. In seiner Mitte flog die Königin, und loder um fie herum in kleinen, Guf und niederschwebenden Zidzadflügen schwärmten die Bienen mit ihr. So rollte der Schwarm hoch zwischen den Häusern dahin wie eine große, bald gehobene, bald sinkende, blond schimmernde Kugel cus Luft, bewegt von sirrenden durchsichtigen Flügeln.
Unter dem tanzenden Schwarm hinweg fuhr ein Auto. Gleich darauf hielt es vor einem Geschäft, und der Herr, der es steuerte, Kieg aus. Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als der Bienenschwarm, vielleicht vom Luftwirbel herabgezogen, sich niederfentte und das Auto mimmelnd überfiel. Der blanke Lad, die Lederpolster, das Glas der Schutzscheibe alles mar im Nu bedeckt mit Bienen, mit einem lebendig famtenen Belz von Bienen. Der rote Richtungsweiser glich einer braunen Traube. Auf der Glasscheibe Tiefen fie auf und ab, winzige Tänzerinnen im gefpreizten Gazeröckchen der Flügel. Ueber dem Wagen schwärmten die fleinen Sörperchen in der Luft mit leisem Brausen wie wallender Dunst. Man glaubte feinen Honigduft zu spüren.
Da tam der Herr aus dem Geschäft zurück und sah ratlos den leberfall. Menschen sammelten sich an. Sie standen in respektvoller Entfernung um den Wagen, über dem das fingende Heer feine, gefährliche Speere ſchwang.
Schließlich al das Schauspiel schon eine Weile gedauert hatte, Schritt ein Mann durch die Mauer der Zuschauer auf den Wagen au, betrachtete den summenden Pelz und begann dann, in den Rauch ciner Zigarre gehüllt, vorsichtig und sachfundig das Gemimmel abzusuchen. Er schob die Bienen mit den Fingern auseinan= der. Die kleinen Wesen setzten sich ihm auf den Rock, auf die Hände, auf den Hut. Er wehrte es ihnen nicht, er suchte, und die Bienen stachen ihn nicht, sie famen zu ihm, als fühlten sie, daß er mit Bienen umzugehen wisse. Der Eigentümer stand dabei, fichtfich froh, daß ihm jemand aus seiner Berlegenheit half; er verstand lich wohl auf die komplizierte Maschinerie seines Wagens, aber nicht auf die Bienen.
Während die vielen Menschen langjam, von Neugier getrieben, immer näher herantamen und den Wagen schließlich eng umftanden, iraf ein Schumann ein. Er vermutete mohl einen Verkehrsunfall; man sah ihm an, daß er seine Instruktion fannte und sie fegleich anwenden würde. Als er aber dann die Bienen sah, fand er sich in eine Lage versetzt, die sich allen Regeln entzog. Daß ein Mensch überfahren mire, ist in der Großstadt fein außergewöhnliches Ereignis; die amtliche Handlung setzt selbstverständlich ein. Aber schwärmende Bienen heben die Berkehrsordnung auf. Der Schutz mann sah in die schwirrende Wolke über dem Auto; diese winzigen Befen entwaffneten ihn. Notizbuch, Seitengewehr, Gummischläger maren ihnen gegenüber ganz nutzlose Dinge.
Und so mußte sich der Schuhmann darauf beschränken, die Zu chauer in die Verkehrsschranken zu weisen. Er fragte zwar den bienenkundigen Mann, ob der Wagen nicht wegfahren könne, aber fer Mann erklärte ihm, daß dann die Bienen einfach folgen würden; He bleiben bei ihrer Königin. Kleine summende Bienen, die ein Sauch bewegt, brachten mit ihren zarten Flügeln, ihren winzigen honigbraunen Körperchen ein Automobil mit seinen vierzig Pferde träften zum Stehen; sie jetzten eine ganze Verkehrsordnung, die Straßenbahnen, Automobilen, Fuhrwerken, Motorrädern, Radfahrern, Fußgängern ihre Bahnen genau vorschreibt und deren Beftimmungen ein Schuhmann mühsam auswendig lernen muß, einfach cußer Kraft. Kleine Bienen enthüllten mit der Unangreifbarkeit einer beinahe geistigen Macht die ganze Künstlichkeit des Großstadt Icbens; im leisen Brausen ihrer Flügel wehte der überhebliche Stelz des Großstädters kläglich dahin.
