Abendausgabe
Nr. 49143. Jahrgang Ausgabe B Nr. 243
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10 Pfennig
Montag
18. Oktober 1926
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Eine historisch- politische Betrachtung. Bon Elias Hurwicz , Berlin .
Der litauisch- russische Vertrag, die Unruhe, die sein AbProtestnote Polens gegen Rußland , all das lenkte wieder einmal die Aufmerksamkeit der Welt auf den polnisch- russischen Gegensatz. Mit Recht: denn in dem gesamten labilen Kräftesystem des neuen europäischen Ostens hat dieser Gegensaz eine große Bedeutung. Doch gerade um die Kraft dieses Gegensages, sein tieferes oder oberflächlicheres. Verwurzeltsein recht beurteilen zu können, muß man- wie bei allen politischen Dingen ihn einmal in seiner geschichtlichen Entwicklung betrachten.
Mostau, 18. Oftober. Die Telegraphen- Agentur der Sowjet- forderliche Mindest maß durch die Erklärung der Oppofition schluß in Polen verursachte, die angekündigte Absendung einer union meldet: Die Oppositionsführer Sino wjew, Troßfi, erreicht worden ist. Ramenem, Pjatatow, Gotolnikom und Jewdo fimow haben eine Erklärung über ihre vorbehaltlose Unterwerfung unter sämtliche Entschließungen des 14. Parteitongresses und unter die Beschlüsse des Zentralfomitees und der Zentralfontrollkommission abgegeben. Eie verpflichten sich, diese durchzuführen und alle ihre Anhänger dazu aufzufordern, sämtliche um die Opposition gebildete fraktionelle Gruppierungen fofort aufzulösen.
Sie erkennen an, daß sie durch ihr jüngstes Borgehen in Moskau und Leningrad die Entschließungen des Zentralfomitees über die Unzulässigkeit der Diskussion verlegt haben, und verpflichten sich, sich von der rechten Schljapnitow- Gruppe entschieden los zusagen und jegliche Unterstützung frat. tioneller Gruppen der einzelnen Komintern- Sektionen, sei es Ruth Fischer , Maslow( Deutschland ), Souvarine ( Frankreich ), Bordiga ( Italien ) aufzugeben.
Die Unterzeichneten übernehmen die politische Berantwortung für die Handlungen ihrer Anhänger und sprechen die Hoffnung aus, daß die tatsächliche Einstellung des frattionellen Kampfes seitens der Opposition die Möglichkeit schaffen wird, alle reuigen Oppo
sitionsanhänger in die Partei wieder aufzunehmen. Sie erklären zum Schluß, daß sie sich verpflichten, die Liqui dierung des fraktionellen Rampfes sowie den
Kampf gegen erneute Berstöße gegen die Parteidisziplin in jeder
Weise zu unterſtüßen.
Ein gleichzeitig veröffentlichtes Rommuniqué des Zentral fomitees stellt fest, daß das für die Sicherung der Parteieinheit er Der Löwe
schaut nach Westen.
Warum tut er das?
Die Deutschnationalen wollen in die Regierung. Sie erklären, daß sie bereit sind, die geschlossenen Verträge anzunehmen, insbesondere auch den Locarnovertrag. Der Locarnovertrag ist die bündigste Absage an jede Revanch e= politit, die sich nur denfen läßt. Trotzdem bringt es das führende Blatt der Deutschnationalen, die Kreuzzeitung ", fertig, über die Enthüllung eines Dentmals der im Kriege gefallenen Korpsstudenten in Kösen folgendermaßen zu berichten:
Tief ergriffen standen die Anwesenden vor dem nach dem Saaletal nach Westen schauenden Löwen , der in unserem Sinne anzus deuten scheint: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor( us unseren Gebeinen wird ein Rächer erstehen), und so gipfelten auch die eindringlichen Worte des Vertreters des aftiven Vororts Bonn , cand. Stockhausen, Hanseae- Bonn, an die Aktiven in der Mahnung, das Bermächtnis der Gefallenen in die Tat umzusehen.
