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Nr. 426 43.Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Freitag, 10. September 1926

Die Musik der Arbeitersänger

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DAS

Als sich vor 35 Jahren die Arbeitervereine, die den Gesang pflegten, zu einer Liedergemeinschaft" zusammenschlossen, erkannten fie, daß sie sich ihre eigenen Lieder schaffen mußten. Frei­heitschöre, Tendenzlieder", wie man es nannte, sollten zugleich den hohen Idealen der Befreiung der Arbeiterklasse wie der Kunst dienen. Aber so schön der Gedanke war, so hart stießen sich im Raume die Sachen: die Prüfungskommission mußte manchmal melden, daß von den in einem Jahre dem Verlage angebotenen Liedern fein einziges brauchbar gewesen sei! Und das gerade war

ja ein Ziel: im Selbstverlag zu den eigenen Kosten allen singenden

Parteigenossen ihr Notenmaterial zu schaffen!

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auf

Musik als Maffenwirkungsmittel. Zahlreiche eingereichte Texte, die an Musiker zur Bertonung gegeben werden sollten, mußten als völlig unbrauchbar von der Rommission abgewiesen werden. Auch Versuche, durch Ausschrei­bung von Gedichten und Kompositionen voran zu kommen, scheiter ten kläglich. Kein Wunder! Fanden doch diese Bestrebungen auf der einen Seite bei den Künstlern feinerlei Beachtung, und der anderen Seite! in der Arbeiterbewegung selbst keine Unter­stützung. Vielmehr sahen zahlreiche Parteigenossen in der Arbeiter fängerbewegung zuerst nur eine Zersplitterung in der politischen Konzentration. Sie erkannten allesamt nicht die lebendigen Trieb­kräfte, die in der musikalischen Betätigung ruhen, sie hatten aus der Geschichte geistiger Strömungen damals noch nicht genug gelernt, um zu begreifen, daß der Mensch und die Masse nicht ein nur nach Berstandesvorschriften kombiniertes mechanisches Instrument find, sondern daß die Werte des Gefühlslebens den ganzen Menschen und die Menschheit selbst neu gestalten. Das hatte einst die Kirche besser erkannt, als sie die Musik, das große Massen­wirkungsmittel, in den Gottesdienst einführte! Auf der anderen Seite sah man auch etwas spöttisch auf die scheinbare Nachahmung ,, bürgerlicher Vereinsmethoden", auf die Liedertafelei". Und zu­gleich war man ihr unbemerkt doch selber verfallen! Denn man fang im allgemeinen ganz unbedeutende Mufit! Und wenn einmal ausnahmsweise ein wirklicher Berufsmusiker schaffend teilnehmen wollte, lehnte man ihn ab. Mehring meldet, wie man eine Hymne" des Zukunftsmusikers" Hans v. Bülow, die dieser auf Lassalles Anregung für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" zu einer Dichtung von Herwegh   geschrieben hatte, als schwer fangbar" ab­lehnte!( Der Chor findet sich in der soeben erschienenen großen

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Die Figurantin.

Roman eines Dienstmädchens von Léon Frapié  . Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Kunde- Grazia. Sulette schüttelte den Kopf, sie wartete, ohne zu wissen, worauf. Frau Coqueho zog sie am Arme fort:

,, Je älter ich werde, um so mehr merke ich, daß ich anderen von Nuzen bin. Die jungen Dienstmädchen haben absolut erfahrenen Rat nötig, ich kann es nicht oft genug wieder holen. Sie wollen fündigen, Sie müssen fündigen, hören Sie menigstens auf die Stimme der Bernunft!"

Die würdige Matrone ließ den schwarzen Federbusch ihres Hutes über die Straße hin und her schwanken. In der Nähe der Place Saint- Michel  , im verdächtigen Winkel der Rue Git- le- Cour, ging fie auf ein Hotel garni zu, das ab= fichtlich schwach erleuchtet war. Wie zufällig fannte man sie an diesem Ort sehr gut und willigte ein, Sulette ohne irgend ein Entgelt für die Nacht aufzunehmen.

Sammlung des DAS., die im Vorwärts" so lobend besprochen worden ist; er ist einer der leichtesten Chöre!) So kam es, daß bis zum Jahre 1908 insgesamt 57 Kompofitionen im Berlage erschienen find, d. h. im Durchschnitt etwa 10 in einem Jahr!

Der Aufstieg.