Inzwischen hatte sich noch ein bienenkundiger Mann eingefunden, und das war merkwürdig, daß in dieser naturfernen Asphaltstraße zwei Männer zur Stelle maren, die sich auf Bienen verstanden. Sie wechselten einige Worte miteinander, sprachen etwas von Kreuzung und Italienern, und die Zuschauer beugten sich näher heren, verroundert, daß man auch bei Bienen Raffen unterscheiden kann. Eie hetrachteten die beiden Männer mit Hochachtung, und einige mußten jogar theoretisch, daß es gelte, die Königin. die Weisel zu finden. Hier fißt sie!" rief der zweite Helfer, und während er die Königin vorsichtig aus dem Schwarme nahm, ließ sich der andere aus dem Geschäft einen großen Pappkarton reichen, schnitt ein Loch hinein und sagte zu den Zuschauern, daß es von nun an gefährlich fei, allzu nahe zu kommen; drei Bienen könnten einen Menschen töten. Die Zuschauer glaubten es aber nicht und blieben fest wie eine Mauer.
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Der Mann setzte die Königin in den Pappfarton und streifte nun mit einem Bappstreifen den summenden Belz strichweise ab und strich und schüttelte die Bienen über das ausgeschnittene Loch. Sie begriffen sofort. In eifrigem Gedränge schlüpften sie zu ihrer Königin hinein. Nach und nach senkie sich auch der brausende Schleier aus der Luft auf den Karton nieder. Schließlich konnte der befreite Wagen davonjahren; der Schutzmann stand gesichert im Bereiche der wiederhergestellten Ordnung. Ihm blieb die klare Aufgabe, die Verwahrung des Kartons mit dem Bienenschwarm anzuordnen und Meldung zu erstatten, damit der Eigentümer der Bienen ausfindig gemacht werden könne.
Als der Karton davongetragen murde, klang daraus ein dunkles, marmes Brausen wie die Stimme der großen fernen Natur, nach der wir auf dem Asphalt uns alle sehnen.
Der Brief Clemenceaus.
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Beilage des Vorwärts
er hat
Kürzlich besprach ich in der Presse ein Buch, die Biographie eines Verbrechers, die mich interessierte, weil diefer betreffende Mensch ein seltsames Doppelleben führt, im Gefängnis dort einen großen Teil seines Lebens verbracht ein feiner, geistiger Mensch, in der Freiheit Schwerverbrecher, Fassadenfletterer; einmal tötete er, allerdings nicht vorbedacht, einen Menschen Mann E. S. stammt aus unglücklichsten Berhältnissen; ich fand in und verbüßt gegenwärtig eine vieljährige Gefängnisstrafe. Der seinem Schicksal eine Bestätigung dessen, daß wir für bestimmte Fälle von moralischem Zufurzkommen die gegenwärtige Gesellschaftsordnung verantwortlich machen müssen. Irgend jemand hat dem betreffenden Manne meine Ausführungen geschickt, und er hat mir daraufhin einen Brief geschrieben, der mich auf das Tiefste erschütterte und Ursache dieser Zeilen ist. Er findet zunächst in der mir selbstverständlichen Betrachtung der unseligen Berhältnisse, die ihn, den anders Veranlagten, zum Verbrecher werden ließen, eine ihn erfüllende Güte ich übergehe, was sich darauf bezicht und ich setze nur hierher, was mir von allgemeinem Belang zu fein scheint. Da heißt es: Nach all den pharifäerhaften, vom fläglichsten Inverstand diktierten Verdammungsurteilen über das Verbrechertum im allgemeinen und über mich als Schwerstverbrecher" im besonderen, die ich im Laufe der Jahre gelesen habe, wirfte dieser fpontane Erguß Ihrer Herzensgüte wie eine Art Seelenbad auf mich, wie ein feierlicher mentaler Taufaft, aus dem man geläutert und zugleich gestärkt hervorgeht und es wagt, sich wieder einmal als Mensch unter Menschen zu fühlen.