Steinerne Löwen fönnen glücklicherweise weber brüllen noch beißen. Die„ Kreuzzeitung " fann auch nicht beißen, dafür brüllt sie um so lauter. Auch die Deutschnationalen wissen, daß dieses Revanchegebrüll ein idiotisches Bergnügen ist, an dem nur politische Kinder Gefallen finden, dessen Kosten aber von der deutschen Außenpolitik zu bezahlen sind. Da bemüht sich Graf We starp in Rarlsruhe zu beweisen, daß die Deutschnationalen feineswegs die ewig Geftrigen" findhafteste Weise, daß sie es doch sind und daß sie die verbrecherische Kriegsheße, die sie unter anderem Namen vor dem Weltkrieg betrieben haben, nach ihm unentwegt weiter betreiben, allen freiwillig abgeschlossenen Berträgen zum Trog.
Es gibt in der russischen Kommunistischen Partei wie in der katholischen Kirche den Widerruf reuiger Sünder, der dem Reuigen" die Möglichkeit gibt, die Erfommunikation zu vermeiden. Sino wjew, Tropki und Kamenew , ehemals Großwürdenträger der Sowjetrepublik, haben den Widerruf vollzogen. Der herrschende Personenkreis stellt sie triumphierend der Welt als reuige Oppositionsan hänger vor.
Der Oppofitionsblod in Rußland ist damit zerschlagen. Die Arbeiteropposition" unter Schljapnikom ist isoliert. Der Versuch, die widerstreitendsten Elemente in einer Opposition zu vereinigen, ist gescheitert. Wenn diese Opposition an die Macht gelangt wäre, so wäre fie entweder sofort zerfallen oder sie hätte die Politik Stalins fortsetzen müssen.
Der Versuch der Opposition, an die Massen zu gehen und sich zu organisieren, hat erwiesen, daß sie keine Resonanz bei den zur Kommunistischen Partei gehörigen Arbeitern hat, daß der Parteiapparat übermächtig war. Die Oppositionsführer gehen deshalb noch vor dem Kongreß mit allen ihren An hängern reuig in die Partei zurück. Die afute Krise geht wieder in das latente Stadium über.
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Verhältnis der polnischen Hauptparteien zu Rußland beDie Kraft, die in der letzten Epoche des Zarismus das stimmte, war gleichsam um den historischen Materialismus u bestätigen- im wesentlichen die Entwicklung der polzu Bollsystem und dem russischen Abfazmarkt machte diese rasche nischen Industrie. In Verbindung mit dem russischen bereits den der Landwirtschaft und von da an überholte er Fortschritte. 1880 erreichte der Wert der Industrieproduktion diesen rasch. 1910 besaß Russisch- Polen schon rund 11 000 industrielle Unternehmungen mit 400 000 Arbeitern und einem Produktionswert von 800 Millionen Rubel. Hieraus ergab sich bei den besitzenden Klassen jene Stimmung der ugoda", das Streben nach einem Ausgleich mit Rußland , das später auch in den Programmen der National= demokratie und ihres Führers Dmowski : ein auton o= Das Politbureau der KPC. hat beschlossen, vom Zentralausschuß mes Bolen im Verbande des russischen Reiches Ausdruck die Suspendierung des Kommunisten Neurath von der Mitglied fand. Die Aufstellung dieses Programmes führt ein so glüdschaft im Zentralsekretariat und im Politbureau zu fordern. Neu- licher Kenner Polens wie Dr. Paul Roth( Die Entstehung rath stand in Verbindung mit der russischen und deutschen Oppo. des polnischen Staates", 1926, S. 3) in hohem Maße auf das sition und hatte Oppositionsmaterial verbreitet. ,, Schreckbild der sozialistischen Gefahr, das die russische Revolution der Jahre 1905-1906 gerade in den Industrieſtädten Russisch- Polens vor aller Augen stellte", zurück.
und gibt dem edlen Gedanken der Berföhnung und der Schiedsgerichtsbarkeit einen entscheidenden Impuls.
Eine ganz entgegengesetzte Wirkung aber hatte eben die Entwicklung der polnischen Industrie auf seiten des polnischen Proletariats und seiner Führer, voran Pilsudski . Die fp=
Mit festlicher Beleuchtung der Quais, der Kirchen, der öffent- zialistische Arbeit stieß auf Schritt und Tritt auf die nicht lichen und zahlreicher privater Gebäude feierte die Stadt selbst den weniger eifrige Arbeit der russischen Geheimpolizei. Pilsudski heutigen Tag.
