Abendausgabe
Nr. 443 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 219
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Dolksblatt
10 Pfennig
Montag
20. September 1926
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Riesenaufmarsch auf der Treptower Wiese.
Winde in ständiger Umdrehung gehaltenen Kugel mahnte zum Eintritt in die Volksbühne.
Vereinzeltseid ihr nichts, vereinigt alles!| versammelten Aufwertungshoffenden, als zum Schutze vor der Das Wort stand über dem Aufmarsch der gewerkschaftlich brennenden Mittagssonne waren die Demonstranten an das Schloß organisierten Arbeiter Berlins auf der Treptower herangerückt. Etwa 1000 Schneider und Schneiderinnen, Die Transportarbeiter und die Eisenbahner. Wiese zur Feier des Jubiläums der Gewerkschaftsinter- voran die Jugendgruppe, dabei auch die Werkstatt der Hoffnung" Der Verkehrsbund und der Einheitsverband der Eisenbahner nationale. Hunderttausende marschierten in Reih und Glied.| mit 70 Mann, folgten die Hutmacher mit ungefähr 500 Mann, Was nüchterne statistische Zahl ist die Zahl der Gewert während die Friseurgehilfen nur etwa 50 Mann hoch ver- hatten ihre Mitglieder und deren Anhänger auf dem Mariannenschaftsmitglieder in Berlin gewann Leben und wurde treten waren. Den Beschluß bildete die Textilindustrie mit ihren plaz gesammelt. Die Spitze dieses unabsehbaren Zuges bildete ein machtvoller Ausdruck der Arbeiter solidarität. verschiedenen Untergruppen, in denen, wie auch bei den Be- der Bedeutung des Tages entsprechend dekoriertes Auto der Der Konsumgenossenschaft, an dem u. a. zu lesen war:„ Schutz In Reih und Glied! Die Betriebe zu Branchen zu fleidungsarbeitern das weibliche Element stark überwog. sammengeschloffen, die Branchen zu Industriegruppen, die Zug bewegte sich durch die Breite Straße, Grün- und Neue der Arbeitskraft durch die Gewerkschaften, Schutz der Kaufkraft durch Industriegruppen zur Macht der Gewerkschaften. Aus den Grünstraße, die Seydel- und Stallschreiberstraße über den Morig- die Konsumgenossenschaft." Trotz der folossalen Ausdehnung des einzelnen werden Hunderttausende und Millionen. play, bis er endlich vom Oranienplatz ab fich freier bewegen fonnte Zuges, es mögen etwa 18 000 Teilnehmer gewesen sein, vollzog und Anschluß an den Schluß des Zuges der Metallarbeiter fand. sich der Abmarsch und der Anmarsch in Treptow in mustergültiger Ordnung. Man sah im Zuge eine Unmenge Eisenbahner, Hochbahner Die Fabritarbeiter. und Straßenbahner in Uniform, die ihre eigenen Musika pellen gestellt hatten. Der Zug, der wohl unter allen einer der größten gewesen sein mag, wurde in allen Straßen mit stürmischen Beifallsrufen begrüßt. Zu Zwischenfällen tam es unterwegs nicht.
Von diesen marschierenden Gewerkschaftsmitgliedern geht eine starke Wirkung aus: seht unsere Macht, seht den prachtvollen Erfolg mühsamer Kleinarbeit! Ohne das rastlose Werben jedes Gewerkschaftsmitgliedes, ohne die Mühe der gewerkschaftlichen Kleinarbeit niemals die prachtvolle Front der Arbeitersolidarität, in der wir marschieren. Mit Stolz und Befriedigung darf jeder der Marschierenden sich sagen: ich habe geholfen, gemeinsame Treue hat unsere Macht geschaffen.
Die internationale gewerkschaftliche Werbewoche ist vor über. Die Werbearbeit der Gewerkschaften geht weiter. Vereinzelt seid ihr nichts, vereinigt alles!
Der Aufmarsch.
