Nr. 390 ♦ 43. Jahrgang
1. Seilage ües vorwärts
Ireltag, 20. August 1920
Das verbrechen auf öen Schienen von Lehrte.
Hannooer, Ig. August.(Eigener Drahlberichl.) Entsetzliche Szenen haben sich bei der Katastrophe abgespielt, die verbrecherische Hände dem D-Zug Berlin — Köln bereiteten. Augenzeugen schildern die Stunde des Grauens und Todes solgendermahen: Als der Zug Oebisfelde kurz nach 2 Uhr nachts passiert hatte und der Schnellzug mit über 80 Kilometern Geschwindigkeit dahinstürmte, zerriß plötzlich ein furchtbares Krachen die Stille der Flacht. Ein Ruck ging durch den Zug. das Licht er- losch. Unser wagen geriet ins Schwanken und legte sich plötzlich scharf nach rechts, ohne aber völlig umzustürzen. 3n der nächsten Minute ertönten Entsetzensschreie von allen Seiten. Die Verwirrung war grenzenlos, da niemand in der Dunkelheil sich zurechtfand. Alles kletterte in rasender Eile durch Fenster und Türen aus dem Waggon, der. wie man nun sah, außerhalb des Gleises aus der Böschung hing und jeden Augenblick umzufallen drohte. Die unverletzt gebliebenen Passagiere stürzten nach vorn. Bei notdürftiger Beleuchtung erkannte man, daß die Lokomotive und die beiden hinter ihr lausenden Waggons neben dem Bahndamm lagen. Der dritte und vierte wagen bildeten zusammen ein fürchterliches Gewirr von Trümmern. Der D-Zug führte nur primitives Bergungsmaterial mit sich: es war unmöglich, aus den beiden ineinandergeschobenen Waggon» die darin liegenden stöhnenden und sterbenden Opser zu befreien. Flach einiger Zeil erst kam ein hilsszug aus Oebisfelde . Dsr Lokomotivführer des Unglückszuges schildert, wie der Schnellzug mil einer Geschwindigkeit von etwa 60 bis 85 Kilometern fuhr, als plötzlich ein furchtbares Klirren und Krachen ertönte. Der Führer der Maschine riß den Regulator zurück und össnete gleichzeitig die Luftdruckbremse. Die Maschine fuhr noch eine oder zwei Sekunden geradeaus und legte sich dann nach der rechten Seile über. Führer und Heizer klammerten sich an die Fensler und kamen mil geriugsügigen Verletzungen davon. v S, der Unglückszug. Der D 8, der fahrplanmäßig Berlin um 10.34 Uhr vom Schlesischen Bahnhos aus verlaßt, trifft nachts u m 2.4ö Uhr in Hannover ein. Der Berliner D-Zug hatte Isen büttel bereits postiert und näherte sich Lehrte , war also etwa 40 Kilometer von Hannover entfernt. Plötz- lich bemerkten die Fahrbeamten und Reisenden ein Knirschen, dem wenige Sekunden darauf ein Krachen folgte. Der Zug war entgleist. rollte noch eine geringe Strecke neben den Schienen, wobei durch die plötzliche Berlangsamung des Tempos mehrere D-Zugwagen sich ineinanderschoben. Dann stürzte die Lokomotive und die vordersten Wagen vom Bahnkörper die Böschung herab und blieben liegen. Es folgte eine furchtbare Panik. Die meisten Reisenden hatten im Augenblick des Unfalles geschlafen und suchten nun im ersten
Schrecken, sich zu befreien, ohne daß es ihnen zunächst gelang, die demolierten Wagen zu verlassen. Die unverletzt gebliebenen Pasta- giere, sowie das Zugpersonal leisteten dabei die erste Hilfe. Glück- licherweise war auch der Unfall bald bemerkt worden und von der Block st ation 169 aus wurde sofort die Strecke g e s p e r r t, da in kurzen Abständen zwei Güterzüge nach Hannooer folgen mußten, die eventuell auf die letzten Wagen des Berliner D-Zuges sonst ausgefahren wären. Die Station Isenbüttel benach- richtigte Hannover und Lehrte von dem schrecklichen Unfall und in kurzer Zeil wurden von Hannover . Lehrte und Zsenbüttel drei hilf»- zöge abgesandt, nachdem die ganze Strecke für den Personen- und Güterverkehr gesperrt worden war. Bon den in der Umgegend gelegenen Städten und Ortschaften eilten Aerzte und Pflegepersonal in Automobilen an die Unfallstelle, um sich an den ersten Rettung?