Abendausgabe
Nr. 485 43. Jahrgang Ausgabe B Nr. 240
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10 Pfennig
Donnerstag
14. Oktober 1926
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Empfang durch die Bolschewiki.
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In Rußland herrscht bekanntlich nach der bolichemistischen Theorie ,, das Proletariat", seine Staatsindustrie ist von ausgesprochenem sozialistischen Typ" und seine Wirtschaft stellt den Uebergang vom Kapitalismus zum Sozialismus" dar. Um die Richtigkeit dieser Weisheiten festzustellen, dürfen alle möglichen Leute nach Rußland fahren nur nicht Sozialisten. Wir wußten schon, daß Leute wie Herr Geisler, daß preußische Junker in Rußland frei herumlaufen können. Wir lasen auch dieser Tage in der„ Prawda" den Bericht über eine Reise ostpreußischer Industrieller unter Führung des deutschnationalen Reichstagsabgeordne. ten Preyer. Aber wir gestehen, unsere Erwartungen find noch übertroffen worden. Auch die Nichte Wilhelms II., ihre Königliche Hoheit Prinzessin Albert von Preußen hat Sowjetrußland besuchen können. Die Reise Ihrer Königlichen Hoheit wird in dem Organ der Kazschen Opposition auf Grund amtlicher Quellen sehr hübsch geschildert. Wir lefen in Kags, Mitteilungsblatt" vom 9. Oktober folgende Schilderung:
Am 26. Auguft berichten übereinstimmend die Krasnaja Gazeta"( Rote Zeitung), Tagesorgan des Sowjets der Arbeiterräte von Leningrad , und die Rabotschaja Gazeta"( Arbeiter Zeitung ) in Leningrad , daß am 25. August mit dem Spezialdampfer ,, Cap Polonio" die Prinzessin Albert von Preußen in Leningrab anfam. Sie mar in großer Gesellschaft. Deutsche Adlige und Großgrundbesizer waren ihre Begleitung. Deren Namen werden nicht aufgezählt. Woh! aber berichten die„ roten" Zeitungen, wieviel von diesen hohen" Herrschaften da waren, und wer die Vertreter des südamerikanisch- spanischen Adels waren, die ebenfalls mit der Nichte des Kaisers auf der„ Cap Polonio" eintrafen: 5 Diplomaten, 22 Großgrundbesizer, 15 Banfiers, 112 Industrielle, 12 Korrespondenten einflußreicher füdamerikanischer Zeitungen. Unter ihnen war als Vertreter der größten fonservativen Beitung Süd amerikas , der„ Nacion " von Montevideo , der bisherige Finanzminister von Uruguay Don Perez. Aus Chile war die Schwefter des Präsidenten der Republit, Henriette Figeroa de Guzman, und der Diplomat Franzisco Mendez, aus Spanien der Marquis Sotto de Gormoza unter den Besuchern. Mit Stolz zählt die Rote Zeitung" diefe feudalen Namen auf und reiht sie als Kranz der Repräsentanten des reichen Bürgertums und der Feudalaristokratie" um die Kaiserliche Prinzessin.
Die Koalitionsbesprechungen in Preußen.
Vermutlich Vertagung bis November. Die angekündigte interfraktionelle Besprechung der drei preußischen Regierungsparteien beim Ministerpräsidenten Braun findet heute nachmittag 2 Uhr statt. Voraussichtlich wird sich ergeben, daß keine Partei etwas dagegen hat, wenn Verhandlungen mit der Volkspartei aufgenommen werden, doch besteht feine Neigung, sie zu überſtürzen. Sie dürften bis zum Wiederzusammentritt des Landtags, der am 3. November erfolgt, vertagt werden.
Wesentliche Besatzungsminderung?
Vor einem Pariser Kabinettsbeschluß. In den Kreisen der Interalliierten Militärkontrollfommission in Berlin wird, wie der Soz. Pressedienst meldet, bestätigt, daß eine erhebliche herabsegung der franzöfischen Truppen im besetzten Gebiet nahe bevorsteht. Die Herabfeßung in größerem Ausmaße sei schon für das Frühjahr dieses Jahres in Aussicht genommen gewesen. Die Berzögerung des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund habe bewirkt, daß man sich damit begnügte, im Laufe des Sommers nur einige tausend Mann abzuberufen. Der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und die Ergebnisse der Besprechung von Thoiry hätten nun Veranlassung gegeben, die Truppenverminderung in vollem Umfange durchzuführen.