Es ist für Berlin eine recht schwierige Aufgabe, die Massen in geordneten Zügen aus allen Himmelsrichtungen zu einem gemeinsamen Sammelpunkte zu führen. An die Teilnehmer werden schon rein in förperlicher Beziehung große Anforde rungen gestellt, zumal wenn Zusammenstellung und Marsch sich in der Sonnenhize vollziehen, die der gestrige Tag be= scherte. Für die Leitung aber ist es noch schwieriger, die einzelnen großen Züge. die sich aus den vielfachen einzelnen einem ganz bestimmten Zeitpunkt allesamt am Ziel versammelt find. Das war trotz aller Borbereitungen gestern leider nicht möglich, zumal der Straßenbahn- und Omnibusverkehr in vollem Umfange aufrecht erhalten wurde und die einzelnen Züge im Stadtinnern, in den engen Straßen, die sie teilweise passieren mußten, nicht recht vorwärts famen. Go fam es, daß die zuletzt Aufmarschierenden ankamen, als die ersten schon wieder im Abmarsch begriffen waren und so fein voll ständiges Bild auf der Treptower Wiese zustande tam.
Der Zug des AfA- Bundes.
In der Gneisenaustraße marschierte der AfA- Bund auf. Bug um Zug treffen von den Sammelpunkten die Sektionen ein. Schnell füllt sich die Promenade von der Zoffener Straße bis zur Großbeerenstraße. In hellen Kleidern und bunten Ritteln marschiert an der Spitze des Zuges die Jugend des 3d A., dann der ,, Vorwärts" Berlag mit seinem alten Banner und nach Betrieben und Branchen geordnet die Sektionen. Mitten im Zuge fahren die Propagandawagen des Konsum und der Volksfürforge, finnig geschmückt mit Symbolen, die die Entwicklung dieser Arbeiterbetriebe darstellen. Der Butab setzt sich an die Spitze des Buges; sein großes dreieckiges Bundeszeichen leuchtet weithin sichtbar. Als die ersten am Rathaus in Neukölln vorbeimarschieren, find die letzten noch auf dem Sammelplatz in der Gneisenaustraße. Ueber eine Stunde braucht der Zug zum Aufmarsch, nach vorsichtigen Schäzungen haben sich allein an diesem Zuge 25 000 bis 30 000 Gewerkschaftsmitglieder betefligt. Durch die Berliner , Wilden bruch und Elsenstraße schlängelt sich der Zug mit seinen vielen Fahnen und Bannern unter Musikvorträgen des Tambourkorps vom Neuköllner Reichsbanner auf den schon dicht gefüllten Platz auf.
Die Männer vom Bau.
Die Mitglieder der baugewerblichen Verbände nahmen am Engelufer Aufstellung. Vor dem Gewerkschaftshaus wogte ein unübersehbares Meer von Menschen, roten Fahnen und Transparenten. Gegen 1 Uhr wurde es hier schon beängstigend voll. Die Spize des Zuges führte ein geschmackvoll hergerichteter Wagen des Verbandes sozialer Baubetriebe. Zahlreiche Transparente mit Aufschriften wie: hinein in die freien Gemertschaften",„ Hoch der Achtstundent a g", Für 100prozentige Organisierung"," Gegen fapitalistische Rationalisierung" zeigten den Spalierbildenden und Fensterdemonstranten, wofür die Gewerf. schaften kämpfen. Eine Anzahl Musikkapellen, die unermüdlich spielten, erleichterten die Mühen des Marsches, so daß auch die vielen alten Rämpen, die es sich nicht hatten nehmen lassen, am Zuge teilzu nehmen, wohlbehalten an das gemeinsame Ziel anlangten. Der Zug zählte bei seiner Ankunft in Treptow schäzungsweise etwa 16000 Männer und Frauen.