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Wenn jene selbstgerechten Scherbenrichter es nur begriffen, daß ihr unbarmherziges Anathema über ihren irregegangenen bzw. irregeleiteten Nächsten sehr oft die unmittelbare Ursache zu neuen, vielleicht noch schlimmeren Gesezesübertretungen ist, deren Folgen und Verantwortung auf sie als Miturheber zurückfallen, sie würden bei der Vollstreckung ihrer vorschnellen, unbedingten Verdammungssprüche gewiß etwas bedächtiger zu Werte gehen." Er gibt dann noch seiner neu gewonnenen religiösen Ueberzeugung er ist zu der Christian Science " gekommen Ausdruck und dem Ver. trauen, daß die fernere Gestaltung seines Erdenschicials die Kraft seiner Läuterung beweisen" würde. Wir müssen es hoffen, daß diese innerliche Läuterung so groß ist, daß das unbarmherzige Leben, wenn es wieder an ihn herantritt, nicht start genug jein fenn, ihn wiederum zu fällen. Gelingt die Selbstbehauptung dieses Mannes, so wäre sie ein Beweis für die Lehre, die wir aus allem Erleben gewinnen sollten, daß es nicht darauf anfommt, mas mir erleben, ob das angenehm oder beschwerlich ist, sondern darauf, wie wir erleben, ob das Erlebte uns zu einer Quelle inneren Reichtums wird, uns reiner, stärker, milder und hilfsbereiter macht. In
„ Sämtliche Zähne find mir ausgefallen! Bitte, bitte, diesem Sinne fann auch die Tatsache, daß man gegen die Geseze verhelft mir doch zu einem neuen Gebiß!"
Der Kalender der französischen Revolution. Die große Revolution, die Frankreich am Ausgang des 18. Jahrhunderts( 1789 bis 1795) erschütterte, brachte eine gründliche Umwälzung der staatlichen und bürgerlichen Verhältnisse. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die führenden Männer auch eine Aenderung des Kalenders anordneten; nichts sollte von der alten Gesellschaft mit in die neue Zeit übernommen werden. Infolgedessen setzte der allmächtige Konvent eine Kommission mit dem Auftrag ein, einen neuen Kalender auszuarbeiten, der am 5. Oftober 1793 eingeführt wurde. Das Jahr begann danach mit dem Tage, auf den die Herbst-, Tag- und Nachtgleiche fiel; den Jahresanfang hatten jedesmal die Astronomen genau zu bestimmen. Vom 22. September 1792 an, also dem Tag der Broklamation der Republik , sollten die Jahre richtig beginnen. Das Jahr wurde wieder in 12 Monate zu je 30 Tagen eingeteilt; die restlichen 5 Tage( im Schaltjahr 6 Tage) sollten dem letzten Jahresmonat zugerechnet werden. Jeder Monat wurde in drei Abschnitte zu je 10 Tagen gegliedert, ein solcher Abschnitt hieß Dekade". Der zehnte Tag war jedesmal ein Feiertag, der sich aber feiner Beliebtheit erfreute, da niemandem eine zehntägige Woche behagen wollte. Den Tag wiederum teilte man ein in 10 Stunden, von Mitternacht ab gezählt, die Stunde in 100 Minuten und die Minute in 100 Sefunden. Uhren aus der damaligen Zeit mit dieser Einteilung des Zifferblattes gibt es auch heute noch. Der Kalender der Novemberrevolution wurde aufrechterhalten bis zum Jahre 1805. Mit der Einführung des Kaiserreichs wurde er abgelöst von dem alten gre= gorianischen Kalender, der am 1. Januar 1806 wieder eingeführt wurde, nachdem vorher, am 31. März 1802, die zehntägige Woche durch die siebentägige ersetzt worden war. Noch einmal, und zwar im Jahre 1871, sollte dieser Kalender eingeführt werden. Aber die Herrschaft der Kommune war für die Durchführung dieser Aenderung zu kurz.
doch vollkommen, um ähnliche Unvorsichtigkeiten wieder in Ordnung| zu bringen. Aber mehr als diese Sache brachte mich etwas anderes auf. Ich konstatierte nämlich nach einiger Zeit, daß sich in unserer Mitte ein Verräter, ein schändlicher, nichtswürdiger Verräter ver. barg, der, um selbst der Strafe zu entrinnen, in gewissen Fällen den eigentlichen Täter verriet und alle Strafe, in die wir uns sonst geteilt hätten, allein auf dessen Haupt konzentrierte.
Diese schwarze Seele" war Franzl Rzehak, der sich zwar gewissenhaft und freudig an unseren Unterhaltungen beteiligte, der aber stets, wenn er mit uns in einer Falle gefangen wurde, auf den Urheber irgendeiner Unbändigkeit hinwies, wofür ihm gewöhn. lich die Strafe nachgesehen wurde. Wir übrigen drei traten deshalb zu einem strengen Gerichte zusammen und stießen den unwürdigen und ehrlofen Verräter aus unserer Mitte. Die Folge dieser Maßnahme war, daß uns Rzehaf den Tag darauf der Reihe nach durch drofch. Selbstverständlich, er war der stärkste unter uns allen und in seinem Charakter war nicht ein bißchen Ritterlichkeit.