- arbeiten zu beteiligen. Die Rettungsaktion gestaltete sich recht schwierig, da man Zunächst im Dunkeln arbeiten muhte, bis die hilsszüge, die Fackeln mit sich führten, zur Stelle waren. Die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften eilte mit Petroleum- lampen, Talglichtern usw. an die Unfallstelle, und mit Aexte» und Brechstangen öffnete man die zum Teil verklemmten Wagentüren, um die oerletzten Reisenden zu bergen. Die Toten wurden auf Tragbahren nach Leiferde gebracht, �während die Verwundeten in Automobilen in die nächstgelegenen Städte gebracht wurden, wo sie in Krankenhäusern Unterkunft fanden. Ein anderer Augenzeuge berichtet: .Unser Waggon 3. Klasse, der im Hinteren Teil des Zuges lief, war nur ziemlich schwach besetzt, in unserem Abteil befanden sich nur vier Personen. Einige Zeit, nachdem wir in voller Fahrt den Bahnhof Oebisfelde passiert hatten und der Zug in einer Ge- schwindigkeit von schätzungsweise 80 Kilometern dohinsauste, hörten wir plötzlich kurz nach 2 Uhr«in lautes krochen. Ein Ruck ging durch den Zug, da» Licht erlosch, unser wagen geriet ins Schwanken und legte sich plötzlich scharf nach rechts auf die Seile, ohne aber völlig umzustürzen. Don allen Seiten ertönten Entsetzensschreie, und es herrscht« zunächst allgemein« Verwirrung, die durch die tiefe Dunkelheit noch erhöht wurde. So gut es in der Eile ging, klet- terten wir durch Fenster und Türen aus unserem Waggon, der, wie wir draußen feststellten, außerhalb des Gleises an einen Tele- graphcnmast angelehnt stand, der unter der schweren Last jeden Augenblick umzufallen droht«. Dann eilten wir unverletzt geblie- denen Passagiere nach vorn, von wo laute Hilferufe und Schmer- zensschreie ertönten. Bei notdürftiger Beleuchtung erkannten wir,
daß die Lokomotive und die beiden dahinterlaufenden Waggons aar der Seite neben dem Bahndamm lagen und daß der dritte und vierte Wagen zu einem fürchterlichen Gewirr von Trümmern mein- andergeschoben waren. So gut es ging, beteiligten' wir uns an den bereits eingeleiteten Rettungsarbeiten, doch mußten viele der un- versehet gebliebenen Fahrgäste untätig herum st ehe n, weil nicht so viele Werkzeuge zur Stelle waren, um sie damit auszu- rüsten. Zudem war es mit dem Bergungsmaterial, das der D-Zug mit sich führte, fast unmöglich, aus den beiden ineinandergeschobenen Waggons die darin liegenden Opfer zu befreien. Erst als nach einiger Zeit der erste Hilfszug aus Oebisfelde eingetroffen war, konnte der schwierigste Teil der Rettungsaktion in Angriff genom- men werden. Unter den nach und nach befreiten Reisenden befand sich auch eine Frau mit einem Kinde, die durch ein in das Wagendach geschlagenes Loch herausgeholt wurde. Während die Mutter schwer verletzt war, war das Kind wie durch ein Wun» der unversehrt geblieben, hervorragenden Anteil an den Rettungsarbeiten hatte ein katholischer Geistlicher, der sich unter den unverletzten Passagieren befand und der in aufopfernder Weise un- ermüdlich tätig