Aus Paris tommen heute zwar Dementis. Aber diese Dementis beziehen sich nur darauf, daß eine gestern statt gefundene Unterredung Briands mit dem Oberbefehlshaber der Rheinarmee der Truppenverminderung gegolten habe. Nicht abgeftritten wird, daß bereits vor einigen Tagen Be ratungen in diesem Sinne stattfanden. Diese Behauptungen und Gegenbehauptungen lassen darauf schließen, daß in Kürze das Pariser Kabinett zusammentreten und die Einlösung der Zusagen von Locarno beschließen wird.
Der Redakteur der Krasnaja Gazeta" hat den Kapitän ver, Cap Polonio", E. Rolin, nach seinen Eindrücken über den Empfang interviewt, und der Kapitän hat versichert: Seit unserer Einfahrt in die Sowjet- Gewässer bereitet man uns den herzlichsten Empfang. Ich muß befonders betonen, daß unser Schiff von den Hafenbehörden liebenswürdig behandelt wird. Eine so angenehme Aufnahme wie in Leningrad wird bei uns auf lange Zeit die schönsten Erinnerungen zurücklassen."
Das fann man glauben. Das Gepränge, mit dem die Hohen3ollerin und ihre Repräsentanten des reichen Bürgertums und der Feudalaristokratie" vom russischen Arbeiter" Staat" aufgenommen wurde, ist in der Tat unvergeßlich. Man gab ihnen zu Ehren auf ihren besonderen Wunsch im Theater Marie in Leningrad eine Fest vorstellung, die speziell dem Ballett gewid met" war. Mufit, Begrüßungen, Rausch. Obwohl das Theater 1700 Plätze faßt, wurden nur 335 Personen, die hohen" Gäste und die Sowjet- Repräsentanten, zugelassen. Die Regierenden blieben unter sich. Das dreckige Bolt wurde ferngehalten. Ihre König liche Hoheit Prinzessin Albert ven Preußen mit Gefolge wurde untertänigst gebeten, doch auch die Hauptstadt Moskau mit ihrem Besuche zu beehren. Ein Extrazug wurde den hohen und allerhöchsten Herrschaften zur Verfügung gestellt, und in Moskau wurde das Königliche Bad feierlich von den Sowjets empfan. gen. Tschitscherin selber machte die Honneurs. Nachmittags gab es einen Besuch der Tretjatom Galerie und abends ein besonderes Konzert und Tanzdivertissement. Die feudalen Herrschaften waren zufrieden.
In Leningrad war der Lurusdampfer Cap Polonio", auf dem Ihre Königliche Hoheit Prinzessin von Preußen eingetroffen war, Gegenstand besonderen Interesses. Das Schiff wurde zur Besichtigung freigegeben. Das Gewertschaftsfartell von Leningrad organisierte die Zusammenstellung von Befuchertrupps für die Besichtigung des Brinzessinnenschiffes. Die Tare: 60 Kopelen für Arbeiter, 1 Rubel für die übrigen Besucher. Die Krasnaja Gajetta" meldet, daß mehr als 60 000 Personen das Schiff besucht haben. In der Tat: der Uebergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vollzieht sich bei den Bolschewifi unter eigen artigen Begleitumständen. Wünscht man nicht, daß über sie in der deutschen Arbeiterpreffe berichtet wird? Hält man deshalb Vorwärts"-Berichterstatter von Ruß land fern?
gerlichen Regierung übernehmen könne. Es wurde beſchloſſen, daß ein sozialistischer Abgeordneter überhaupt die Bertretung einer bürgerlichen Regierung übernehmen könne. Es wurde beschlossen, daß sowohl die Verwaltungskommission wie Paul Boncour selbst einen Bericht über die Frage ausarbeiten und dem bevorstehenden Parteitag vorlegen sollen. Nach Schluß der Sigung erklärte Paul Boncour , er stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, daß möglichst viele Sozialisten in Genf vertreten sein müßten, gleichgültig, ob ihre Regierungen sozialistenrein seien oder nicht. Außerdem betonte er, daß er auch weiterhin für einen Eintritt der Sozialisten in eine Regierung mit Bürgerlichen eintrete.
Die politische Taktik der Radikalfozialen. Paris , 14. Oktober. ( Eigener Drahtbericht.) Die radikal- sozialen Minister mit Herriot an der Spize haben sich am Mittwoch abend gemeinsam nach Bordeaux begeben, wo am Donnerstag der Parteitag der Radikalen Partei eröffnet wird. Am Donnerstag wird Herriot seine große politische Rede halten.