Aber nicht einmal diese schändliche Gewalttat lenkte mich von der angetretenen Bahn ab. Ich schwor dem Rzehat schreckliche Rache, die ich flugerweise für eine spätere Zeit, bis ich größer und stärker sein würde, aufhob.
Ich denke, daß ich damals vielleicht zehn Jahre alt war. In diesem Alter war ich ganz rothaarig, mein Kopf sah wie eine Pomeranze aus, und innerhalb der nächstliegenden vier Gassen er freute ich mich des Rufes eines vollkommenen Gassenjungen. Zur damaligen Zeit gab's in meiner Heimatsgemeinde feinerlei„ Kreisblättchen", aber ich denke, wenn ein solches herausgegeben worden wäre, daß es von mir manchesmal eine lobenswerte Erwähnung getan hätte. Für diesen meinen Ruf konnte ich mich wahrhaftig bei meinen liebenswürdigen Nachbarn bedanken, die meinen Ruhm von Mund zu Mund, von Ohr zu, Ohr, weiterverbreiteten. Um nicht den Anschein von Unbescheidenheit zu erweden, muß ich der Wahrheit gemäß eingestehen, daß ich es nicht einzig und allein war, dem sie ausschließlich ihre Aufmerksamkeit zuwendeten. Franzerl Rzehat, Toni Kvasnicka und Jaroslav Prochaska waren meine würdigen Genossen. Wenn irgendwo in der nächsten Umgebung ein Fenster eber eine Glastafel in einem„ Rastel" zertrümmert, irgendwo die Röhre der Dachytraufe heruntergerissen, oder irgendeinem Nachbarn tie Klinke mit Leim oder Schusterpech beschmiert wurde, dann dachte man gewiß an uns vier, und wer auch immer etmas verübte, mir cile wurden gewöhnlich gedroschen. Unferen Anflägern oder Vollstredern des Standrechtes belastete es feineswegs das Gewissen; sie raaren davon überzeugt, daß der wirklich Schuldige auch sein Teil abbekommen hatte, und ich gebe gerne zu, daß sie sich selten täuschten. In jedem Falle aber, wenn sich einer von uns unschuldig getadelt fühlte, zögerte er feinen Augenblid, seine gedemütigte Würde wieder Soviel ich mich erinnere, trug mein Vater fast niemals neue zu rehabilitieren, deshalb ging er und vollführte wieder etwas. Kleider. Alles, was er an hatte, tannte ich an ihm seit langem, so( ber wie es schon zu sein pflegt, daß derjenige, der die Macht beweit mein Gedächtnis überhaupt zurückreichte. st, auch das Recht hat, wir unterlagen ohne langen Prozeß wieder ten strafenden Händen der beleidigten Nachbarn und Nachbarinnen. Ich ertrug diese Beschränkung meiner persönlichen Freiheit sehr schwer und konnte es durchaus nicht verstehen, weshalb so ein Lärm fosbrach, mert jemandem eine Fensterscheibe zerschlagen wurde. Gab's doch in unserer Gasse allein zwei Glaser, und die genügten
Genau so resultatlos und erfolglos verliefen Tadel und Ermahnung seitens meiner Mutter, ebenso wie die strengen Blicke und muchtigen Ohrfeigen des Baters. Aber was weder den mißgünſtigen Nachbarn, was weder den nachsichtigen Ermahnungen, noch den empfindlichen Strafen zu Hause gelang, dies vermochte endlich ein alter Rock, jawohl, ein alter Rock! Und es ist dies eine ganz einfache Geschichte.
Und soviel ich mich auch zu erinnern vermag, fam zu uns ins Haus niemals der Schneider, der für den Vater irgendein Kleidungsstück über dem Arm getragen hätte, obgleich Baters bester Freund gerade ein Schneider, Herr Rödl, gewesen war. Alle die Röde, in denen der Vater im Winter und Sommer in die Kanzlei zu gehen pflegte, waren sozusagen mit seiner Gestiat verwachsen, und ich
gefehlt hat, ja daß man unverzeihliches Unrecht beging, zur Ursache cines späteren menschlichen Aufstiegs werden. Dazu reicht doch aber schließlich nur bei ganz wenigen die innere Kraft aus, wenn nicht die Umwelt hilft. In einer Nachschrift des erwähnten Briefes heißt es Im Interesse meiner Schicksalsgenossen, die gleich mir unter dem allgemeinen Vorurteil gegen Vorbestrafte zu leiden haben, stelle ich Ihnen anheim, von obigem Briefinhalt beliebigen Gebrauch zu machen."