Und heute? Man fann mit großer Freude feststellen, daß alle führenden Köpfe in der Bewegung der Arbeiterbildung begriffen haben, welche kulturfördernde Bedeutung der Gesang im Volts leben hat. Nicht nur der Männerchor, dessen Tätigkeit vor allem im öffentlichen Leben, in den Mitwirkungen bei den Festen und Feiern von Partei. Gewerkschaft usw. in die Augen springt, auch der klaffe zu gemeinsamem Studium der großen Werke der Musik aller dem Zuwachs an Abonnenten: gegen 19 000 im Januar vor zwei gemischte Chor, der als Volkschor Männer und Frauen der Arbeiter­

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wo dann alle Richtungen zu Worte kommen, Mitteilungen über organisatorische und ähnliche Fragen im Bundesleben, eine sehr ausgiebige( und höchst anregende) Rundschau über alle von Bundes­vereinen gegebenen Konzerte nebst Kritik, oft auch Gegenkritiken und Discussionen unflarer Fragen, ein reichhaltiges, abwechslungs­reiches Feuilleton, umfassende Berichte über alle wichtigen Kultur­bestrebungen, über die Internationale der Arbeiterfänger und zahl­lose verwandte Probleme unserer Volksbildungsbewegung. Das immer mehr zunehmende Interesse der Sänger an diesem geisti­gen Mittelpunkt der Arbeitermusikbestrebungen zeigt sich an Jahren hat die Zeitung heute 63 500 Abonnenten! Als Ergänzung zur Zeitung dienen Broschüren des Verlages, in denen Themen behandelt werden, die den Rahmen der Zeitung überschreiten würden ( jo: Stimmbildung im Chorgesang, Kunst und Weltanschauung usw.). Gibt es noch flarere Beweise für diese ungeheuren Fortschritte, die der Arbeiterfänger in wenigen Jahrzehnten gemacht hat? A. G.

Eröffnung der Reichsgastwirtsmesse.

Zeiten und Völker umschließt( und es so ermöglicht, daß unsere Volks­chöre dem Volke Beethovens Hymne an die Freude" und alle anderen Meisterwerfe zu Gehör bringen) sie alle sind höchst be­deutsam geworden im geistigen Leben des werktätigen deutschen Boltes. Heute umfaßt der Verlag des DAS., der aus der Lieder­gemeinschaft hervorgegangen ist, zahllose hervorragende Werke für alle Arten des Chorgefanges. Schäzungsweise mögen allein im verflossenen Jahre( einschließlich der Chorsammlung) 500 Chorwerke erschienen sein, darunter ein so umfassendes, wie das Frühlings­mysterium", das man wohl als die erste proletarische Kantate an­sprechen kann. Dies Werf, für Sprechchöre, Kinderchöre, Männer­Neben der Funkausstellung am Kaiserdanım ist gestern unter höre, Frauenchöre, gemischte Chöre( sowie Orchester) von dem hochwirtsmesse( in der alten Autohalle) eröffnet worden. dem Schutz des mächtigen Funkturms auch die Reichsgast­bedeutenden Komponisten Heinz Tiessen   zu der Dichtung von Der Kreis der ausgestellten Dinge hält sich wie bisher im Rahmen Bruno Schön la nit geschaffen, ist ein bewußter Versuch, alle der gastwirtschaftlichen Gebrauchsgegenstände. Es gibt ausgezeich= im Kulturleben der Arbeiterschaft tätigen Kräfte zu einer ganz nete füchentechnische Erfindungen, die sich fast ausschließlich der mo­neuen Einheit zusammenzufassen.( Im kommenden Frühling will torischen Kraft bedienen. Teller werden auf eine ganz neue Art das Arbeiterkulturfartell das Werk in Berlin   mehrmals aufführen.) gespült, Messer und Gabeln nach neuen Systemen gereinigt; die Eis­Neue Arbeiten sind im Gange: bereits in Vorbereitung befinden sich und Kühlmaschinen für den Kleinbedarf jurren unablässig, und in zwei neue, groß angelegte Sammlungen, eine für Männerchor, eine dieses maschinelle Tönen hinein mischen sich die Klänge mufit­erzeugender Instrumente, der selbsttätig spielenden Klaviere, der für Kinderchor; denn der Arbeiterfänger hat erkannt, daß die neue großen Orchestrions mit Orgelbegleitung, die irgendwo in Reich noch Generation, die andere Wege gehen muß als die alte, auch neue immer ihr Publikum zu finden scheinen. Die Spirituosenbranche jst Ziele hat, und daß es noftut, sich dann nicht konservativ abseits wieder reichlicher vertreten, gar nicht gerechnet die vielen hundert zu halten. Spezialzweige der Genußmittelbranche, die alles liefern, was von der Großrestauration bis zur bescheidensten Gaststätte gebraucht wird. Jm ganzen handelt es sich um ein Feld von 400 Firmen aller Branchen. Die Veranstalter wollen den Besuchern, zu denen wäh­rend der ganzen Dauer der Veranstaltung auch das große Publikum zu rechnen ist, auch Gelegenheit zur Anregung und Belehrung geben. So hält u. a. der Küchenmeister Paul Döhle täglich nachmittags Uhr Demonstrationsvorträge über rationelle Küchenführung, über die Einrichtung von Fischkochstuben und über die Verhütung von Speisevergiftungen. Weiterhin soll ein Speisekarten­