Schon jetzt werden einige Einzelheiten aus dem politischen Geschäftsbericht des Abgeordneten Berthod bekannt. Der Abgeordnete stellt in die Mitte seiner Betrachtungen die Frage, nach welcher Seite die Radikale Partei jezt ihren Anschluß suchen müsse. Er stellt zunächst fest, daß vor allem die Einigkeit der Partei aufrecht erhalten werden müsse und gibt ein historisches Bild von der politischen Tätigkeit des Linkskartells, das er mit folgenden Säßen schließt:„ Das Lintstartell hat seine Aufgabe nicht erfüllt, das ist eine Tatsache. Erkennen wir an, daß das Lintstartell nach dem 11. Mai die Bedeutung und Größe seines Wahlfieges übertrieben hat. Nicht allein wurde die neue Mehrheit vom Senat mit größter Zurückhaltung aufgenommen, sondern auch in der Kammer fonnte sie sich nur behaupten durch Unterstützung der Stimmen der Gruppe der radikalen Linken." Der Bericht stellt dann weiter feft, daß das Linkstartell an den finanziellen Schwierigkeiten gescheitert sei und wirft die Frage auf, ob eine energischere Finanzpolitit möglich gewesen sei, um über die von der alten Kammer vererbten Schwierigkeiten Herr zu werden. Den Sozialisten wird jedes Recht auf Kritik an der Haltung der Radikalen abgesprochen, da sie trotz verschiedener Aufforderungen sich nicht an einer Regierung beteiligt hätten. Angesichts der Beigerung der Sozialisten mußte das Kabinett der nationalen Sammlung unter Poincaré zwangsweise fommen.
Sozialistische Mitarbeit im Völkerbunde. Pariser Beratung über die prinzipielle Frage. Abgeordneter Franklin Bouillon beabsichtigt, einen Gegen Paris , 14. Ottober.( Eigener Drahtbericht.) Genosse Baul bericht einzubringen, in dem er betont, daß in Zukunft eine Boncour erschien am Mittwoch abend vor der Ständigen Ver3usammenarbeit mit den Sozialisten unmöglich sei, weil sie sich waltungsfommission der Sozialistischen Partei, um über seine Genfer Tätigkeit vernommen zu werden. Die Aus: geweigert hätten, in eine Linksregierung einzutreten. Franklin Bouillon will sogar ein künftiges Wahlbündnis mit den Sozialisten sprache verlief in größter Herzlichkeit, feines der anwesenden ablehnen. Mitglieder der Verwaltungskommissien machte irgendwelche Bes denken gegen die Haltung Bauí Boncours geltend. Der ganze Streit drehte sich lediglich um die prinzipielle Frage, ob
Die tschechisch- deutsche Zollfoalition will regieren. Prag , 13. Oktober.
Ein monatelanges Rätselspiel ist nun durch die Ernennung von zwei deutschen Ministern beendet worden. Profeffor Spina, der Führer der deutschen Agrarier, erhält das Bostministerium und Professor Mayr- Harting, der Führer der deutschen Christlichsozialen, wird Justizminister. Ist nicht mit dem Eintritt deutscher Politiker in die tschechoslowakische Regierung ein Ziel der sudetendeutschen Bolitik erreicht worden? Anteilnahme an der Verwaltung und Regierung des Staates! Möglichkeit des Einblicks in alle Regierungspläne und der Kontrolle aller Handlungen der Regierung! Milderung so mancher nationalistischen Maßnahme! Können die Deutschen in der Tschechoslowakei nicht zufrieden sein mit dieser Wandlung, die sie aus Regierten zu Mitregierenden macht? Und ist nicht in der Tatsache, daß nun auch Deutsche der Regierung der Tschecho slowakei angehören werden, die Anbahnung des nationalen Ausgleichs zu sehen?