war. Zu allem Unglück setzte bald nach der Kata- strpphe ein heftiger Regen ein, der Helfer und Opfer völlig durchnäßte. Die unversehrten und ganz leicht verletzten Reisenden wurden nach einiger Zeit mit einem Sonderzug über Braunschweig nach Hannooer gebracht und setzten von dort ihre Reise in Richtung Köln mit einem aus Mitteldeutschland kommenden D-Zug fort, der auf Anweisung der Reichsbahndirektion auf die Fahrgäste des ver- unglückten Zuges gewartet hatte. Auf dem Hauptbahnhof Hannover hatte sich die Sanitätskolonne vom Roten Kreuz mit starken Kräften «ingefunden, um den Leichtverletzten, die an der Unfallstelle nur Notverbände erhalten hatten, weitere Hilfe zuteil werden zu lasten. Die Bergungsarbeiten bei Leiferde wurden im Beisein des Vizepräsidenten der Reichsbahndirektion Hannover fort- gesetzt, der sich in den frühen Morgenstunden an die Unglücksstelle begeben hatte." 12 Stunden Rettungsarbeiten. Die Rettlmgsarbeiten, sowie die Bergung der Toten zog sich bis gegen 2 Uhr nachmittags hin.' Erst zu dieser Zeil hatte man die Gewißheit, daß unter den Trümmern keine Menschen mehr lagen. Nach den Berichten der Augenzeugen dürsten in den beiden aufeinandergeschobenen Wagen noch einige Passagiere die Kolastrophe um einige Stunden überlebt haben, da man unter den Trümmern furchtbares A« ch ze n und Stöhnen
i-i Die Figurantin. Roman eines Dienstmädchens von Leon Frapie . Autorisiert« Ueberfetzung aus dem Französischen von Kunde-Grazia. Eines Abends, zur Zeit, wo die Dienstmädchen die sechste Etage ersteigen, ihre noch vom Spülwafser feuchten Hände trocknend, kam Frau Coqueho in das Haus Sulettes und ver- kündete es gerade heraus, daß Fumeron und sein Sohn„aus ihren Himmel gestürzt seien", das.sollte heißen: sie hatten einen erschütternden Schlag erhalten. „Meine Puttchen, ich werde euch das auf dem Gange er- zählen, um niemand neidisch zu machen." Welche Wonne! Welches Entzücken! Man umdrängte Frau Coqueho. stieß sich, um die Worte besser einzusaugen. Die schlecht Plazierten liefen, ihren Stuhl zu holen, und daraufstehend, beugten sie sich mit offenem Munde über die Schultern der Kameradinnen. Im Gedränge versperrte der üppige Busen Rosaliens die Aussicht, ein Protest erhob sich: „Das wäre noch schöner Rosalie! Nicht so vor meinem Gesicht: ich hatte gerade damit zu tun... ich habe das eben beim Diner serviert." „Was denn?" „Fettes Fleisch!" „Unverschämte Person!" Unter anderen Umständen hätte es Streit gesetzt, und es hätten sich vielleicht zwei Lager gebildet— auf einer Seile die Mageren, auf der anderen die Rundlichen—, dann allgemeine Prügelei. Aber diesmal genügte ein einfaches „Ruhig" der Frau Eoqueho, um den Frieden wiederherzu- stellen. Es entstand ein erregtes Schweigen, so daß man den kurzen Atem zweier asthmatischer Köchinnen hörte. Und nun oernahm man folgendes: Gestern, gegen drei Uhr nachmittags, hatte Herr Fume- ron-Bater, vom Feuer des Traubenbranntweins hingerissen, das Haus unter Symptomen edler und heftiger Bewegung verlassen: er ging, den Deserteur feierlich aufzufordern, sich der Fahne zu unterwerfen und Frankreich seine Schuld zu entrichten. Fumeron-Sohn war nicht anwesend, aber Virginie in der Wohnung: sie erwartete müßig die Stunde zum Aus- schwärmen. In Ermanglung von Besserem überschüttete sie der Alle mit der Moral In der Theorie, die er gang glühend hingebracht hatte.