Die Zeitung des Bundes spiegelt dieses gewaltige Tempe des Aufstiegs wieder. Während in den ersten sechs Jahren der Liedergemeinschaft ganze acht Flugblätter erscheinen fonnten, umfaßt die nun allmonatlich in einer Stärte von etwa 16( großen) Seiten erscheinende Zeitung das ganze Gebiet der Musik, sie bringt zum Teil mit Illustrationen versehene, bedeutende musikwissenschaftliche Ab­handlungen, prinzipielle Erörterungen( etwa über geistliche Wusit),

schwaches Lächeln miteinander aus, sie erkannten sich sofort als Kolleginnen des dienenden Standes. Sulette trat an den Tisch und sagte, um sich zu entschul­bigen:

Ich störe Sie recht."

Das hübsche Mädchen entgegnete lebhaft: Es ist mir lieber, an einem solchen Ort nicht allein zu sein... aber setzen Sie sich doch, Sie müssen sich bei Ihrem Zustand sehr matt fühlen."

Sie stand auf, trat Sulette ihren Stuhl ab und ging, um den Türriegel vorzuschieben. Ihre Stimme wurde geheim­

nisvoll:

,, Soviel ist sicher, ich bin zufrieden, daß Sie diese Nacht hier sind; wegen des Handels, den man in diesen verdächtigen Hotels mit den Dienstmädchen treibt."

,, Was denn für ein Handel?" fragte Sulette. Das hübsche Mädchen zeigte auf die Gasampel: ,, Wenn das nichts zu bedeuten hätte! Sie merken wohl, daß eine derartige Beleuchtung nicht unseretwegen da ist, nicht für die Person, die den Raum bewohnt. In diesen ver­Nun langte Frau Coqueho ein Zweifrankenstück vom rufenen Hotels ist die Kammer auf Humbug eingerichtet; Boden ihrer Tasche unter den Karten und Billen hervor und da draußen ist ein Guckloch angebracht, miffen Sie, wie bei ließ die Verzweifelte schwören, indem sie ihr die kleine Unter- Jahrmärkten, wo man durch so eine Art Operngucker Ver­ftügung einhändigte, daß sie morgen früh nach Millerat, in brechen und Unglücksfälle erblickt. Man sieht uns zu, wenn ihr Dorf, heimfehren würde. Da! eine letzte Seltsamkeit! wir uns ausziehen, waschen, schlafen gehen. Wenn das bloß Sie kannte den Geburtsort und wußte den Weg, um zu Fuß der Neugier verrückter alter Kerle diente, aber das benutzen dahin zu gelangen! Das war nicht so weit: Baris verlassen auch die Händler mit Menschenfleisch." Sie durch die Porte de Courbevoie, der Weg geht über Nan­terre, Rueil  , Saint- Germain, dann, nachdem Sie die Seine erreicht haben, führt er direkt nach Millerat."

21.

Nach dem Weggang der Frau Coqueho wurde Sulette nach der ersten Etage des Hotels in eine ganz fimple Rammer mit einem Bett, die in auffallender Weise von einer Gasampel erleuchtet war, geführt. Eine hübsche, ziemlich gut gefleidete Blondine, die erwartungsvoll und nachdenklich dreinschaute, faß vor einem Tischchen; ohne Zweifel hatte man ihr die Ankunft Sulettes mitgeteilt.

Sie müssen sich zu zweit einrichten, sagte die Wirtin, weilanden Kammern heute abend befekt find."

Ah!" stieß Sulette entsegt hervor.