Ach, denkt man an den Ausgleich zwischen den die Tschechoslowakei bewohnenden Völkern, an die nationale Verständigung, an die Regelung des Verhältnisses zwischen den Nationen und ihres Verhältnisses zum Staate, so sieht man den Eintritt deutschbürgerlicher Politiker in die Regierung der Tschechoslowakei schon mit anderen Augen an! Denn Spina und Mayr- Harting treten in die Regierung ein, ohne daß sie irgendwelche nationale Zugeständnisse bekommen hätten. Vielleicht hat ihnen der gewandte Herr Schwehla einige Bersprechungen gemacht, die ihnen, den längst Regierungssehnsüchtigen, genügen, um die letzten schwachen Bedenken zu überwinden. Vielleicht ist Schwehla zu einem fleinen Entgegenkommen da, zu einem fieinen Zugeständnis dort bereit. Bielleicht wird auf manchen Gebieten des öffentlichen Lebens der Druck der Tschechisierung schwächer- dem nationalen Ausgleich kommt man durch folche Brosamenpolitik nicht näher, er ist nur möglich von Volk zu Volk.
Wird das deutsche Volk in der Tschechoslowakei durch die Mitregierung der Herren Spina und Mayr- Harting nur wenig, nur sehr wenig gewinnen, so wird der Gewinn der Tschechen um so größer sein. Denn nun können sie, wenn wieder Klagen über nationales Unrecht laut werden, vor dem Auslande darauf verweisen, daß diese Beschwerden der Deut schen unberechtigt sind, da sie doch sogar in der Regierung vertreten sind! Und nur nach dieser Tatsache der tschechisch- deutschen Regierung wird das Ausland die Stellung der Sudetendeutschen beurteilen wie fann man es verstehen, daß die Deutschen noch immer unzufrieden sind, menn sie sogar mitregieren können! Daß trotz deutscher Minister keine Rede sein kann von der nationalen Autonomie, nicht einmal von der Schulautonomie, nicht einmal von der Aufhebung der Sprachenverordnung- wird man solche Widersprüche verstehen? Wird man die Klagen der Sudetendeutschen nicht als Ausfluß nationalistischen Querulantentums betrachten, als das sie die tschechische Auslandspropaganda seit jeher darzustellen versuchte? Für diese Auslandspropaganda wird die tschechische Regierung viel weniger Geld auszugeben brauchen als bisher.
Der Eintritt deutscher Politiker in eine Regierung der tschechoslowakischen Republik ist gewiß ein historisches Ereignis. Denn noch schroffer als durch die Bildung der tschechisch- deutschen Zollmehrheit wird damit der allnationale Gedanke, der acht Jahre lang das politische Leben des Staates beherrschte, verabschiedet. Das Prinzip, daß der Nationalstaat der Tschechen nur von einem tschechischen Kabinett regiert werden dürfe, ist erledigt. Die Regierungsteilnahme Deutscher ist beredtes Zeugnis einer and lungin der tschechoslowakischen Politik, die vor wenigen Jahren noch unmöglich schien. Aber es ist eine Wandlung, die von den deutschen Sozialdemokraten immer vorausgesehen wurde, denn sie wußten, daß die Verschärfung der Klaffengegensätze die allnationale Koalition zerbrechen mußte. Denn daß der tschechische Chauvinismus zahmer, der deutsche Nationalismus fanfter geworden ist, das ist doch nicht das Ergebnis einer Wandlung des Nationalismus, sondern das einer Aenderung der Klaffenverhältnisse, ist auch mit das Ergebnis der Politik des Nationalismus. Nun das tschechische Bürgertum teine großen Eroberungen mehr auf Kosten der Deutschen machen kann, wohl aber auf Kosten der Arbeiter aller Nationen, und nun das deutsche Bürgerium erfannt hat, daß es, wenn auch um den Preis des Verzichtes auf die nationale Selbstverwaltung, gemeinsam mit dem tschechischen Bürgertum Geschäft machen kann, verzichtet man auf tschechischer Seite auf die tschechische Alleinherrschaft, auf deutscher Seite auf die Erringung jener Mindestforderungen, die noch im Vorjahre von Mayr- Harting als Voraussetzung jeder Mitarbeit am Staate bezeichnet wurden; Schulautonomie, schlüsselmäßige Berücksichtigung der Deutschen in den Staatsämtern, nationale Sektionierung des Bodenamtes und eine gerechte Sprachenfragelösung. Ihre Klasseninteressen waren es, welche die deutschen aktivistischen Parteien zuerst in die Regierungsmehrheit und dann in die Regierung geführt haben!
den sie nur um ihres geliebten deutschen Volkes willen das Freilich, die deutschen Aktivisten gebärden sich, als würschwere Opfer der Regierungsteilnahme auf sich nehmen. Bezeichnen sie es doch schon als einen ungeheuren Erfolg, daß nun nicht mehr eine allnationale Koalition regiert, daß die