Gegen künstliche Handelsbeschränkungen.
Ein Aufruf internationaler Wirtschaftsführer. Nach Meldungen aus Frankreich beabsichtigt eine größere Bahl führender Persönlichkeiten aus der internationalen Wirtschaft und Finanz einen Aufruf am tommenden Mittwoch zu veröffentlichen, der sich auf das schärffte mit den Wirkungen der 3er iplitterung Europas auf den internationalen Handel befaßt. Durch den Vertrag von Versailles wurden weite Gebiete, die vorher freien Handelsverkehr miteinander pflegten, durch neue Grenzen und Zollgesetze gegeneinander abgesperrt. Diese Handelsbeschränkungen haben sich als höchst nachteilig erwiesen und den Wohlstand der betroffenen Länder erheblich herabgemin dert. Das Manifest ist auch von einer Reihe führender deutscher Industrieller und Banfiers, so unter anderem Geheimrat Bosch, elig Deutsch, Dr. Schacht, von Siemens, Bögler unterzeichnet. Unter den Vertretern Englands, der Bereinigten Staaten und anderer Länder finden sich Namen wie Sir Arthur Balfour , Montague Norman, Douglas Vickers, J. P. Morgan und andere mehr.
Alle Freunde einer internationalen Verständigung der Völker und einer Wiederherstellung des freien Handelsverkehrs- hierzu gehört in erster Linie die organisierte Arbeiterschaft großer Spannung entgegensehen.
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selbst hat einmal anschaulich geschildert, mit welch unendlicher Geduld und Vorsicht er im Zentrum einer großen, von russischen Gendarmen und Polizisten angefüllten IndustrieSozialdemokratie, jedesmal in die Welt sehen und verbreiten mußte. Was Wunder, wenn in diesem Lager der SD= zialismus und der Nationalismus, und zwar ein dem russischen Reiche äußerst feindselig gegenüberstehender polnischer Nationalismus, eine innige Verbindung eingingen, bie fich in besonderem Maße gerade in der Persönlichkeit und der Richtung Pilsudskis verkörperten? Diese Richtung ging aber darauf aus, Polen unabhängig zu machen, von Rußland dessen westliche Provinzen, insbesondere die Ukraine und Litauen abzutrennen und sie mit Bolen föderativ zu verbinden. Charakteristisch für die Persönlichkeit Pilsudskis ist, daß er nach Ausbruch des russisch - japanischen Krieges nach Tokio ging, um seine Pläne im Bunde mit den Japanern gegen Rußland zu verwirklichen.
ftadt( Lodz ) den„ Robotnik", das Hauptorgan der polnischen
den Plänen Dmowskis als denen Pilsudskis Erfüllung zuteil
Allein es sollte noch geraume Zeit vergehen, bis sowohl werden sollte. Der Weltkrieg ebnete die Wege dazu. Freilich, die deutsch österreichische Lösung eines Königreiches Bolen, die sowohl den Antigermanismus Dmowstis als dem Unabhängigkeitsstreben Pilsudskis widersprach, erwies sich nur als geschichtliche Episode. Ebensosehr aber auch
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inzwischen beweist sein Blatt in Berlin auf die unzweifel, aller Länder werden der Veröffentlichung der Dentschrift mit die Politik der russischen provisorischen Regierung, die zwar
Der Jahrestag von Locarno . Locarno , 18. Oftober.( WTB.) Aus Anlaß des Jahres tages ber Paraphierung der Verträge von Locarno fand hier im Justizpalast, in dem die Konferenz im Vorjahre tagte, und zur gleichen Zeit, zu der am 16. Oftober des vorigen Jahres die Schlußsizung der Konferenz begann, eine Erinnerungsfeier statt, zu der Bundesrat Motta, sämtliche Mitglieder der Tessiner Regierung und der Lokalbehörden sowie zahlreiche bekannte Persönlich feiten erschienen waren. Motta führte aus: Die letzte Völkerbundsversammlung in Genf hat Deutschland einstimmig als Mitglied in den Bölkerbund aufgenommen. Damit ist der Paft von Locarno in Kraft getreten. Ich will mich nicht dabei aufhalten darzulegen, daß mit dem Augenblic, wo der letzte unserer Nachbarstaaten, der größte hinsichtlich der Bevölkerungszahl, in den Völkerbund aufgenommen wurde, dem wir dank des weisen Entscheides des Schweizer Bolkes und der Kantone von Anbeginn an angehörten, auch eines der wichtigsten Interessen unseres Landes gewahrt worden ist. Wir wollen heute diesen denkwürdigen Att von einem Er ist für uns das umfaffenderen Etandpunkte aus betrachten. 