Das hübsche Mädchen setzte sich und flüsterte ihr zu: ,, Ein junges Dienstmädchen, wenn es fein häßliches Ge­ficht hat, ist immer eine Ware, deren man sich gerne bemäch­tigt. Dann spionieren sie durch das Opernglas die mehr oder weniger üppig entwickelten Formen aus und erwägen vor allem, ob es ein Mittel gibt oder nicht, ob es leicht oder schwierig wäre, ihr eine Falle zu stellen." Sulette riß die Augen auf, die Gefährtin drängte sich noch dichter heran:

,, Denken Sie doch! Wenn ein Weib sich allein in einer Rammer auszieht und vor jedem Blick sicher zu sein glaubt! An Nichtigkeiten fann man erraten, ob sie noch unberührt ist oder nicht, ob sie fofett, ihren Körper liebt, Begierden oder Lafter hat... Um so leichter, da man in diesen Hotelzim mern zuweilen einen Spiegelschrank und manchmal auch auf einem Möbel ein scheinbar vergessenes Album, mit Aft Schloß die Tür und entfernte fich. studien für Maler, findet Sie haben gedient. wissen Die beiden Schlafgefährtinnen tauschten Kopfschütteln und sicher, daß man, ohne die Gnädige in ihrem Schlafzimmer

Sie fügte im Selbstgespräch, im Ton der Ueberzeugung und mit stark in Anspruch genommener Geschäftsmiene hinzu: Wir haben schwüle Witterung, wer weiß, o. unfere Zimmer reichen."

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zu sehen, vom Aufräumen allein darauf schließen kann, ob sie einen Geliebten hat oder nach einem begehrt, ob die Ehe sie anwidert oder ihr Vergnügen bereitet... mit um so größerem Rechte kann man das, wenn man jemand vor einem Spiegel sich langstrecken sieht... und, weiß Gott  ! die Unberührten, Berheirateten, Keuschen, Dirnen, alle haben eine verschiedene Art, in der Verschwiegenheit ihrer Kammer Weib zu sein." Sulette lächelte gezwungen:

,, Es ist wirklich wahr, die Art, etwas zu tun oder zu un­terlaffen, zeigt, bis zu welchem Grade man Weib ist."

Die Gefährtin fuhr lauter fort: Das sage ich Ihnen! Diesen Werbern für das Laster gelingt es, nachdem sie den Entkleidungen zugesehen, mit sicherem Erfolg, gebieterisch an die armen Mädchen heranzukommen, die nicht schlecht ge= worden wären, wenn man sie in Ruhe gelassen hätte, denn nur die Widerstandskraft fehlte... deren Fleisch stärker war als fie."

Ein leidender Ausdruck kam in der Haltung Sulettes, deren Aufstützen auf den Tisch fast einem Liegen glich, zum Vorschein.

ich

,, Legen Sie sich doch aufs Bett!" riet die Sprecherin. Und während jene den Platz wechselte, fügte sie hinzu: ,, Sehen Sie, ich tändle nicht bei der Toilette, trotzdem bin das Opfer eines Hotels geworden."

Dicht bei ihrem Kopfkissen niederfigend, stand sie der Wiß­begierde Sulettes Rede:

,, Das hat sich ein Jahr nach meiner Ankunft in Paris   er­eignet. Ich war von der Küste, gegen Schluß der Ferien, von wohlhabenden Leuten in den Vierzigern, einem Advo= taten und seiner Frau, tinderlosen Leuten, mitgebracht worden. Ich fühlte mich riesig glücklich, befam viel und gut zu essen und hatte wenig Arbeit. Dann, ich war noch nicht 18 Jahre, entwickelte ich mich, wie Sie sehen: kräftiger Körper, starke Brust und Hüften; dabei behielt ich meine frischen, nor­mannischen Farben.

Ich konnte nicht einen Schritt auf die Straße tun, ohne von Galanterien, sogar seitens der Schuhleute behelligt zu werden. Ich mußte es dulden. Aber in der Julihize fing der Herr selbst an, aufdringlich zu werden. Da habe ich ge­fündigt. Ein unanständiges Leben lag nicht in meiner Ab­ficht, hatte ich doch einen Bräutigam, und es war alles genau verabredet; ich sollte, solange er beim Regiment stand, in Paris   bleiben, um die Hauswirtschaft zu lernen. Waren wir dann alle beide frei, wollten wir heiraten und in Granville  eine Restauration übernehmen. ( Fortsetzung folgt.)