Daran knüpfte er persönliche Ermahnungen: „Raten Sie ihm, die Sie eine ernste, gefühlvolle Frau sind. Zeigen Sie ihm die heilige Pflicht gegen das Bater- land... Sie werden ihm ja ohnehin nach dort Geld schicken... schließlich muß man doch«ine Ehre haben." Seine Beredsamkeit war wirklich ergreifend, hinreißend. So kam es, daß Dirgini« bis in die Tiefe ihres moralischen Gewissens in einem so heftigen Maße aufgewühlt wurde, daß sie und der Alte auf der umgeschlagenen Bettdecke einander in die Arme sanken. Da erschien Fumeron, der jüngere, auf der Schwelle der schlecht geschlossenen Tür. Tableou! Peinlicher Platzwechsel der Personen unter einem ernsten, dramatischen Schweigen. Zum Glück war Fumeron-Sohn selbst ein wenig ange- säuselt und um so milder gestimmt, was aber nicht hinderte, daß er(mit Hilfe des mütterlichen Atavismus) seine Rolle theatralisch bewegt einleitete. Zunächst kreuzte er stumm in gespenstischer und räche- dürstiger Pose seine Arme, dann erklang langsam und dekla- motorisch sein Organ: „Guten Mutes, wackere Leute! Wohlan, das kann man doch Verrat nennen? Heimtückisch sich die Abwesenheit eines Mannes zunutze machen, der durch die Pflichten der Freund- fchaft und des ehrbaren Manillespiels aufgehalten wurde!" Er forderte exemplarische Züchtigung der Schuldigen und zog sogar seinen Revolver — ohne mörderische Absicht— nur, um der Genauigkeit der Inszenierung willen. Indessen legten die beiden überraschten Partner geschwind ihre Gedanken zurecht. Virginie hatte nach der Ansprache ihres Mannes die ge- niale Intuition, keine Mißstimmung aufkommen zu lassen, die Sache auf theatralischem Niveau zu erhalten. „Na, was denn? Was ist denn los?" schrie sie mit gen Himmel erhobenen Armen vom Bett her.„Es ist wirklich ein Unglück, Gefühl zu haben! Da kommt dein Vater her, um dich zu sehen, du bist nicht da... ich fühle mich zu Rücksichten ihm gegenüber veranlaßt! Darf man die Leute endlos warten lassen, ohne ihnen eine Liebenswürdigkeit zu er- weisen?" Dann machte sie Fumeron klar, daß sie aus Liebe zu ihm seinen Vater so fest umschlungen habe, und auch aus Fa- miliengehorsam: sie mußte einen doppalten Ausbruch väter- lichen Gefühls achten. Der Alte hatte eine derartige Bered- samkeit besessen, daß sie sozusagen wieder zum kleinen Mäd-
chen geworden war: schlägt man einem Vater die Umar- mung ab? „Schließlich wurde ich mit einem Male durch diese Reden über die bürgerlichen Pflichten, die wie ein Katechismus klangen, so gerührt, daß ich mir die Tränen mit meinem Hemde abtrocknen mußte... Ist das unser Fehler,, wenn die Rührung sich überträgt?" Der Bater Fumeron, der immer moralische Anwand- langen hatte, sekundierte ihr in heroisch-dramatischem Sinn. „Also-du hältst das für Egoismus? Was ich' getan habe, entwickelt sich im Augenblick aus der lebhaften Hochachtung für eine Frau, die sich im großen und ganzen mit meinem Sohn gut verträgt! Ich wollte ihr zeigen, daß es keine Kc- ringschätzung meinerseits wäre, wenn ich sagte:„Schicken Sie ihn zum Regiment zurück," daß es nicht heißen sollte, du wärst mit Virginie schlecht angekommen... Ich wollte sie im Gegenteil dadurch fühlen lassen, ja,'deine Frau fühlen lassen, daß man kein Fremder für sie wäre, wenn du dorthin fährst: daß man sie darum nicht verleugnen würde... vor- ausgesetzt, wenn sie darauf zu halten wüßte, daß du keinen Geldmangel hast... und du vergißt deine Mutter... eine Tochter tröstet für die Abwesenheit eines Sohnes in den unter sich einigen Familien..." Die von Virginie pathetisch ausgesprochene und von Fumeron-Vatcr pathetisch wiederholte Schlußwendung war gewesen:„Bei dem allen hat man nur an dich gedacht." Die Wahrheit war augenscheinlich: die Wiederversöhnüng vollzog sich unter zugleich feierlichem und herzlichem Hände- druck, unter edelmütigen Worten der Einladung: denn es blieb nur noch übrig, ein Glas gemeinsam trinken zu gehen- Aber mit einem unerklärlichen Eigensinn schlug es Vir- ainie, ohne noch gekränkt zu fein, entschieden ab, die beiden Männer zum Versöhnungstrank hinunterzubegleiten. Sie fügten sich darein, allein zu trinken. Auch gut. sie empfanden eine eigentümliche Genugtuung, die sich ohne Weib besser entfalten würde. „Eine versiegelte Flasche!" bestellte der Vater. Sie setzten sich erhobenen Hauptes, die Daumen in den Aermelausschnitten, einander gegenüber. Ihr männliches Selbstbewußtsein schien ordentlich durch- zusickern. Jeder war mit sich zufrieden, und außerdem hatte Bir- ginie durch ihre Reden, Gefühle und Taten— auf jedwede Weise— den einen wie den anderen mit dem wahren, dem höchsten Stolz, den immer ein Weib zum Gegenstand hat, er- füllt.(Fortsetzung folgt.)