3eichen der Versöhnung zwischen den Kriegführenden von gestern. Er erlaubt die Hoffnung, daß die langbedrängten Bölfer zufammen an den Werken des Friedens und der Kultur arbeiten werden. Er bestätigt den Verzicht auf die Anrufung der Waffen als höchstes Mittel zur Lösung der Konflikte zwischen den Staaten
( in ihrem Manifest vom 17./30. März 1917) die Schaffung eines freien Polens proflamierte, die endgültige Lösung der Frage aber der fünftigen russischen Konstituante vorbehielt. Erst der Zusammenbruch der Bentralmächte einerseits, der russischen Kriegsmacht andererseits bahnte den Weg für ein freies Polen an. Aber er brachte auch in das Streben der Polen dem Osten gegenüber einen bedeutsamen Wandel hinein. In seiner dem Präsidenten Wilson am 8. Oktober 1918 vorgelegten Denkschrift, die eines der wichtigsten Dofumente zur Entstehung des heutigen Bolens ist, verlangte Dmowstis nunmehr( obwohl er selbst in der gleichen Denkschrift eine solche Lösung feineswegs als befriedigend bezeichnet) den größeren Teil des Gouvernements Wilna mit Einschluß der
Ein internationaler Wirtschaftsbericht. London , 18. Oktober. ( WTB.) Bei der am 20. d. M. in Paris statt. findenden Tagung des Rates der Internationalen Handelstammer wird der geschäftsführende Präsident, Alan Garrett Anderson, einen zusammengefaßten Bericht über die Wirtschaftsbedingungen der Welt vorlegen. Der Bericht ist auf Grund des Materials zusammengestellt, das von den einzelnen nationalen Romi tees der 22 der Internationalen Handelskammer angeschloffenen Länder stammt, von denen jedes Mitglied genaue und detaillierte Angaben üüber die Hauptinduſtrien des betreffenden Landes geliefert hat. Der Bericht, den Balfour dem vorbereitenden Komitee der Internationalen Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes unter- Stadt Wilna , Gouvernement Grodno, den größeren Teil des breiten wird, wird dem Rate der Internationalen Handelskammer zur Begutachtung vorgelegt werden.
Der Rundlauf einer Dementiermeldung. Angora, 18. Oktober. ( WTB.) Die Anatolische TelegraphenAgentur erklärt, daß die Nachricht einer türkischen Zeitung, nach der Italien fich zum Kriege gegen die Türkei vorbereite, nichts weiter als die Uebersetzung eines Artikels des„ Daily Expreß fei, und daß die Nachricht von einer Konzentration türkischer Truppen, die von dem gleichen Blatte gebracht worden ist, je der Be gründung entbehre. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Italien feien weiterhin normal und freundschaftlich. Es handle sich bei den obigen Nachrichten wahrscheinlich um Börsenmanöver.
Gouvernements Minst mit den Städten Minst, Luck und Pinst, den westlichen Teil Wolhyniens bis zum Storge und Podoliens( Plostirow und Kamenez- Podolst), also Gebiete, die teilweise noch weiter nach Rußland vordringen, als es die heutige Grenze tut. Das übrigbleibende litauische Gebiet sollte mit Bolen auf der Grundlage der Autonomie verbunden werden.
Man kann nicht umhin, in diesem ganzen territorialen Programm eine Annäherung zwischen den Standpunkten Dmowsfis und Pilsudskis zu erblicken. Der eine Unterschied ist freilich der, daß Dmowski die Ukraine Rußland belassen wollte, während Pilsudski sie von Rußland lostrennen und zu einem mit Polen verbündeten Staat machen wollte. Aber auch soweit beide Programme übereinstimmten, bedeuteten fie für Rußland den Berlust ungeheurer Gebiete, in denen die polnische Bevölkerung zudem zahlenmäßig nur gering verAn diesem territorialen Gegensaz.
treten war.