Der Briefschreiber ficht also ein Haupthemmnis für späteren Aufstieg in dem Vorurteil gegen den, der eine Gesezesübertretung beging, das diesen dann im Leben in der Freiheit hindert. Ganz sicherlich ist er darin soweit im Recht, daß diese Borurteile ständig wieder die Einordnung in das normale Leben der Arbeit, der Ge meinschaft, der Familie erschweren oder unmöglich machen. Wir werden oft dem einzelnen helfen können, sich besser zu behaupten, aber fommt es denn darauf lezten Endes an, wenn immer wieder neue unbeschützt den Lebensbedingungen zum Opfer fallen, die sie zum Berbrechen führen? Diese unglücklichen Lebensbedingungen treten fast immer in der Kindheit oder in früheren Jugendjahren, in der Pubertätszeit, hervor; der Krankheit vorbeugen ist besser als sie heilen. E. S. denkt in seinem Briefe an solche, die Verbrecher geworden sind, ich denke mehr an die, die es werden können, und ich sage mir, wenn selbst alte Gewohnheitsverbrecher, wenn selbst sogenannte Schwerverbrecher" einen Brief schreiben können wie den, aus dem ich Proben hierhersezte, dann ist das ein Beweis dafür, daß sie, wenn man sie in die rechte Lebenssphäre hätte bringen fönnen, wohl der Gemeinschaft Wertvolleres hätten schenken fönnen als viele jener, die heute über sie geringschäßig und verständnislos urteilen. Der Sozialist sagt sich immer wieder: Nur bei einem Umbau der Gesellschaftsordnung können wir die Möglichfeiten schaffen, weitgehend Menschen, die uns allen geben fönnten, davor zu bewahren, daß sie zum Schädling für sich und andere werden. Denn ein Schädling ist und bleibt der Verbrecher; Güte, und Verstehen, das wir geben, ist und sei nie weichliches Mitleid.
forschte niemals, woher sie stammten und wann sie der Vater zu tragen begann. Ja, ich bemerkte nicht einmal genau, wenn der Vater etwas von seiner Kleidung ablegte, denn zum Ersatz trug er wieder irgendein abgelegtes Kleidungsstüd, so daß keinerlei lebergang zu bemerken war. Selbstredend, später, als ich emporwuchs und reifer wurde, löfte sich dieses Rätsel, über das nachzusinnen. mir früher niemals eingefallen war. Mein Vater, der überhaupt in der Kleidung sparsam war, trug noch von der alten Reserve, aus besseren Zeiten, da er sich noch neue Dinge gönnen konnte, ab. Benn aber mit der Zeit etwas schadhaft wurde, wenn der Kragen durchgerieben war, daß es keine Faser mehr daran gab, wenn die Beinfleider stellenweise fadenscheinig zu werden begannen, dann jetzte fich die Mutter zum rechten Fenster des ersten Zimmerchens an den Nähtisch, bewaffnete ihre Augen mit Brillengläsern und begann meisterhaft das Handwerk auszuüben. Aus dem kleinen Bündel, das sie im untersten Schubfach des Wäscheschranks verwahrt hatte, entnahm sie verschiedene Stoffstückchen, Bierede, Etreifen, dreieckige Ausschnitte, und indem sie das tranfe Kleidungsstück des Vaters auf den Schoß legte, maß und rechnete sie aus, wohin es gehörte. Dann nähte sie es vorsichtig darauf, legte etwas unter, flicte, ebnete und glättete es mit dem heißen Bügeleisen, und am nächsten Tage zog der Vater bereits wieder die reparierten Sachen an und lobte sich es:„ But hast du's repariert, Frau, niemand wird das Geringste erkennen, daß hier einmal ein Loch war."
Ich denke, daß sich der Vater auf diese Weise selbst etwas einredete, mas nicht der Wahrheit entsprach, oder daß er menigstens sehr furzsichtige Leute vor Augen hatte. Ich war durchaus fein Fachmann im Schneiderhandwerk, aber ich sah es stets gut, wo der Bater einen Fleck trug. Ich bekam stets zu hören, wie die Eltern zueinander sagten, daß man auf diese Weise viel Geld erspare. Ich weiß nicht, wie sie das meinten, aber nie besaßen wir ein so erspartes Geld. Ich glaube, daß mir auch diese Sache nicht verständlich war.
Der Bollständigkeit halber muß ich noch bemerken, daß die Klei. dung, die der Bater überhaupt nicht mehr tragen fonnte, von unserer sorgfältigen und fleißigen Mutter für uns fleine Söhnlein übernäht wurde. Die ausgesuchteren Sachen betam mein älterer Bruder, der studierte. ( Fortjeßung folgt.)