Die Bekleidungs- und Textilindustrie sollte im Luftgarten Aufstellung nehmen. Weniger aus Rücksicht auf bas teine Häuflein der hier unter dem Schatten der Granitschale
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Die Arbeiter der chemischen und feramischen Industrie sowie alle im Fabritarbeiterverband Organisierten versammelten sich am Andreas play. Unzählige rote Fahnen und Blafate wurden in dem etwa 3000 mann starten Zuge mitgeführt. Sie wiesen auf die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation hin: „ Stärkt die Gewerkschaften- ohne sie feinen Sozialismus!"" Acht stundentag fein Hammerschlag mehr!" Sie forderten auch die Unterstützung der englischen Bergarbeiter. Einen Stundenlohn den Bergarbeitern". Auf einem Plakat der Endsatz im kommunistischen Manifest:„ Die Arbeiter haben nichts zu verlieren.." Nicht Arbeitsgemeinschaft, sondern Klassenkampf" besagte ein anderes. Auch Embleme mit russischen Inschriften wurden mitgeführt; da wir kein Russisch verstehen, konnten wir sie nicht entziffern. Mit Mufit und Gesang bewegte fich der Zug auf Treptow zu, um sich dann den endlosen Zügen der übrigen Industriegruppen einaureihen. Auf dem Platz sprach der Genosse Hermann Müller .
Das Graphische Gewerbe.
Die Lithographen und Steindrucker, die Buchdrucker, die Buchbinder und die Hilfsarbeiter versammelten sich am Gendarmenmarkt. Vor Abmarsch des nach Tausenden zählenden Zuges erfolgte die Weihe des neuen Banners, das die im Graphischen Kartell zusammengeschlossenen Organisationen der Arbeiterschaft des Gewerbes geftiftet haben. Grohmann vom Verband der graphischen Hilfsarbeiter wies in seiner Ansprache auf das glückliche Zusammentreffen der Bannerweihe mit dem 25jährigen Jubiläum des Internationalen Gewerkschaftsbundes hin. Er übergab das Banner, das die Inschrift " Einigkeit macht start" trägt, der graphischen Arbeiterschaft zu treuen Händen und knüpfte daran die Hoffnung, daß sie unter diesem Banner zu neuen Rämpfen und zu neuen Siegen schreiten möge. Dann setzte sich der Zug unter den Klängen der Musik und unter Borantritt der Jugend nach Treptow in Bewegung. Zahlreiche Fahnen wurden mitgeführt. Mitten im Zuge sah man ein mit Girlanden und Fähnchen geschmücktes Automobil, das in buntfchillernden Farben die Weltkugel trug. Die Inschrift auf der vom
Die Holzarbeiter
hatten ihren Hauptsammelplatz am Köllnischen Part vor ihrem Verbandshaus. Die einzelnen Branchen führten neben anderen Transparenten sehr eindrucksvolle Plakate mit, die die Berufstätigkeit darstellten. Bis zum Abmarsch hatten sich etwa 12 000 Männer und Frauen eingefunden. Der Zug erhielt unterwegs immer neuen Zuwachs, so daß er bei der Ankunft in Treptow mindestens 16 000 Teilnehmer zählte. Ohne jegliche Störungen vollzog sich der Anmarsch nach Treptow.
Die Lebens- und Genußmittelarbeiter..
In der Lothringer Straße zwischen Rosenthaler Platz und Schönhauser Tor hatten viele tausend Gewerkschafter der Lebensund Genußmittelindustrie Aufstellung genommen. Unter Vorantritt rote Fahnen und Transparente, mit der Aufforderung an die noch Indifferenten zum Eintritt in die freien Gewerkschaften mitgeführt einer Musikkapelle setzte sich der fast endlose Zug, in dem zahlreiche wurden, in Bewegung. Unter dem Gesang proletarischer Kampfund Marschlieder durchschritt der Zug die Straßen des Ostens, um hinaus nach Treptow zu gelangen. Immer wieder wurde ein Hoch auf die internationale Gewerkschaftsbewegung ausgebracht, das in auf die internationale Gewerkschaftsbewegung ausgebracht, das in der Sonntäglichen Stille an den Häuserfronten grauer Mietstasernen sein Echo fand. Während schon in den Straßen der Stadt die Bevölkerung reges Interesse an der machtvollen Kundgebung zeigte, überſtieg die Beteiligung in Treptow alle Erwartungen. Hunderttausende umlagerten die große Spielwiese. Karl Polenska vom Staats- und Gemeindearbeiterverband nahm dann das Wort zu einer der Würde des Tages entsprechenden Rede.
Die Gruppe Lederindustrie marschierte punkt 1 Uhr vom Grimmpart ab. Der Zug wurde durch eine Musikkapelle, der ein Pfeifertorps des Reichsbanners folgte,
Es ist hier schon darauf hingewiesen worden, daß Briand von ihm befolgte Politik der deutsch - französischen Berständinicht mehr in gleichem Maße wie im März Herr feiner Ent- gung in Paris durchzusehen, und daraus nötigenfalls eine schlüsse ist, da er nur der Außenminister einer Koalitions- Kabinettsfrage zu machen. Zweifellos würde er, falls es zum Bruch kommt und er den Konflikt vor dem Parlament regierung ist, in dem Männer wie Poincaré und Louis Marin ſizen. Tatsächlich machen sich in einem Teil des französischen austrägt, in der Kammer des 11. Mai 1924 deren Mehrheit Kabinetts Widerstände gegen den großzügigen Plan in außenpolitischen Fragen Herriot und ihm stets gefolgt ist, einer deutsch - französischen Berständigung bemerkbar, auf die den Sieg erringen. als erster das führende Organ der französischen Linken, der Quotidien", in seiner Sonntagsnummer anspielt. Das Blatt deutet an, daß Männer wie Louis Marin und Barthou die Vereinbarungen von Thoiry als für Frankreich gefährlich bekämpfen. Ein neuer Schlag von Cannes " fei in Vorbereitung. Wie erinnerlich hatte Briand schon im Januar 1922 den Versuch unternommen, gemeinsam mit Lloyd George und Nitti eine neue Politik gegenüber Deutschland einzuleiten und er war im Begriff, mit dem als Abgesandten der Reichsregierung in Cannes eingetroffenen Walther Rathenau die Grundlage dieser neuen deutsch - französischen Politik zu besprechen, als er durch Millerand und Poincaré den Dolchstoß erhielt, der ihn zur vorzeitigen Rückkehr nach Paris und zum Rücktritt zwang.
Die Anspielungen des Quotidien", die in der Montagsausgabe des gleichen Blattes wiederholt werden, finden heute ihre Bestätigung in den Angaben eines rechtsstehenden Organs, des, Nouveau Siècle", das ebenfalls von starken Meinungsverschiedenheiten im Kabinett spricht. Andererseits soll, wie wir aus Genf erfahren, Briand vor seiner Abreise geäußert haben, daß er fest entschlossen sei, die
Einstweilen muß man das Ergebnis des am Dienstag stattfindenden Kabinettsrats abwarten, in dem Briand über seine Vereinbarungen mit Stresemann referieren wird. Von dem Ausgang dieser Situng hängt es ab, ob die Hoffnungen der Nationalisten beider Länder in Erfüllung gehen. Wenn es Poincaré und Marin gelingt, die Pläne von Thoiry zu durchkreuzen, dann können Westarp und Thälmann neue Hoffnung schöpfen.
Unbehagen in Mussolinien.
Mailand , 20. September. ( Tul.) Die durch die Unterredung von Thoiry zwischen Deutschland und Frankreich angebahnten diplomatischen Verhandlungen über eine umfassende deutsch - französische Verständigung haben in Italien tein Wohlgefallen ausgelöst. Der„ Corriere della Sera " hält die zwischen Briand und Stresemann erörterten Pläne für außerordentlich weittragend. Die übrige Presse glaubt, Italien fönne sowohl politisch wie wirtschaftlich von einer deutsch - französischen Entente Nachteile haben. Gewiß seien zur Verwirklichung des heutigen Programms mehrere Jahre notwendig. Wenn ein Abkommen aber zustande komme, so würde das in einem Umfange der Fall sein, wie es selten zwischen Staaten vereinbart worden sei.